Wir haben seit dem Sommer 2021 in regelmäßigen Abständen das Chilenische Tagebuch mit Beiträgen von Pierina Ferretti veröffentlicht, das den Prozess zur Entwicklung einer neuen Verfassung begleitet hat. Dabei ging es, wie Pierina in ihrem letzten Eintrag schreibt, um weit mehr als um die Verfassung. Die Frage nämlich, ob es gelingen kann, neoliberale Normen wieder abzuschaffen und dafür eine Mehrheit zu gewinnen. Das ist nicht gelungen. Wie tief neoliberales Denken und neoliberale Subjektivität Einzug gehalten hat, nicht nur in Chile, beschreibt dieser letzte Beitrag von Pierina Ferretti.
Die Nacht des 4. September 2022 sollte ein Fest für die Linken nicht nur in Chile, sondern in vielen anderen Teilen der Welt werden. Endlich sollte die unter der Pinochet-Diktatur verabschiedete Verfassung, die die institutionelle Grundlage für einen unüberwindbaren Neoliberalismus in Chile legte, nach jahrzehntelangem Kampf vom Volk in einer historischen Wahl demokratisch zu Grabe getragen werden. Doch die Party fiel aus. Der Entwurf einer neuen Verfassung, der von einer Versammlung mit einer Mehrheit von Linken, sozialen Bewegungen, Feministinnen, Umweltschützern und Vertreter:innen indigener Völker ausgearbeitet wurde und der einen Großteil der anti-neoliberalen Kämpfe widerspiegelte, wurde mit überwältigender Mehrheit abgelehnt. Dreizehn Millionen Wähler:innen, also 85 Prozent der registrierten Wähler:innen, gingen an die Urnen. Acht Millionen, also 62 Prozent stimmten gegen den Verfassungsentwurf. In allen Regionen des Landes, bei Männern und Frauen, in allen Altersgruppen und sozialen Schichten, in Gebieten mit indigener Mehrheit, in Gefängnissen und in den so genannten Zonas de Sacrificio (Opferzonen, in denen zum Beispiel kein fließend Wasser für Privathaushalte vorhanden ist) hat die Ablehnung überwältigend gesiegt. Die Ablehnung in den ärmeren Schichten war noch dazu höher als in der Mittel- und Oberschicht.
Erstaunen, Enttäuschung und Fassungslosigkeit erschüttert die Linken bis heute. Was ist geschehen? Das ist die Frage, die immer noch im Raum steht. Wie war es möglich, dass das chilenische Volk, dasselbe Volk, das 2019 zu einer sozialen Revolte ungeahnten Ausmaßes aufbrach, das sich hartnäckig der polizeilichen Repression widersetzt hatte, das bei der Volksabstimmung 2020 zu 80 Prozent für eine neue Verfassung gestimmt hatte, das einen Verfassungskonvent mit einer großen Mehrheit für die Linken ausgestattet hatte und das einen ehemaligen Studierendenführer wie Gabriel Boric zum Präsidenten der Republik gemacht hatte, nun den Vorschlag für eine neue Verfassung so kategorisch ablehnte? Warum lehnten die Frauen eine Alternative ab, die ihre Rechte festschrieb und erweiterte? Warum lehnten die Ureinwohner:innen einen Vorschlag ab, der die Plurinationalität des Staates anerkannte und ihnen politische Autonomie gewährte? Warum lehnten die Bewohner:innen der Zonen, die direkt unter der Ausplünderung und den Folgen des Extraktivismus leiden, eine Verfassung ab, die das Menschenrecht auf Wasser anerkannte und den Schutz der Umwelt und der Territorien einforderte? Für die Linken, die sich als genuine Representant:innen der Volksinteressen fühlten und sich sicher waren, einen Verfassungsentwurf erarbeitet zu haben, der die Wünsche des Volkes weitgehend widerspiegelt, waren diese Ergebnisse ein Realitätsschock, den sie noch immer nicht ganz verarbeiten haben.
Die Niederlage in der Verfassungsabstimmung war darüber hinaus weit mehr als nur die Ablehnung eines Verfassungstextes. Aus strategischer Sicht hätte ein Erfolg der neuen Verfassung weitaus mehr bedeutet als die vorgeschlagenen Inhalte. Ein Erfolg hätte die Unterstützung der Bevölkerung für die anti-neoliberalen Umgestaltungen konsolidieren, die Linken, die Basisorganisationen und das gesamte soziale Gefüge, das während des Aufstands aktiviert wurde, stärken und ein Zeichen der Unterstützung für die Regierung von Gabriel Boric und deren geplante Strukturreformen setzen sollen.
Der schmutzige Krieg und das Gewicht der Anti-Politik
Zweifellos führten die Gegner:innen des Verfassungskonvents und des neuen Entwurfs einen schmutzigen Krieg. Verleumdungskampagnen, das Schüren sozialer und rassistischer Vorurteile, die Verbreitung von Lügen und Panikmache gehörten zur Strategie der Ablehnungsfront, die von der extremen Rechten bis hin zu Teilen der linken Mitte, von Unternehmensgruppen bis zu religiösen Bewegungen reichte.
Den Befürworter:innen der Ablehnung gelang es in einem medialen Trommelfeuer, den Eindruck zu erwecken, dass der Konvent ein Zirkus aus unwissenden Menschen sei, der nicht in der Lage wäre, eine Verfassung zu schreiben. Es wurde gelogen, dass sich die Balken bogen: Die neue Verfassung werde das Eigentum an Wohnungen und Rentenfonds nicht gewährleisten, private Schulen würden verboten und alle müssten an öffentlichen Schulen lernen, indigene Gruppen würden gänzlich vom chilenischen Staat unabhängig und ein eigenes Rechtssystem haben, was gegen den Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz verstoße. Diese Lügen und irreführenden Interpretationen konnten sich in weiten Kreisen durchsetzen und schürten Ängste und Misstrauen hinsichtlich der negativen Folgen, die die Annahme des Textes haben könnte. Einen Monat vor dem Plebiszit entfielen 89 Prozent der als Wahlkampfspenden an die Wahlbehörde gemeldeten Mittel auf die Ablehnungspartei. Hinzu kommt noch ein unbestimmter Betrag an nicht deklarierten Geldern.
Möglicherweise wichtiger als all das war die antipolitische Einstellung der meisten Wähler:innen. Fast fünf Millionen Bürgerinnen und Bürger gingen aufgrund der Wahlpflicht wahrscheinlich zum ersten Mal wählen. Die große Mehrheit dieser neuen Wähler:innen entschied sich für die Ablehnung, weil sie der Politik generell mit Ablehnung und Misstrauen begegnen. Diese politikfeindliche Einstellung zeigt sich auch in der Wahlbeteiligung, die in Chile seit mehr als einem Jahrzehnt normalerweise unter 50 Prozent liegt. Diese neue Wähler:innengruppe, die für den Rechazo votierte, kann man nicht ohne weiteres als rechts bezeichnen. Aber man muss davon ausgehen, dass die extreme oder populistische Rechte, die in Chile wie weltweit zunehmend an Einfluss gewinnt, in der Lage ist, diese unzufriedenen Sektoren anzusprechen und mit Hassreden gegen Migrant:innen, Indigene und andere Bevölkerungsgruppen bei ihnen die dumpfsten Gefühle mobilisieren wird.
Die Intensität der konstituierenden Arbeit, die hitzigen Debatten, die enorme Vielfalt der anwesenden Akteur:innen und die Schwierigkeiten, eine schnelle Einigung zu erzielen, führten außerdem dazu, dass sich der Konvent immer mehr mit sich selbst beschäftigte und große Schwierigkeiten hatte, sich den Bürger:innen zu vermitteln. Eigentlich hatte der Verfassungskonvent versprochen, die traditionelle Politik zu überwinden. Verbale Aggressionen, Skandale, völlig irrwitzige Regelungsvorschläge schienen dem jedoch zu widersprechen. Der Konvent wurde als ein weiteres Beispiel für die ewig gleiche Politik empfunden.
Die schwierige Wirtschaftslage, die steigende Inflation und das erhöhte Sicherheitsbedürfnis in den Großstädten aufgrund der wachsenden organisierten Kriminalität müssen ebenfalls in die Ablehnungsgleichung einbezogen werden. Diese Elemente haben die Stimmung in der Gesellschaft verändert. Weit entfernt von der Begeisterung und der Hoffnung, die während des Aufstands herrschten, waren nun Angst und Unsicherheit die vorherrschenden Gefühle. Wenn in Krisenkontexten Veränderungen als Bedrohung wahrgenommen werden, ist es wahrscheinlich, dass die vorgeschlagene neue Verfassung als ein weiterer Faktor potenzieller Instabilität gesehen wurde.
Seit ihrem Amtsantritt im März dieses Jahres ist zudem die Popularität der Boric-Regierung, die bei den Bürger:innen hohe Erwartungen geweckt hatte, stark gesunken. Unter diesen Umständen war das Ablehnungsvotum auch ein Votum zur Bestrafung der Regierung.
Unschärfen und Trugbilder
Die vernichtende Niederlage eines Verfassungsvorschlags, der von einem Konvent mit einer Mehrheit linker und progressiver Mitglieder verfasst wurde, zwingt zu ehrlicher Selbstkritik. Die Linke hat nicht nur im Konvent Fehler gemacht, sondern auch den politischen Augenblick und die Subjektivität des campo popular, also der unterprivilegierten Bevölkerung, die sie zu vertreten glaubte, falsch eingeschätzt. Die Kämpfe der letzten zehn Jahren, vor allem aber in den letzten vier Jahren, der feministische Aufbruch, die Revolte 2019 und die Wahl Borics und des Konvents haben die Illusion geweckt, man befände sich mitten in einem linearen und unumkehrbaren Prozess zur Überwindung des Neoliberalismus. Die Linken waren überzeugt, mit dem Wind in den Segeln zu fahren, und konnten die Zeichen nicht richtig deuten. Die Umfragen, die bereits eine Niederlage in der Abstimmung ankündigten, wurden als rechte Propaganda abgetan. Das Erstarken der extremen Rechten, die mit Antonio Kast beinah die Präsidentschaftswahl gewonnen hätte, wurde nicht ausreichend als antipolitischer Populismus verstanden, der eben auch dem Verfassungsprojekt gefährlich werden konnte.
Man versuchte nicht, Mehrheiten zu gewinnen, sondern sprach in den Nischen der überzeugten Aktivist:innen. Die Zusammensetzung des Konvents war eine Fata Morgana. Noch nie zuvor hatten direkt gewählte Vertreter:innen des Volkes, als solche waren sie angetreten, die Möglichkeit, im Zentrum der Politik zu stehen und eine Verfassung zu schreiben. Nie zuvor hatte eine Mapuche-Frau wie Elisa Loncón den Vorsitz einer Institution der Republik inne. All dies war beeindruckend, aber es wurde nicht erkannt, dass die politische Zusammensetzung des Konvents nicht mit der Ausrichtung der Gesellschaft als Ganzes übereinstimmte. So bedeutete die Tatsache, dass die Rechte nur marginale Ergebnisse erzielt hatte, nicht, dass ihre Macht in der Gesellschaft gebrochen sei. Im Gegenteil, die starke Präsenz der Linken im Konvent lässt sich auf die Tatsache zurückführen, dass sie mit einer der niedrigsten Wahlbeteiligungen in der jüngeren Geschichte mit nur 42 Prozent der Wähler:innen gewählt wurden. Ein Großteil der Gesellschaft war von vorneherein außen vor geblieben.
Wenn also eine Illusion durch die Ergebnisse des Plebiszits zerstört wurde, dann die, dass die Linke, insbesondere die Vertreter:innen der territorialen, der Umwelt- und der Frauenbewegung, in der Lage wären, die Interessen der Bevölkerung besser zu vertreten als „die Politiker:innen“.
Die Linken haben keine Antwort auf die Frage, warum eine Bevölkerungsmehrheit mit dem Versprechen eines sozialen und demokratischen Rechtsstaates, der Garant für universelle soziale Rechte sein könnte und eine führende Rolle bei der Erbringung von Dienstleistungen spielen sollte, nichts anfangen kann, ja diese Idee sogar mit Angst erlebt. Liegt es daran, dass es in Chile keine Erfahrungen mit universellen Rechten gibt und dass die öffentlichen Dienstleistungen von schlechter Qualität und nur auf die Armen ausgerichtet sind? Die diffusen Wünsche nach sozialem Schutz und gleichzeitig nach individueller Freiheit, sozialen Rechten und Schutz des Privateigentums und der persönlichen Leistung sowie das Misstrauen gegenüber der Öffentlichkeit und dem Staat haben die Niederlage bereitet.
Zwischen Restauration und Reartikulation
Die Niederlage des Apruebo hat selbstredend unmittelbare Auswirkungen auf die chilenische Politik. Die Rechte hat den Moment genutzt, um die Regierung von Gabriel Boric aggressiv zu belagern und droht damit, Reformen zu blockieren und die Entwicklung des Regierungsprogramms zu vereiteln, das wichtige Änderungen im Steuer-, Renten- und Gesundheitssystem verspricht. Wenn es der Regierung nicht gelingt, diese Veränderungen durchzuführen, wird dies zu einer enormen Unzufriedenheit in der Bevölkerung führen und den Weg für einen möglichen Sieg der Rechten bei den nächsten Wahlen ebnen. Gleichzeitig kam es nach dem Plebiszit zu Umschichtungen innerhalb der Exekutive. Politiker:innen der ehemaligen Concertación (der Mitte-Links- Koalition, die den Übergang zur Demokratie anführte und frühere Gegenspielerin von Boric und der neuen Linken war) gelangte nun in Regierungsämter. Die sozialen Bewegungen und viele linke Gruppierungen gehen seither auf Distanz zur Regierung, weil sie befürchten, dass sie keine Regierung der strukturellen Veränderungen mehr sein kann.
Der verfassungsgebende Prozess soll weiter gehen. Nach hunderttägigen Verhandlungen ist eine Einigung erzielt, die grünes Licht für ein neues Redaktionsgremium geben könnte. Der Vorschlag wurde von der Kommunistischen Partei bis zur äußerst rechten Unabhängigen Demokratischen Union unterzeichnet und muss von der Abgeordnetenkammer und dem Senat mit 4/7 der Stimmen ratifiziert werden. Von linker Seite gibt es scharfe Kritik. Der Vorschlag, einen letztlich von den Parteien gesteuerten Konvent einzuführen, wird als Rückschritt für die Demokratie und die Volkssouveränität bezeichnet. Einige Bewegungen haben bereits angekündigt, dass sie an diesem neuen Prozess nicht teilnehmen werden. Die Regierungsparteien hingegen appellieren an die Verantwortung und die Notwendigkeit, eine neue Verfassung trotz des ungünstigen Szenarios und des schlechten Kräfteverhältnisses zu erarbeiten. Es sei notwendig, um einen sozialen und demokratischen Rechtsstaates auf den Weg zu bringen.
Der Moment der sozialen Massenmobilisierung, der 2019 begann, ist offenkundig vorerst vorbei. Es ist nicht absehbar, wann und ob sich wieder eine breite Bewegung jenseits der klassischen Politik entfalten kann. Solange müssen die chilenischen Linken, die nach wie vor auf diesen Aktivismus setzen, ihre Köpfe erheben, sich artikulieren und weitermachen, obwohl ihnen der Wind aus den Segeln genommen wurde.
medico hat mit der Spendenkampagne„Adiós Neoliberalismo“ Organisationen in Chile unterstützt, die in der Verfassungsdebatte eine besondere Rolle spielen: Dazu zählen u.a. die Umweltorganisation MODATIMA, die gegen die Privatisierung des Wassers kämpft und die Fundación Nodo XXI, die sich 2012 im Zuge der Studierendenproteste gründete. Nodo XXI versteht sich als Thinktank für linke, progressive Politik und vernetzt Akteur:innen aus Politik, Bewegung und Zivilgesellschaft. Die Zusammenarbeit mit ihnen geht auch nach der Kampagne weiter.