Auch wenn erst am 4. September in einem Referendum über die Annahme der neuen chilenischen Verfassung entschieden wird, hat der vom Verfassungskonvent vorgelegte Entwurf bereits jetzt einen ersten kleinen Erfolg errungen: Er ist zum meistverkauften Sachbuch des Landes geworden. Wir geben Ihnen heute einen kurzen Überblick zu diesem Bestseller der besonderen Art und verlinken einige Hintergrundartikel – die Sie gerne weiterleiten können! Denn während in Chile das ganze Land liest und diskutiert, lässt die Aufmerksamkeit hierzulande zu wünschen übrig.
Merkwürdig, liefert die neue Verfassung mit ihren 388 Artikel und ihrer Entstehungsgeschichte doch Inspirationen für die so dringend nötigen sozial-ökologischen Veränderungen, die in Europa derzeit blockiert scheinen. Die vom chilenischen Prozess transportierte Hoffnung ist nicht zuletzt das Ergebnis massiver sozialer Bewegungen und trägt die Handschrift des Feminismus. Dass eine politische Antwort auf die globalen Krisen verfassungsmäßige Realität werden kann, besitzt auch für die politische Vorstellungskraft hier, die derzeit kaum mehr als ein Klagelied über den Zustand der Welt ist, große Bedeutung.
International wird das längst anerkannt: Mehr als 200 Umweltaktivist:innen und – wissenschaftler:innen haben jüngst ihre Unterstützung für die neue Verfassung bekundet. Auch der französische Ökonom Thomas Piketty schreibt gemeinsam mit anderen, „dass die Welt viel von Chile zu lernen hat“. Das ist kein Wunder: Die Verfassung ist eine der ersten, die nicht nur unter dem Eindruck der Klimakrise geschrieben wurde, sondern auch versucht, angemessene Konsequenzen zu ziehen. Der Text verpflichtet den Staat auf den Schutz der Natur und ein ökologisch verantwortungsvolles Handeln. Die Natur wird mit Rechten ausgestattet und als „natürliches Gemeingut“ statt als „Ressource“ betrachtet, wie Manuela Royo von unserer Partnerorganisation MODATIMA im Interview mit dem nd und den Lateinamerika-Nachrichten ausführt.
Der chilenische Philosoph Javier Agüero Águila spricht im Interview mit dem NPLA über den außergewöhnlich breit getragenen demokratischen Prozess in Chile: „Eine souveräne Bevölkerung, die ihre Vertreter:innen wählt und ihr Schicksal selbst in die Hand nimmt, ist meiner Meinung nach etwas so Besonderes. Es ist ziemlich unglaublich, wie die traditionellen Eliten und die Oligarchie auf die mögliche Abschaffung ihrer Privilegien reagieren.“ Wenn das „Apruebo“ gewinnt, liegt darin eine „historische Chance“, so das IPG Journal.
Derweil geht die Kampagne für das Ja zum Neuanfang in die Endphase. Es scheint eine knappe Entscheidung zu werden, denn Chiles alte Eliten laufen Sturm gegen die neue Verfassung. Ihnen gehören die Medien des Landes und sie haben einen Teppich aus Fake-News und Lügen über das Land ausgerollt. Sie versuchen, sich mit ihrem Geld eine Mehrheit zu kaufen und den autoritären Neoliberalismus zu verteidigen, der in Chile Verfassungsrang hat. Was das bedeutet, erklärt Marina Martinez Mateo in unserem Blog.
medicos Partnerorganisationen haben gemeinsam mit anderen das "Comando de los Movimientos Sociales por el Apruebo“ gegründet und sind Tag und Nacht auf Chiles Straßen unterwegs, um der Medienmacht der Eliten von unten etwas entgegenzusetzen.
medico unterstützt mit der Spendenkampagne„Adiós Neoliberalismo“ Organisationen in Chile, die in der aktuellen Verfassungsdebatte eine besondere Rolle spielen: Dazu zählen u.a. die Umweltorganisation MODATIMA, die gegen die Privatisierung des Wassers kämpft und die Fundación Nodo XXI, die sich 2012 im Zuge der Studierendenproteste gründete. Nodo XXI versteht sich als Thinktank für linke, progressive Politik und vernetzt Akteur:innen aus Politik, Bewegung und Zivilgesellschaft.