Am Beispiel Syrien

Neugründung der UNO?

24.10.2019   Lesezeit: 6 min

Syrien ist das Feld, auf dem die Krise der gegenwärtigen Weltordnung deutlich wird. Anmerkungen zum 74. Jahrestag der Gründung der Vereinten Nationen. Von Thomas Seibert

Der syrische Bürgerkrieg ist ohne Zweifel das Feld, auf dem die Krise der gegenwärtigen Weltordnung in eindringlicher Weise deutlich wird. Diese Krise zeigt sich im Ausmaß der Zerstörung eines ganzen Landes und in Kriegsverbrechen, die aktuell genauso unvergleichlich sind wie die dadurch ausgelösten Fluchtbewegungen. Mittlerweile sind acht Jahre vergangenen, in denen die Großmächte weder auf die Hunderttausenden Toten des Syrien-Krieges, noch auf die über 5 Millionen Flüchtlinge, die sich außerhalb des Landes befinden, eine politische Antwort gefunden haben. Stattdessen lassen sie die nächste Eskalation geschehen oder beteiligen sich aktiv am Krieg – wie beim fortdauernden Kampf um Idlib oder dem türkischen Angriff auf die kurdischen Gebiete in Nordsyrien.

Kaum besser aber nehmen sich die Vereinten Nationen aus, die heute vor 74 Jahren gegründet wurden, um nach dem Grauen des Zweiten Weltkriegs eine Weg zur Sicherung des Friedens zu eröffnen. In den ersten Jahren ihrer Existenz trug die UNO dann maßgeblich zur Konkretion ihres Auftrags bei: Am 10. Dezember 1948 war es ihre Generalversammlung, die mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte den Rahmen setzte, auf dem in globaler Dimension nicht nur Frieden zu sichern, sondern Recht und Gerechtigkeit zu schaffen und durchzusetzen wären.

Der Krieg in Syrien und die Menschenrechte

Zu diesem Aufbruch passt dann eigentlich, dass die Revolution in Syrien zunächst ein Kampf ums Menschenrecht, ein weiterer Schritt in der 1789 eröffneten Revolution des Menschenrechts war. Getragen vom politischen Enthusiasmus des Arabischen Frühlings erhoben sich auch in Syrien ungezählte Menschen verschiedenen ethnischen und religiösen Hintergrunds gegen ein Regime, das extremer Menschenrechtsverletzungen schuldig war und ist. Wie unwürdig dieses Regime war und wie unumgänglich nach wie vor seine Beseitigung ist, hat sich in der grausamen Niederwerfung des revolutionären Aufbruchs und im Fortgang des Bürgerkriegs in dramatischem Ausmaß gezeigt.

Wie unumgänglich die von den Syrer*innen versuchte Selbstbehauptung des Menschenrechts war und weiter bleibt, hat sich dann aber auch an den verschiedenen Interventionen gezeigt, mit denen andere Mächte in den Bürgerkrieg eingegriffen haben. All diese Interventionen hätten im Menschenrecht ihre normative und politische Orientierung finden sollen: voran die Interventionen der UNO, dann aber auch die der USA, der Europäischen Union und der Bundesregierung. Weil das oft aber gar nicht oder nur in instrumenteller Weise der Fall war, haben sie alle entweder nichts erreichen können oder sich als das gezeigt, was sie in wesentlichen Momenten tatsächlich waren: menschenrechtsmissachtende, wenn nicht menschenrechtswidrige Eingriffe in der Verfolgung jeweils eigener machtpolitischer und ökonomischer Interessen.

Dabei ist die Missachtung und Verletzung des Menschenrechts auch das Moment, an dem der verbrecherische Charakter der verschiedenen radikalislamistischen Kräfte auf seinen Punkt kommt. Wenn diese Kräfte irgendetwas eint, dann die Entschiedenheit, mit der sie erklärte Feinde der Menschenrechte sind: Ihnen geht es letztlich um die Auslöschung des Menschenrechts überhaupt. Von hier fällt dann auch ein erstes Licht auf die türkische Beteiligung: Ist die Türkei doch wiederholt als Unterstützerin radikalislamistischer Gewalt aufgetreten – als eine Macht, die sich im eigenen Interesse rücksichtslos gerade dieser Kräfte bedient.

Umgekehrt bewährt sich in ihrer Haltung zum Menschenrecht die emanzipatorische Dynamik der aktuell von ihrer Auslöschung bedrohten kurdischen Selbstverwaltung in Nordsyrien. Sieht man einmal davon ab, dass die Selbstverwaltung in Nordsyrien den weitreichendsten (vielleicht sogar den einzigen) Versuch des Aufbaus einer demokratischen Alternative in der ganzen Region unternimmt, war sie als einzige politische Macht in der Region erklärtermaßen ernsthaft bereit, sich einer internationalen Untersuchung eigener Menschenrechtsverbrechen zu stellen.

Neugründung der UNO

Mit dem menschen- und völkerrechtswidrigen Überfall der Türkei und der Deckung dieses Überfalls durch die USA und die Europäische Union beweist sich die Krise der internationalen Rechtsordnung. Was im Fall des russischen oder des iranischen Regimes nicht überrascht, nimmt sich im Fall der USA, der EU und besonders der UNO umso beschämender aus. Den Vereinten Nationen kommt aktuell nicht einmal mehr eine symbolische Bedeutung zu: sie sind als politische Kraft gegenwärtig einfach ausgeschaltet. Damit stellt sich letztlich die Frage ihrer grundlegenden Wiederherstellung – wenn nicht ihrer Neugründung.

Notwendig wäre ein solcher Schritt gerade im Blick auf die in Syrien gleichsam auf ihre historische Wahrheit verdichtete Krise. So sind die USA unter Trump offensichtlich an einem absoluten Tiefpunkt ihrer Geschichte angelangt. Wenn sich der weit verbreitete Spott über diesen Präsidenten so billig und so schal ausnimmt, dann deshalb, weil es um die Europäische Union und hier insbesondere um die deutsche Regierung kaum besser bestellt ist. Während man den Überfall der Türkei auf Nordsyrien formell verurteilt, überlässt man ein angekündigtes, politisch schon seit Jahren überfälliges Waffenembargo der freien Entscheidung der Mitgliedsstaaten und lässt keinen Zweifel daran, die menschenrechtswidrige Zusammenarbeit mit dem Erdogan-Regime in der „Eindämmung“ von Fluchtbewegungen fortzusetzen.

Dabei ist schwer auszumachen, wem in Berlin die Rolle des Äquivalents zu Trump zukommt. So kann die Rolle von Außenminister Heiko Maas eigentlich nur noch als perfide bezeichnet werden: während er Erdogan per Twitter scheinbar in aller Entschiedenheit verurteilt, hält er kaum verdeckt an der Unterstützung des türkischen Präsidenten fest. Kaum weniger perfide aber agiert Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer, die im allseitigen Verrat an der Selbstverwaltung in Nordsyrien nicht nur der deutschen Rüstungsindustrie, sondern auch der Bundeswehr eine aktive Rolle zuweisen will. Dabei demonstrieren Maas und Kramp-Karrenbauer nicht bloß die Konfusion, sondern darüber hinaus noch die absolute Einfalls- und damit Zukunftslosigkeit der gegenwärtigen politischen und bürokratischen Eliten, denen außer ihrem geschäftigen und geschäftstüchtigen „Weiter so!“ nichts mehr einfällt.

Das Menschenrecht der Flüchtlinge

Kurzfristig werden sich dieses Elend und – schlimmer noch – das an den Kurd*innen begangene Unrecht nicht überwinden lassen. Eine auf längere und lange Sicht anzustrebende Kehre aber hätte ihr Maß an der seit 1948 ausstehenden, von der herrschenden Politik nie ernsthaft in Angriff genommenen Verwirklichung des § 28 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Nach ihm hat ausnahmslos jeder Mensch „Anspruch auf eine internationale und soziale Ordnung, in der die in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten voll verwirklicht werden können.“

Dabei geht es immer auch um die sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Menschenrechte, deren innerer Zusammenhang sich nur im praktischen Ausgriff auf das ihnen allen vorausliegende eine Menschenrecht erschließt: das Recht auf Rechte. Dieses Recht inspirierte den Aufbruch der syrischen Revolution im Rahmen des Arabischen Frühlings, es leitete die Politik der Selbstverwaltung in Nordsyrien und es ist, nicht zuletzt, das hunderttausendfach verletzte Recht der Vertriebenen, für deren Schicksal alle anderen am Bürgerkrieg beteiligten Parteien gleichermaßen verantwortlich sind.

Der letzte Punkt verweist noch einmal auf die fundamentale Rolle der Migrationspolitik. Dass Europa und Deutschland Erdogan nicht nur freie Hand lassen, sondern ihm aktiv Beihilfe leisten, resultiert aus der Priorität, die sie ihrer menschenverachtenden und menschenrechtswidrigen Politik der Migrationsabwehr eingeräumt haben. Die Verteidigung der Rechte von Millionen Flüchtlingen müsste aber erstes Gebot internationaler Politik sein. Ihre Menschenrechte sind nicht nur in Syrien, sondern überall zu verteidigen. Dabei geht es, um das ausdrücklich festzuhalten, nicht um die „Bekämpfung von Fluchtursachen“. Es geht um demokratische Politik als eine an den Rechten aller Menschen orientierte Politik; um eine Menschenrechtsrevolution. Um sie geht es auch in der uns alle verpflichtenden Verteidigung der Selbstverwaltung in Nordsyrien – und in der strategischen Besinnung auf eine Neugründung der UNO.
 


Thomas Rudhof-Seibert

Thomas Rudhof-Seibert war bis September 2023 in der Öffentlichkeitsarbeit von medico international zuständig für Südasien und Referent für Menschenrechte. Der Philosoph und Autor ist außerdem Vorstandssprecher des Instituts Solidarische Moderne; weitere Texte zugänglich auch unter www.thomasseibert.de


Jetzt spenden!