Die medico-Partner des Basis-Komitees in Erbin, einer Stadt in Ost-Ghouta, berichten uns über die aktuelle Situation. Sie schildern, dass durch Vermittlung undunter Kontrolle der russischen Armee für die Gebiete um Harasta und Erbin Waffenstillstandsabkommen und der Abzug der von der Türkei unterstützen Rebellenmilizen und Ihrer Familien, aber auch von einigen Zivilist_innen (politische Aktivist_innen) ausgehandelt wurde. Dem vorausgegangen sind bekanntlich wochenlange Bombardements der russischen und syrischen Armee, darunter der Einsatz bunkerbrechender Bomben, die Schutzräume von Schulen in Erbin zerstörten und viele Menschen verletzten und töteten.
Der Grund, warum viele Zivilist_innen in Ost-Ghouta ausharrten, bestand unter anderem darin, dass sie Repressionen des syrischen Regimes fürchteten. Jetzt, da es keine Alternative mehr zum Verlassen der Orte gibt, sei es gut, dass dies wenigstens unter Aufsicht Russlands geschehe, wodurch völlige Willkür seitens der syrischen Armee zunächst verhindert werde. Das sagten uns die Kollegen des Basiskomitees vor zwei Tagen.
Mittlerweile wurde allerdings ein Bus mit Evakuierten aus Erbin von der syrischen Armee angegriffen. Soweit wir wissen, kam niemand zu schaden. Zudem gibt es erste Berichte, dass viele tausend Männer aus Ost-Ghouta in einem Gefangenenlager bei Damaskus festgehalten werden. Die Befürchtungen ihrer Angehörigen, dass sie als Kanonenfutter ohne jede militärische Ausbildung auf Seiten der syrischen Armee in den Krieg geschickt werden, beruhen auf Erfahrungen – das ist gängige Praxis. Wer glaubt, das seien ja ohnehin nur „Islamisten“, der geht fehl. Die bewaffneten Milizen haben durch die Verhandlungen freies Geleit nach Idlib, es bleiben Zivilist_innen. Ganz abgesehen davon, dass es mehr als problematisch ist, Misshandlungen und Tötungen mit dem Anti-Terror-Kampf zu begründen.
Was passiert in Idlib?
Die Situation der Aktivist_innen aus dem Schulprojekt, das medico seit 2013 gemeinsam mit „adopt a revolution“ unterstützte, ist offen. Diejenigen, die auch in sozialen Medien aktiv waren, haben Erbin bereits zum Großteil in Richtung der Region Idlib verlassen. Die Gefahr, dass sie sich auf der Liste der von den syrischen Geheimdiensten gesuchten 1,5 Millionen Menschen befinden, war zu groß. (Die Liste wurde vor einigen Tagen geleakt).
Die Lage in Idlib – eine Region, die direkt an das von der Türkei besetzte Afrin und an von Assad-Truppen kontrollierte Regionen angrenzt – ist kaum anders denn als humanitäre Katastrophe zu bezeichnen. Laut Vereinten Nationen sind dort 1,4 Millionen Menschen auf Hilfe angewiesen. In Idlib halten sich über 900.000 Binnenflüchtlinge auf, zudem sind 2017 300.000 Menschen nach Idlib geflohen oder gebracht worden, 150.000 haben die Region im Jahr 2017 verlassen.
Idlib wird zu weiten Teilen von der Al-Nusra nahen islamistischen Miliz „Hay'at Tahrir al-Sham“, die man einfach nur „HTS“ nennt, kontrolliert. Die Türkei ist „Garantiemacht“ im Rahmen der Deeskalationsabkommen für Idlib. Letzten Dezember gab es hier dennoch eine größere Offensive des syrischen Regimes, was auf einen Deal zwischen Russland und der Türkei schließen lässt, denn im Gegenzug hält sich Russland aus Afrin heraus. Die Türkei hat in den letzten Wochen verstärkt militärische Beobachtungsposten in Idlib eingerichtet und über die Türkei läuft ein großer Teil deutscher und internationaler Hilfe nach Idlib. Diese ist aber von der Kooperationsbereitschaft der Türkei abhängig.
Die Solidarität geht weiter
Beim Abtransport aus Erbin müssen sich unglaubliche Szenen abspielen. So wurden gestern Busse nach Idlib bereitgestellt. Dann kamen die Kämpfer der Rebellenmiliz und schossen sich durch Gewehrsalven in die Luft den Weg frei. Alle anderen mussten den Platz verlassen.
Auch das von medico geförderte Frauenzentrum in Douma, der größten Stadt von Ost-Ghouta, hat seine Arbeit eingestellt. Opfer gab es hier bei einem früheren Bombeneinschlag, erst nach Einstellung der Arbeit wurde das Zentrum durch eine Fassbombe komplett zerstört. Auch hier überlegen unsere Ansprechpartner_innen, wo der sicherste Aufenthaltsort für sie ist.
Damit sind die beiden säkularen, demokratischen Projekte, die inmitten dieses Krieges Zivilität und Solidarität verkörperten, zumindest in Ost-Ghouta vorerst zu Ende. Die tausende Kinder, die in den Untergrundschulen lernten, die Lehrerinnen und Lehrer, die eine Pädagogik der Anerkennung und Selbstermächtigung praktizierten, die Frauen, die Schutz vor häuslicher Gewalt und Ausbildung genossen, nehmen diese Erfahrung mit an andere Orte und werden hoffentlich irgendwann wieder eine emanzipatorische Praxis realisieren können – in Ost-Ghouta oder anderswo.
medico bleibt weiter mit ihnen in Kontakt. Die Solidarität mit der syrischen Zivilgesellschaft, die nach wie vor für demokratische Werte einsteht, ist uns ein zentrales Anliegen.