Migration

Schlagschatten der Coronakrise

02.11.2020   Lesezeit: 5 min

Der neue Asyl- und Migrationspakt der EU setzt noch immer auf zwielichtige Zusammenarbeit.

Von Ramona Lenz

Die Coronakrise steht derzeit im Zentrum der Aufmerksamkeit. Gleichzeitig bestehen andere Krisen jedoch fort und werden durch die Pandemie und die Maßnahmen zur ihrer Eindämmung teilweise noch verstärkt. Flüchtlinge und Migrantinnen und Migranten sind Zeugen und Gradmesser dieser Krisen. Ein paar Wochen lang richtete sich die mediale Aufmerksamkeit auf rund 12 000 von ihnen, die auf Lesbos im Elend lebten. Die Situation auf den griechischen Inseln ist nach wie vor desolat und darf nicht in Vergessenheit geraten, doch das gilt auch für andere Regionen, in denen Menschen auf der Suche nach Schutz und Teilhabe stranden.

Immer häufiger ist ihre ausweglose Situation das Ergebnis von Vereinbarungen zwischen der Europäischen Union einerseits und den Herkunfts- oder Transitländern andererseits. Daran wird auch das neue von der EU-Kommission Ende September vorgestellte europäische Asyl- und Migrationspaket nichts ändern.

Das EU-Türkei-Abkommen, das Zahlungen in Milliardenhöhe vorsieht, damit die Türkei Flüchtlinge von der Weiterreise nach Europa abhält, während gleichzeitig diejenigen auf den griechischen Inseln festgehalten werden, die trotzdem irregulär einreisen, ist nicht der erste Tauschhandel auf Kosten von Menschen auf der Flucht – und wird nicht der letzte sein. Bereits seit Mitte 2006 bringt der Rabat-Prozess europäische Regierungen sowie Regierungen aus Nord-, West- und Zentralafrika zusammen, um sich in Fragen des „Migrationsmanagements“ abzustimmen.

Beim 2014 angestoßenen Khartum-Prozess geht es um die Kooperation zwischen der EU und Herkunfts- und Transitländern in Nord- und Ostafrika, um Flucht und Migrationsbewegungen über das Horn von Afrika Richtung Europa zu bremsen, wobei man sich nicht vor der Zusammenarbeit mit Diktaturen wie in Eritrea oder Sudan scheut. Die Konsequenzen für Menschenrechte und Demokratisierungsprozesse sind verheerend und nicht in Einklang zu bringen mit der Behauptung der Bundesregierung und der EU, Fluchtursachen in Herkunftsländern mindern zu wollen.

In ihrem Ende September verkündeten neuen Asyl- und Migrationspakt hält die EU-Kommission dennoch an dieser Strategie fest. Entgegen der Behauptung, der neue Pakt sei Ausdruck eines „Paradigmenwechsels“ in der Kooperation mit Herkunfts- und Transitländern, sind die angekündigten Pläne in mehrerer Hinsicht deckungsgleich mit dem, was schon vor Jahren auf den Weg gebracht wurde: verstärkte Zusammenarbeit mit Drittländern bei der Rückkehr- und Reintegrationsförderung, bei der Bekämpfung von „Menschenschmuggel“ und sogenannter irregulärer Migration – sowie bei der Schaffung legaler Migrationsmöglichkeiten.

Betrachtet man das westafrikanische Mali, wo die EU bereits 2008 ihr erstes Migrationszentrum (CIGEM) zu genau diesen Zwecken eröffnete, sieht man, wie wenig Bedeutung dem letzten Punkt voraussichtlich zukommen wird. War auch dort zu Beginn noch die Rede von der Schaffung legaler Migrationsmöglichkeiten, hieß es schon bald, es sei nicht vorgesehen, Migrantinnen und Migranten bei der Suche nach Jobs in Europa zu unterstützen. 2014 wurde das Zentrum wieder geschlossen, doch die Zahl der Menschen, die in Mali vertrieben werden – sei es aufgrund von Krieg und Gewalt oder weil Klimakrise und Rohstoffraub ihnen die Lebensgrundlage entziehen – nimmt zu.

Daran haben auch sieben Jahre europäischer Militärintervention mit deutscher Beteiligung nichts geändert. Im Gegenteil. Die Zahl bewaffneter Gruppen und betroffener Regionen hat sich ebenso vervielfacht wie die Zahl der Vertriebenen, die größtenteils innerhalb des Landes oder in Nachbarländern Zuflucht suchen.

Das Leben der Menschen in der Sahelzone ist von vielfältigen Unsicherheiten geprägt. Die massive Präsenz internationaler Truppen trägt nicht dazu bei, dass sich daran etwas ändert – und lässt die Bevölkerung am Sinn des Einsatzes zweifeln. Die Vermutung liegt nahe, dass es deutlich weniger um die Sicherheit der Menschen vor Ort als um den Schutz Europas vor Terror und unerwünschten Flüchtlingen geht.

Die Strategie der Stabilisierung eines den eigenen Interessen dienlichen, ansonsten aber fragwürdigen Status quo, die Europa bislang verfolgte, ist jedoch spätestens Mitte August mit dem Militärputsch gegen den ehemaligen Präsidenten Keita gescheitert. Dem Pusch waren monatelange Massenproteste wegen Korruptionsvorwürfen, der schlechten wirtschaftlichen Lage und dem mangelhaften Bildungs- und Gesundheitssystem in Mali vorausgegangen, was Europa viel zu lange ignoriert hat.

Auch im Sudan stürzten Massenproteste einen Machthaber, der der EU in Fragen der Migrationssteuerung und -verhinderung Stabilität garantiert hatte. Sie sah dabei darüber hinweg, dass gegen den langjährigen Gewaltherrscher Omar al-Bashir ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs wegen schwerer Verbrechen in Darfur vorlag. Im Rahmen des Khartum-Prozesses und finanziert über den EU Emergency Trust Fund for Africa führt die deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) im Sudan und anderen Ländern am Horn von Afrika das Programm „Better Migration Management“ (BMM) aus.

Sudan Uprising Germany, eine Organisation von Exil-Sudanesinnen und -Sudanesen, die von Deutschland aus die Demokratiebewegung im Land unterstützen, kritisiert: „Die EU-Politik, angeführt von Deutschland, ist seit 2015 ein Schlüsselfaktor bei der Verletzung der Rechte von Flüchtlingen, Migrantinnen und Migranten am Horn von Afrika.“ Mit ihrer kürzlich lancierten Kampagne #EndJanjaweed machen sie auf die Komplizenschaft der EU mit den Janjaweed-Milizen aufmerksam, die vom al-Bashir-Regime eingesetzt worden waren und in Darfur und anderen Regionen schwere Kriegsverbrechen begangen haben. Umbenannt in Rapid Support Forces (RSF) gehen sie nun nicht nur an der Grenze zu Libyen gegen Flüchtlinge vor, sondern werden auch für die gewaltsame Niederschlagung der Demokratiebewegung im Juli 2019 verantwortlich gemacht.

Wenn Deutschland und die EU es ernst meinen mit der Minderung von Fluchtursachen, müssen sie die demokratischen Kräfte in Herkunftsländern wie Mali und Sudan unterstützen und nicht diejenigen, die sie unterdrücken. Und wenn Protestierenden nur noch der Weg ins Exil bleibt, dürfen die Grenzen nicht geschlossen sein. Sämtliche Deals, die darauf zielen, Flucht und Migration nach Europa um jeden Preis zu verhindern und Abschiebungen in Kriegs- und Krisenregionen zu erleichtern, sind menschenrechtlich nicht vertretbar.

Der Beitrag erschien zuerst am 31. Oktober 2020 auf Der Hauptstadtbrief.

Ramona Lenz (Foto: medico)

Ramona Lenz ist Kulturanthropologin. Bis Mitte 2024 war sie Sprecherin der Stiftung medico und über viele Jahre in der Öffentlichkeitsarbeit von medico international zuständig für das Thema Flucht und Migration.

Twitter: @LenzRamona


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