Zwei Tage nach dem verlorenen Plebiszit für eine neue Verfassung in Chile demonstrierten mehrere Hundert Oberschülerinnen und Oberschüler in Santiago de Chile. Sie sprangen über die Absperranlagen in der Metro und versammelten sich auf der Alameda, der großen Allee im Herzen Santiagos. Die Oberschüler:innen hatten im Herbst 2019 mit genau so einer Aktion die größte Protestwelle in der Geschichte Chiles ausgelöst. Der Estallido Social, die soziale Explosion, bleibt das Ereignis in den letzten Jahrzehnten, das noch immer nachhallt. Volleyball spielend und Steine werfend machten die Oberschüler:innen darauf aufmerksam, dass es mit und ohne neue Verfassung gute Gründe gibt, sich weiter für eine tiefgreifende Veränderung in Chile einzusetzen. Keine Regierung, schienen sie sagen zu wollen, kann die Frustration der Mittelschicht und die Wut der Unterschicht in ruhigere Bahnen lenken.
Die anarchistische Internet-Zeitschrift „Lobo Suelto“ (der nicht angeleinte Wolf) bietet in diesen Tagen nach der schweren Niederlage in der Abstimmung um eine neue Verfassung folgende Lesart der Ereignisse: „Der destituierende Gestus ist weiter auf den Straßen und an den Urnen auf Kurs. Der ‚Rechazo‘ (die Ablehnung) hat ein Niveau des Nichteinverstandenseins erreicht, das sich nicht einfach nur als Ablehnung eines juristisch-administrativen Textes in einem souveränen, gleichen und auf Rechte basierenden Land verstehen lässt.“ Es handle sich um eine Kraft, die sich nicht zwischen „links und rechts“ einordnen lasse, sondern eher zwischen „oben und unten“.
Die Oberschüler:innen, die durch ihre soziale Herkunft eine Brücke zwischen den traditionellen linken Milieus und den anarchisch gegen oben gewandten Armutsmilieus darstellen, gehören zu denen, die von Anfang an gegen den im November 2019 ausgehandelten Verfassungskompromiss waren. Damals hatte der heutige Präsident Gabriel Boric nachts seine Unterschrift unter den Vertrag gesetzt, der die Piñera-Regierung vor dem Sturz rettete. Denn die Protestbewegung war so stark geworden, dass die rechte Regierung ernsthaft auf der Kippe stand.
Dieser ohne Rücksprache mit den Kräften der Straße ausgehandelte Kompromiss schien sich im Nachhinein dadurch zu legitimieren, dass die Corona-Pandemie, die ab März 2020 eine Langzeit-Ausgangssperre zur Folge hatte, die soziale Revolte auf den Straßen mit Sicherheit beendet hätte. Außerdem erzielten die sozialen Bewegungen und die linken Parteien in allen Wahlen im Zusammenhang mit dem Verfassungskonvent überwältigende Erfolge. Das führte zu der nun im Nachhinein irrigen Auffassung, tatsächlich für eine große Mehrheit der chilenischen Bevölkerung zu sprechen. Das Vertrauen in die Wahlpflicht war bei den Mitgliedern aus dem Verfassungskonvent, mit denen wir im März dieses Jahres sprachen, sehr groß. Nun hat sich mit der überwältigenden Niederlage, in der nur knapp 40 Prozent für den neuen Verfassungsentwurf und 60 Prozent dagegen stimmten, gezeigt, dass die Frage der politischen Repräsentanz überhaupt nicht geklärt ist. Ja, dass selbst die großen Demonstrationen, zuletzt die halbe Million am 1. September oder die eine Million Frauen, die am 8. März 2020 demonstrierten, in ihrer Größe beeindruckend waren, aber nur sich selbst repräsentierten.
Sehr aufschlussreiche Abstimmungsdetails
Die linken und linksliberalen Parteien und die sozialen Bewegungen stehen nach dieser Niederlage vor einer kaum zu beschreibenden Herausforderung. Verständlicherweise waren die ersten Reaktionen nach der Ablehnung getragen vom „Weitermachen“. Die Boric-Regierung hatte bereits vor der Abstimmung geplant, das Kabinett entsprechend dem Ergebnis umzubauen. Nun wird Chile die nächsten vier Jahre von einer Regierung geführt, die mit mindestens sechs neuen Ministerinnen und Ministern eher der alten Mitte-Links-Koalition „Concertación“ unter den Präsidenten Lagos und Bachelet gleicht als einem Aufbruch in ein anderes, weniger neoliberales Zeitalter. Finanzminister Mario Marcel, ehemaliger Chef der chilenischen Zentralbank, wird in dieser neuen Regierung noch viel mehr Gewicht haben. Alles, was der auf Extraktivismus beruhenden Wirtschaft schaden könnte, wird er verhindern. Damit geht ein Zyklus in Chile zu Ende, der seit 2006 mit dem Schüler:innenaufstand der Pinguine bis zu den Studierenden-, Umwelt- und Frauenbewegungen tatsächlich eine breite Mehrheit für einen Abschied vom neoliberalen System zu mobilisieren schien.
Wie schwer die Niederlage wiegt, zeigt sich in den Details der Abstimmung. Statt wie bei der letzten Präsidentenwahl 55,6 Prozent beteiligten sich nun 85 Prozent der Wahlberechtigten an der Abstimmung. Es gab Wahlpflicht, und nicht wählen ist teuer. Nur in acht Kommunen von über 346 gewann das „Apruebo“, und auch das jeweils denkbar knapp. Unter den Frauen unter 34 gewann das Nein mit 58 Prozent, bei allen anderen weiblichen Altersgruppen war die Ablehnung noch höher. Abgelehnt haben sie damit nicht nur eine erste paritätische Verfassung, sondern vor allen Dingen ihr Recht auf reproduktive Selbstbestimmung.
Dasselbe gilt für die indigenen Völker Chiles, die mit der nun abgelehnten Verfassung wenigstens einen plurinationalen Staat und Kollektivrechte sowie eine eigene zivile Justiz erhalten hätten. Aber in Orten wie Tirua in der Provinz Biobio mit einem Bevölkerungsanteil von 70 Prozent Mapuche stimmten 77 Prozent für Nein. Selbst in der Kleinstadt Petorca, die erlebte, wie ihr Wasser in die Avocado-Plantagen floss und die Bewohnerinnen und Kleinbauern kein fließend Wasser mehr hatten, stimmte die Mehrheit gegen die neue Verfassung. Auch hier hätte sie vorgesehen, dass von der Quelle an privatisierte Wasser zu nationalisieren und neu zu verteilen, um allen Bürger:innen eine Grundversorgung mit Wasser zu garantieren.
Selbst die Gefängnisinsass:innen lehnten das „Apruebo“ ab, obwohl ihr rechtlicher Status in jeder Hinsicht verbessert worden wäre. Erste Wahlauswertungen zeigen, dass, je ärmer die Bevölkerung, umso deutlicher war die Ablehnung der Verfassung. Die reichste Spitze einmal ausgenommen. Auf der Abschlusskundgebung sangen alle noch einmal angesichts von 500.000 Demonstrant:innen siegestrunken: „El pueblo unida jamás será vencido.“ (Das geeinte Volk wird niemals besiegt.) Diese Idee vom „Volk“ muss man nun wohl begraben. In absoluten Zahlen hat das „Apruebo“ im Vergleich mit der zweiten Runde der Präsidentschaftswahl 200.000 Stimmen dazugewonnen. Hätte es keine Wahlpflicht gegeben, hätte das „Apruebo“ wahrscheinlich gewonnen.
Leben im Hier und Jetzt
Was ist passiert? Ein Blick auf die Kommune Los Molles, 300 Kilometer nördlich von Santiago kann es exemplarisch erklären. Die Kommune hat außerhalb der Saison 3.000 Einwohner, im Sommer das Zehnfache. Das einstige Fischerdorf lebt heute von Tourismus und Marihuana-Anbau. 2013 wurden in der ersten Präsidentschaft von Sebastian Pinera die Fischereirechte zugunsten von sieben Familien in Chile privatisiert. Seither können die Fischer im Dorf nur eine Meile herausfahren und angeln nur noch für den Hausgebrauch. Seither haben die ehemaligen Fischer ihr Geschäft diversifiziert. Sie verpachten ihre Strandparzellen an kleine Kioske. Sie kassieren Miete für Parkplätze an Tourist:innen, die in einem unter Naturschutz stehenden Feuchtgebiet liegen. Die Umweltschützer haben die Mehrheit des Dorfes gegen sich, das vom Tourismus überleben kann und damit noch besser leben will.
Während um die Frage des Umweltschutzes noch ein Ringen und damit vielleicht auch ein Bewusstseinsbildungsprozess stattfindet, zerstört das illegale Drogengeschäft das soziale Gewebe der Kleinstadt durch Gewalttätigkeit und Machismus. Wer bei den illegalen Hanfplantagen einen Sommerjob in der Reifezeit ergattert und mit MP die Pflanzen bewacht, hat hinterher schnelles Geld für einen Pick-up zusammen. In Los Molles, wo die Umweltbewegung von MODATIMA, einem medico-Partner, stark war, wird es für die Aktivist:innen nach der Niederlage des Plebiszits schwer. Schon im Vorfeld des Plebiszits wurde der Sprecherin der Feministinnen in MODATIMA, Lorena Donaire, das Haus durch Brandstiftung abgefackelt.
Die Prekarität, in der die unteren bis mittleren Schichten leben, ist eine fragile Konstruktion aus legalen und weniger legalen Arbeiten, aus Pitufos (Jobs, die man sich durch Kontakte verschafft) und Krediten. Die großen Änderungen, die die neue Verfassung versprach, haben diese Schichten verunsichert. Gerade die Neuwähler:innen, die nicht Teil der politischen Milieus mit ihren eigenen medialen Netzwerken waren, konsumieren privatisierte Fernsehkanäle, die den reichsten Familien gehören und Billigprogramme bringen. In diesen Medien hat die chilenische Rechte mit Beginn des Verfassungskonvents im Juni 2021, in dem sie nicht einmal eine Sperrminorität hatte, ihre Gegenkampagne mit offenkundigen Lügen gestartet. Das Online-Portal CIPER führte schon wenige Tage nach dem Plebiszit in den Armenvierteln Santiagos eine Umfrage zu den Gründen des Rechazos durch. Das Ergebnis zeigt, dass die Medienkampagnen der Rechten verfangen hat. Die Menschen fürchteten, ihre Häuser, ihre Rente zu verlieren. Und wollten keinen plurinationalen Staat. Wenn jede Idee von sozialem Wohnungsbau oder solidarischem Rentensystem umgedeutet werden kann in ein Ende von kleinstem privaten Eigentum, dann ist eine Verfassungsreform, die ernsthaft einen „sozialen Menschenrechtsstaat“ will, ein schwieriges Unterfangen. Die Ärmsten haben jede Form von Änderung abgelehnt.
Für Karina Nohales, eine der Sprecherinnen der feministischen Bewegung Coordinadora Feminista, lag ein großer Fehler des Verfassungskonvents darin, nicht frühzeitig über das Endplebiszit nachgedacht und so den Rechten monatelang das Feld überlassen zu haben. Tatsächlich war der Konvent in stundenlangen Debatten damit beschäftigt, einen Konsens für die neue Verfassung zu finden, in der sich alle Abgeordneten und die hinter ihnen stehenden Gruppierungen mit ihren jeweils spezifischen Forderungen wiederfinden wollten. Herausgekommen ist eine der fortschrittlichsten feministischen, ökologischen und postkolonialen Verfassungen der Welt, die nun aber gescheitert ist.
Harte Debatten im Netz
In den Debatten, die gerade überall im Netz stattfinden, werden harte Töne angeschlagen. Da ist schon mal die Rede von der Selbstgefälligkeit und dem Narzissmus der sozialen Bewegungen. Solche Polemiken sind unverdient. Die Frage aber ist, ob es das universelle Subjekt, selbst wenn es, wie die argentinische Feministin Rita Segato im Teatro Caupolican in Santiago wenige Tage vor der Abstimmung verkündete, ab jetzt das weibliche Subjekt ist, überhaupt erst gibt. Und wenn die Idee eines wie in Chile sehr starken linken Projekts keine Mehrheit finden kann, was bedeutet das für die, die es bislang mit so viel Einsatz betrieben haben?
Bislang konnten viele die Anti-Politik, also die Verteufelung aller Politik als Politik von oben, als Protestform nachvollziehen. Nun hat sie die Stimmung für den Rechazo mobilisiert. Wie links diese Haltung der Parteiablehnung wirklich ist, ist die Frage. Und ob sich darin nicht vielmehr eine Form des rechten Populismus widerspiegelt, ebenfalls. Dieser interessiert sich, wie man aus Erfahrung weiß, weder für politische Notwendigkeiten noch für die Herausforderungen der Wirklichkeit. Auch das ist eine Form der Anti-Politik.
Während sich die sozialen Bewegungen die Wunde lecken und ihre Zukunft ungewiss ist, betreibt die Boric-Regierung ihr neues Regierungsgeschäft. Hohe Mitarbeiter:innen der Regierung erzählen im privaten Gespräch, dass man auf soziale Maßnahmen und eine kluge Ordnungspolitik, die die Kriminalität eindämmen soll, setzen werde. Es gelte vor allen Dingen, die Wahl des Rechtspopulisten Kast beim nächsten Mal zu verhindern. Linke Kritiker:innen des Verfassungsprozesses lesen das Abstimmungsergebnis als Zeichen für einen neuen Klassenkampf. Ihr Argument: Das ärmste Fünftel der Wähler:innen hat am deutlichsten gegen den Verfassungsentwurf gestimmt. Die Ausarbeitung der neuen Verfassung sei eine Spielwiese linker Mittelschichtler:innen gewesen und hätte bei genauerem Hinsehen keinen wirklichen Bruch mit dem Neoliberalismus bedeutet. Solche Argumente kommen unter anderem von dem Historiker Sergio Grez. Worauf sie sich bei der Losung vom Klassenkampf stützen außer auf linken Populismus, bleibt allerdings ihr Geheimnis. Die Entwicklung in Chile rund um den Verfassungsprozess wirft viele Fragen auf. Sie ist eine Lehrstunde für alle, die sich einer grundlegenden Veränderung der Welt verschrieben haben und die Formel im Feminismus oder in der Umweltbewegung gefunden zu haben glauben. Das große Andere, das sich einfach erzählt und jedem und jeder vermittelt, das einen Horizont über Generationen und ihre Kämpfe hinweg spannt, fehlt nach wie vor bitterlich. Kann es das überhaupt geben?
medico hatte mit der Kampagne „Adiós Neoliberalismo“ die sozialen Bewegungen, die sich zu einem eigenen Wahlkampfteam für das „Apruebo“ zusammengetan hatten, unterstützt. Mehr zur Kampagne auf unserer Webseite unter www.medico.de/adios. Unsere Chile-Arbeit wird weitergehen.
Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 3/2022. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!