In dem Spielfilm des chilenischen Regisseurs Pablo Larraín „No“, der die Geschichte des Plebiszits von 1988 erzählt, steht die Hauptfigur am Ende vor einer Gruppe einflussreicher chilenischer Geschäftsleute, um sein nächstes Werbeprojekt vorzustellen. Das „No“, das Nein zu Pinochet, hatte zwar Dank seiner Werbestrategie gewonnen, so die Erzählung, aber am Ruder blieben die gleichen Familien, die das Geld unter sich aufteilen. Nach einem sinnstiftenden Kampf, in dem es bei allem Marketing – die No-Losung war tatsächlich „Die Freude steht vor der Tür“ („La alegrá ya viene“) – doch um das Ende einer Gewaltherrschaft ging, arbeitete der Werber nun unversehens wieder für dieselben Leute. Die glauben allen Ernstes, dass das „NO“ wegen des besseren Marketing gewonnen habe und graden den Campaigner auf: Ein Direktorenposten als Sinnbild der Käuflichkeit im Nach-Pinochet-Chile.
Heute sprechen viele davon, dass eigentlich das „Sí“ damals gewonnen habe, weil sich an den Machtstrukturen nichts geändert habe, die auf immer durch eine unter der Diktatur 1979 ausgearbeitete Verfassung abgesichert schienen. Denn diese Verfassung, über deren Fortbestehen am Sonntag in einem Plebiszit entschieden wird, legt die neoliberale Ordnung als Grundprinzip fest. Der chilenische Rechtswissenschaftler Jaime Bassa beschreibt das so: Die bisherige Verfassung lege immer eine Wahlfreiheit fest. Jedes Individuum müsse die Wahl zwischen einem öffentlichen und privaten Gesundheitssystem, öffentlichen und privaten Bildungseinrichtungen oder öffentlichem und privatem Wohnen etc. haben. Und nicht nur das: Sie gibt den privaten Betreiber*innen den Vorrang.
Als kürzlich die Kommune von Santiago eine Buslinie einrichten wollte, die in der Infrastruktur der Verkehrsmittel fehlte, klagten die privaten Verkehrsmittelbetreiber dagegen, obwohl sie dort keine Buslinie einsetzen wollten, und bekamen Recht. Der Vorrang der Privatwirtschaft, so das Urteil, gelte auch auf die Zukunft hin, dass hier möglicherweise eine Buslinie eingerichtet werde. Der verfassungsmäßige Privatisierungswahn geht soweit, dass selbst das Wasser in Chile generell nur über privatwirtschaftliche Nutzungsrechte fließt. Wer Grund besitzt, muss die Wasserrechte dazu kaufen, sonst kann man keinen Brunnen bauen. Städte und Kommunen verfügen nicht über die Wasserressourcen, die unter ihrem Grund und Boden fließen. Alles so in der Verfassung festgelegt. Das Verfassungsgericht hütet diese Paragrafen wie seinen Augapfel. Weshalb auf den Demonstrationen, die Chile bis Corona in einen kompletten Ausnahmezustand versetzten, seine Abschaffung gefordert wird.
Die Verfassung ersetzt universelle Rechte durch individuelle „Zugangsrechte“. Sie garantiert also rechtlich das Vorhandensein von gesundheitlichen Leistungen. Wer sie wie nutzt, bleibt dem Geldbeutel überlassen. Aus diesem Grund bewegen sich alle Reformbemühungen der Concertación-Regierungen – dem von Christdemokrat*innen bis Sozialist*innen reichenden Bündnis des NO – immer im Rahmen dieses System. Die Student*innen forderten 2011 in Massenprotesten öffentliche Universitäten. Heraus kamen lediglich öffentliche Stipendien, die das Studieren an privaten Einrichtungen möglich machten: Also noch mehr öffentliche Gelder in private Institutionen, die zum Teil den großen reichen Familien gehören.
Ähnlich beim Aufstand der Schüler*innen 2006 – die sogenannten Pinguine. Auch sie wollten öffentlichen Schulen und bekamen mehr individuelle Stipendien. Aber offenbar vergessen sich diese Kämpfe nicht. Denn im Oktober 2019 trat die nächste Generation der Schüler*innen an, um mit zivilem Ungehorsam gegen die Fahrpreiserhöhungen der Metro anzukämpfen und einen Protest von Millionen loszutreten, der sich am 18. Oktober 2020 zum Jahrestag des „Estallido social“ wieder in einer Großkundgebung präsentierte.
Dass sich die unterschiedlichen Motive der Empörung in Verfassungsfragen wiederfinden, liegt daran, dass diese Verfassung mit ihren Normen auch die Norm-alisierung einer „bestimmten Art des Zusammenlebens definiert, die wir heute nicht mehr in Frage stellen, so der Rechtswissenschaftler Jaime Bassa. Die Entsolidarisierung, Individualisierung und Entpolitisierung der chilenischen Gesellschaft ist eben in dieser Verfassung begründet. „Der moderne Konstitutionalismus“, so Bassa, „betrachtet das Recht als eine juristische Frage und nicht als eine der sozialen Beziehung.“ Eine Sache von Expert*innen. Akteure in der bisherigen Verfassung sind entweder der Staat oder der Markt. Grundrechte aller, Gemeinwohl, genossenschaftliche Wirtschaftsformen – nichts davon kommt in der Verfassung vor. Sie ist eine einzige Vorlage für Privatisierungsexzesse.
Versuche die Verfassung zu ändern, wie unter Präsidentin Bachelet, scheiterten nicht nur an der rechten Opposition und den Christdemokraten, die der Concertación angehören, sondern auch an alten Pinochet-Gegner*innen in der Regierung, die aber mittlerweile von der in der Verfassung verankerten Umverteilung vom Öffentlichen ins Private profitiert hätten, so Bassa. Es geht schlicht um ökonomische Interessen – und das disqualifiziert in den Augen der Demonstrant*innen die gesamte politische Klasse. Es ist zwar Gewerkschafter*innen verboten ein politisches Amt zu bekleiden, nicht aber Politiker*innen Geschäfte zu machen. Und dafür bot sich in den letzten Jahrzehnten reichlich Gelegenheit. Ganz legal, weshalb Chile nicht als korrupt gilt.
Wie man reich werden kann, dafür gibt es unzählige Beispiele. Hier eines: Die Rentenversicherung wird von den Banken über Rentenfonds verwaltet. Die rein privaten Zwangszahlungen, die alle einzahlen müssen, die einen Arbeitsvertrag besitzen, haben den für die Fonds-Betreiber*innen den wunderbaren Effekt, dass die Verluste von den künftigen Rentnerinnen und Rentnern zu tragen sind, während die Gewinne größtenteils bei den Fondsbetreiber*innen bleiben. Als jetzt das Parlament beschloss, dass 10 Prozent dieser Einzahlungen vorzeitig abgehoben werden können, um wenigstens die schlimmsten Folgen der Corona-Pandemie abzufedern, ging das nur, weil es die Entscheidung in Form einer Verfassungsänderung verabschiedete.
Die Freiheit, nur verstanden als Freiheit des Konsums – nirgendwo hat sie so fröhliche Urständ gefeiert wie in Chile, bis die Überverschuldung der Bevölkerung zu einem bösen Erwachen führte. Eine der wichtigsten Erfahrung der Protestierenden bestand darin, dass sie plötzlich das Gemeinsame der individuellen Verschuldung entdeckten, was auch einer Befreiung von individueller Scham über das vermeintlich eigene Scheitern gleich kam.
Eine neue Verfassung tut dringend not. Sie wäre ein Riesenschritt, sich endlich von dem Schatten der Diktatur zu befreien. Trotzdem hat dieses Referendum etwas Anrüchiges. Das Parlament beschloss diese Maßnahme auf dem Höhepunkt der Aufstandsbewegung. Es gab keinen Versuch, die Bewegung einzubeziehen, was schwierig gewesen wäre, weil sie ja gerade auf Führer*innen explizit verzichtet. Aber längst hatten sich überall „cabildos“ gebildet, regionale Versammlungen zu verschiedenen Themen, die man hätte einbinden können. So ist zu fürchten, dass die Abstimmung vor allen Dingen ein Manöver der politischen Klasse ist, um dem Protest, der für sie alle von links bis rechts bedrohlich war, die Spitze zu nehmen. Der Aufstand im ganzen Land wollte, dass „alle gehen“, wie es in dem argentinischen Lied heißt: „Que se vayan todos!“ Das Referendum hat diesem Schwung vorerst ein Ende gesetzt. Corona tat dann ein Übriges.
Die Umfragen sehen eine Mehrheit für eine neue Verfassung. Ob es auch gelingt, dass für eine neue verfassungsgebende Versammlung gestimmt wird, ist hingegen offen. Die großen Demonstrationen mit mehreren hunderttausend Teilnehmer*innen zum Jahrestag am 18. Oktober zeigten zwar das nach wie vor vorhandene Potential dieser Bewegung, doch die Ereignisse am Rand offenbarten auch die Gefahren. Die Frage der Gewalt droht nicht nur in Form der Polizeigewalt zu einem zentralen Thema zu werden. In Santiago brannten zwei Kirchen. Das ist in einem nach wie vor religiösen Land wie Chile eine Grenzüberschreitung. Dass das Hooligans und bezahlte Provokateure waren, steht ziemlich fest. Es wurde unter anderem ein Major der Carabineros festgenommen. Aber in der polarisierten Öffentlichkeit, die durch die sozialen Medien nicht besser geworden ist, werden diese Ereignisse wie eine Brandwelle gegen die Legitimität des Aufstands benutzt. Der wiederum hat ungeheure Sympathie vor allen Dingen durch den freudigen, festlichen und kreativen Charakter errungen. Etwas, was die Primera Linea mit ihren Schlachten gegen die Wasserwerfer gezielt und diszipliniert verteidigt hat.
Es bleiben also viele Fragen offen. Trotzdem werden spätestens die Wahlen, die im nächsten Jahr stattfinden, die Bewegung wieder aufrufen, ihre Punkte durchzusetzen. Dabei geht es um die Schaffung eines öffentlichen Gutes in Gesundheit, Bildung, Wohnen und den Naturressourcen, genauso wie um reproduktive Rechte und die Anerkennung der Pluralität der Lebensformen - und nicht zuletzt um einen Plurinationalismus, der die indigenen Völker wieder in ihr Recht setzt. Lassen sich in einem neoliberalen Modelland wie Chile kollektive und universale Grundrechte und Formen des Gemeinguts zurückerobern? Das ist die große Frage nach dem Referendum und sie ist weit über Chile hinaus von Bedeutung.