Es passiert nicht oft, dass ein geopolitisch so unbedeutendes Land in Südasien über mehrere Tage hinweg international Schlagzeilen macht. Der Erfolg der Proteste in Bangladesch, die schließlich zur Flucht der langjährigen, immer stärker autokratisch regierenden Ministerpräsidentin Sheikh Hasina und zum Einsatz einer Übergangsregierung unter dem mit dem Friedensnobelpreis geehrten Ökonomen und „Mikrokredit-Banker“ Mohammad Yunus führten, überraschten auch Kenner:innen der Region. Das Land war bislang vor allem wegen seiner Textilindustrie in den Medien, die die großen Modekonzerne in Europa und Nordamerika beliefert. Es ist daher kein Zufall, dass auch die Zeitschrift „Textilwirtschaft“ über die Proteste berichtet – bzw. über ihre Folgen: Da Textilarbeiter:innen im Kampf für höhere Löhne viele Textilfabriken in Bangladesch vorläufig stillgelegt haben, werde „Mode 2025 teurer“.
Das Aufbegehren einer neuen Generation von Studierenden, die im Juni gegen eine Bevorteilung der Kinder und Enkel der Unabhängigkeitskämpfer:innen aus den 1970er-Jahren auf die Straße gingen, weitete sich im Juli – nach massiven Angriffen von Polizei und Schlägertrupps der langjährigen Regierungspartei Awami League – zu Massenprotesten im ganzen Land aus. Mindestens 400 Tote und Tausende Verletzte binnen weniger Wochen waren zu beklagen. Nachdem das Militär der Ministerpräsidentin zu verstehen gegeben hatte, dass es für eine weitere Niederschlagung der Aufstände mit Waffengewalt nicht zur Verfügung stehe, zog sich die verhasste Tochter des Staatsgründers und „Vaters der Nation“ Sheikh Mujibur Rahman in letzter Minute ins indische Exil zurück. Kurz danach wurde ihr Regierungssitz gestürmt und geplündert.
Für die gestürzte Regierung ist klar, dass hinter all dem nur ihre politischen Rival:innen von der Bangladesh National Party (BNP) und die mit ihnen verbündeten islamischen Parteien stecken können. Tatsächlich hatte Sheikh Hasina, die als Studentenführerin Anfang der 1980er-Jahre gegen die Militärregierungen gekämpft und bei der Demokratisierung eine wichtige Rolle gespielt hat, in ihrer zweiten Regierungsphase seit 2009 zunehmend ihre Herrschaft damit gesichert, alle realen und vermeintlichen Gegner:innen massiv zu verfolgen. Insbesondere führende Figuren der BNP wurden in politisch motivierten Prozessen wegen ihrer Beteiligung am Bürgerkrieg 1971 zum Tode oder zu langen Haftstrafen verurteilt. Auch Mohammad Yunus wurde Opfer ihrer zunehmend paranoid erscheinenden Repression, ebenso der Gründer der großen medico-Partnerorganisation Gonoshasthaya Kendra (GK), Zafrullah Chowdhury. Der 2023 verstorbene Gesundheitsaktivist war ein ausgewiesener „Held des Befreiungskampfes“. Aus den Notfalllazaretten, die er in den blutigen Kriegsmonaten gründete, entstand später GK.
Chowdhury zog den Zorn von Sheikh Hasina auf sich, weil er öffentlich gegen die politisch motivierten Gerichtsverfahren protestierte. Sein öffentlicher Protest brachte die Behörden auch gegen seine Organisation auf. Erlebbar war das auch bei der vierten People’s Health Assembly 2018: In den Nächten vor Beginn der Versammlung gab es Angriffe auf das Gelände GKs in Savar. Die Polizei ordnete schließlich an, dass „aus Sicherheitsgründen“ keine internationalen Gäste das Gelände betreten durften – während Hunderte bereits am Flughafen in Dhaka angekommen waren. Erst nach stundenlangen Verhandlungen mit allen wichtigen zivilgesellschaftlichen Vertreter:innen und den Polizeichefs wurde ein Kompromiss gefunden und die PHA konnte mit den verbliebenen Gästen in einem Konferenzzentrum in der Hauptstadt stattfinden.
Erst Aufschwung, jetzt Krise
Die Euphorie über das unerwartete Ende der autokratischen Herrschaft ist groß, auch bei den medico-Partner:innen. In einem ausführlichen Interview mit GK und der Textilarbeitergewerkschaft National Garment Worker Federation (NGWF) sprachen sie gar von einer „zweiten Unabhängigkeit“ Bangladeschs. Diese neue Volte ist umso bemerkenswerter, weil die Regierung der Awami League in ihrer 15-jährigen Regierungszeit für ihre erfolgreiche Wirtschaftspolitik zunächst viel Lob und Unterstützung erhielt, sowohl international als auch im eigenen Land. Der Textilsektor mit Tausenden von Unternehmen und über vier Millionen Arbeitskräften (davon 70 bis 80 Prozent junge Frauen) ist das wichtigste ökonomische Standbein des Landes. Er bringt so viele Devisen, dass das Ende des Status von Bangladesch als einem der „least developed countries“ in Sicht war.
Doch dann unterbrachen die Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie die globalen Lieferketten. Von den plötzlich aufgekündigten Bestellungen der Multis und der daraus folgenden Rezession hat sich das Land bis heute nicht erholt. Stattdessen ist die Verschuldung gestiegen. Debatten der letzten Jahre drehten sich darum, ob eine „chinesische Schuldenfalle“ drohe, denn bei chinesischen Direktinvestitionen hält Bangladesch den zweiten Platz nach Pakistan. Diese stagnierende Wirtschaftsentwicklung und damit einhergehende steigende Arbeitslosigkeit waren wichtige Co-Faktoren der Proteste, betonen GK und NGWF einstimmig.
Die zunehmend repressive und autokratische Praxis im Land bekamen vor allem reale und vermeintliche Islamisten, separatistische Gruppen und die BNP zu spüren. Das berüchtigte Rapid Action Battalion (RAB), eine Sondereinheit von Polizei und verschiedenen Armeeeinheiten, wird für Tausende extralegale Ermordungen und Verschwindenlassen verantwortlich gemacht. Die Awami League sieht sich in der Tradition einer säkularen Partei (von ihrem Sozialismus der frühen Jahre ist außer dem Namen „Volksrepublik Bangladesch“ vor allem die Staatsbürokratie übriggeblieben) auch als Beschützerin der religiösen und ethnischen Minderheiten. Neben der großen Mehrheit von 90 Prozent Moslems sind dies etwa neun Prozent Hindus und ein Prozent Buddhist:innen.
Die massiven Menschenrechtsverletzungen durch die staatlichen und parastaatlichen Organe brachten der Regierung von Sheikh Hasina allerdings nicht nur internationale Unterstützung im „Anti-Terror-Kampf“ ein. Denn die Repression weitete sich auch auf bekannte und im Westen geschätzte Kritiker wie Mohammad Yunus aus. Die USA beschlossen schließlich 2021 Sanktionen gegen die RAB und mehrere Führungspersonen. Auch die EU äußerte sich zunehmend kritisch. Deshalb hielt sich die Entrüstung über den Sturz der Regierung auch international stark in Grenzen. Der neue Interims-Regierungschef Yunus, dessen Grameen Bank von der alten Regierung mit Gerichtsverfahren wegen angeblicher Arbeitsrechtsverstöße überzogen wurde, bekommt von traditionellen Linken in der Region den Vorwurf zu hören, ein Agent des US-Imperialismus zu sein, der mit seinen Mikrokrediten das kapitalistische Unternehmertum für die Armen attraktiv machen will. Auch medico übte bereits bei der „Beyond Aid“-Konferenz vor zehn Jahren deutliche Kritik an den Mikrokrediten von Yunus, weil diese arme Menschen in die Schuldenfalle treiben und als letztes Glied in die globale Wertschöpfungskette einbinden.
Ein demokratischer Neuanfang?
Die medico-Partner:innen vor Ort sehen in ihm und der neuen Regierung, in der auch zwei studentische Vertreter:innen sitzen, dennoch den möglichen Garanten eines demokratischen Neuanfangs. Tatsächlich hat die traditionell starke Zivilgesellschaft in Bangladesch unter der Repression der abgesetzten Regierung massiv gelitten. Ob ihre Euphorie über den Regimewechsel anhält und Früchte trägt, müssen die nächsten Wochen und Monate zeigen. Problematisch könnte werden, dass beide Großparteien auf einen raschen Termin für Neuwahlen drängen, um zurück an die Macht zu kommen. Andere Stimmen halten eine längere Übergangszeit für notwendig, um strukturelle Änderungen in den staatlichen Behörden und Institutionen zu ermöglichen. Auch wenn sie nur ein Anfang sind, lassen erste Rücktritte bei der Zentralbank, den Universitäten und Gerichten auf eine solche Entwicklung hoffen. Aktuell werden auch Parteiverbote gegen islamische Parteien, die die Regierung von Sheikh Hasina zu Beginn ihrer Herrschaft mit unbelegten Terrorismus-Vorwürfen verhängt hat, zurückgenommen.
Die Glaubwürdigkeit eines Neuanfangs in Bangladesch wird sich aber auch daran messen lassen müssen, dass die Rechte aller im Land respektiert und geschützt werden. Hierzu zählen auch die knapp eine Million geflüchteter Rohingyas aus Myanmar, die seit nunmehr sieben Jahren im Südosten des Landes in den weltweit größten Flüchtingslagern leben. Trotz aller Unwägbarkeiten hinsichtlich der weiteren Entwicklung ist der Mut und der Optimismus einer Bevölkerung, die ein verhasstes Regime zu Fall bringt, ein hoffnungsvoller Gegenpol zu den „shrinking spaces“, die in vielen autoritären Ländern längst zu „closed spaces“ geworden sind.
Die medico-Partnerorganisation Gonoshasthaya Kendra (GK) bildet seit Jahrzehnten Gesundheitsfachleute aus. Zurzeit erlebt Bangladesch eine der schlimmsten Überflutungen seit über 30 Jahren. Einmal mehr leisten die Kolleg:innen von GK unverzichtbare Nothilfe. Daneben unterstützt medico GK’s Gesundheitsprogramme für Textilarbeiter:innen in den großen Fabriken rund um die Hauptstadt Dhaka. Mit der National Garment Workers Federation (NGWF) verbindet uns seit dem Einsturz der Textilfabrik Rana Plaza 2013 der Kampf um die Rechte der Überlebenden, Arbeitsrechte im Textilsektor und die Kritik an den globalen Ausbeutungsketten der Industrie.
Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 3/2024. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!