Die (Re-)Konstruktion der Welt
Hilfe. Solidarität. Politik.
Die Online-Konferenz „(Re-)Konstruktion der Welt“ versammelte vom 12. bis 14. Februar 2021 Sprecher:innen buchstäblich aus aller Welt und fand eine ungewöhnlich große Publikumsresonanz. Wir fassen sie fast chronologisch zusammen. Sie halten einen Augenblick fest, in dem tatsächlich ein transnationales Gespräch, eine transnationale Öffentlichkeit sichtbar wurde. Ihr gelang es, sich über den katastrophischen Zustand der Welt auszutauschen und eine politische Kultur zu leben, die Wege aus diesem Zustand wenigstens denkbar macht.
Die Konferenz „(Re-)Konstruktion der Welt“ traf den Nerv der Zeit. Bis zu 8.000 Teilnehmer:innen übertrafen die Erwartungen der Organisator:innen.
Von Katja Maurer und Thomas Rudhof-Seibert
Inhalt
Dass ein Nachdenken und eine transnationale Diskussion über eine (Re-)Konstruktion der Welt ebenso vermessen wie nötig ist, liegt auf der Hand. Wer den Versuch unternimmt, schwankt zwischen dem Glauben an die Möglichkeit und dem Zurückschrecken vor der Hybris. Dabei war das geklammerte Re- ein Zeichen der Vorsicht und zugleich eine Hervorhebung: Sich über die Konstruktion der Welt zu verständigen, kann nur im Zeichen einer möglichen anderen Welt und in der Suche nach den Pfaden geschehen, über die wir in sie gelangen werden. In diesem Sinne war unsere Konferenz, die wir mit Unterstützung vieler Partner:innen, darunter der Friedrich-Ebert-Stiftung und der Rosa-Luxemburg-Stiftung, organisiert haben, ein Ding der Unmöglichkeit, also genau das, was zu tun an der Zeit war. Mit offenem Ausgang, was die technischen und inhaltlichen Möglichkeiten anbelangt.
Der Erfolg misst sich im Nachhinein an vielen Parametern. An den Klickzahlen und an den im Maschinenraum ständig aktualisierten Graphen der Verweildauer der Teilnehmer:innen. Die Zahlen sprechen für sich: nie waren unter Tausend Leute an Bord, mit einer Spitze, an der es über 8.000 waren: genau so viele, wie sich zuvor registriert hatten. Die Konferenz traf also offenbar den Nerv der Zeit. Und das während einer globalen Pandemie, die zwar alle bedroht, aber alle ganz verschieden, je nach geographischer, vor allem aber nach sozialer Herkunft. Indem wir den Weltzustand zur Diskussion stellten, machten wir nicht nur die Angst, sondern auch ihre Ursachen zum Thema. Modernste Kommunikationstechnologien ermöglichten die weltumspannende Verschaltung einer Wissensproduktion, die nicht mehr dem majestätischen Modell des Baums der Erkenntnis, sondern dem eines in alle Richtungen verzweigten Wurzelgeflechts glich. Die Zusammenfassung der Konferenz wird damit allerdings nicht einfacher. Im Folgenden reißen wird deshalb nur Momente eines globalen Gesprächs anreißen, das gerade erst begonnen hat. Wer tiefer schürfen will, kann weiterhin online gehen: alle Veranstaltungen bleiben im Netz und es wird – wie auch immer – eine schriftliche Dokumentation geben.
Hilfe als Zeug:innenschaft
Warum richtet eine Hilfsorganisation eine Konferenz aus, die man eigentlich eher an einer Universität verorten würde? Aus zwei Gründen. Einmal, um den Ausweg aus dem Fliegenglas zu finden, in das sie geraten ist. Und dann, um ihrer vornehmsten Aufgabe zu genügen: dem Ablegen ihres Zeugnisses vom Zustand der Welt. Nach Lage der Dinge ist dafür tatsächlich kaum jemand oder etwas so geeignet wie eine Hilfsorganisation, die politisch sein will und deshalb letztlich auf ihre eigene Aufhebung hinwirkt. Für medico war dies bereits die dritte große und dieses Mal auf neue Weise weltweit angelegte Konferenz, die sich kritisch mit dem Thema Hilfe befasst. Die erste, 2003 veranstaltet, nach dem Krieg der USA gegen den Irak, trug den Titel „Macht und Ohnmacht der Hilfe“. Dabei ist‘s, genau besehen, auch geblieben. Deshalb wird es eine vierte erst dann geben, wenn dort von dem gesprochen werden kann, was bisher nicht zureichend getan wurde. Dazu wird auch medico sich ändern müssen.
1. Die Hilfe
Haiti und Moria: Die Hilfe am Scheideweg
Mit paradigmatischen Beispielen für die Macht wie die Ohnmacht der Hilfe setzten sich die beiden Auftaktforen auseinander: Haiti und Moria. So sprach der US-amerikanische Anthropologe Mark Schuller, der sich seit vielen Jahren mit der Situation in Haiti beschäftigt, von der internationalen Hilfe nach dem Erdbeben als einer „humanitären Besatzung“ und bezeichnete sie als ein „zweites Erdbeben“. Das erste fand 2010 statt und forderte 300.000 Menschenleben. Die Opfer des zweiten sind noch nicht gezählt. Doch nennt der haitianische Dichter James Noel die Tausenden Hilfsorganisationen, die danach auf der Insel landeten, eine „Schar von Aasfressern“. Wie die Länder, die sie finanzieren, haben sich auch die Hilfsorganisationen mit den erbärmlichen und beschämenden Verhältnissen sowie mit dem Präsidenten Jovenel Moïse arrangiert, der sich mit Unterstützung des Westens gerade zu ihrem Diktator aufschwingt. Der kamerunische Philosoph Achille Mbembe wird solche No-Go-Zonen später als Regionen des permanenten Ausnahmezustandes beschreiben, die einer immerwährenden humanitären Intervention unterliegen, der es nicht um Hilfe, sondern nur um das „Containment“, die Einhegung des Zusammenbruchs, geht. Der haitianische Aktivist Nixon Boumba aber sprach erst einmal von dem Daueraufstand, zu dem sich die Menschen Haitis erhoben haben, einem Aufstand, der auch der Komplizenschaft gilt, die gerade die Hilfsorganisationen mit dem Elend, der Ausbeutung und der Infamie eingegangen sind. Die Mächtigen dieser Welt nehmen noch immer Rache für das auf das Jahr 1804 datierte Ereignis, in dem die schwarzen Sklav:innen Haitis für ausnahmslos alle Menschen beanspruchten, was in der Französischen Revolution bloß ein Versprechen geblieben war. Solange der Aufstand weitergeht, bleibt der Satz wahr, den Kant der Erhebung zugesprochen hat: dass sie ein Ereignis war, „das sich nicht vergisst.“
Wie in Haiti geht es auch in den Lagern an den Außengrenzen Europas ganz offensichtlich nur noch um „Containment“, also um Einhegung. Moria auf der griechischen Insel Lesbos ist dafür zu einem Symbol geworden. Der Rechtswissenschaftler Maximilian Pichl spricht vom „Moria-Komplex“, in dem das Lager- und Entrechtungssystem Europas eine neue Qualität angenommen hat. Shirin Tinnesand von „Stand by me Lesvos“ verglich Moria angesichts der Gelder, die in Form von Spenden oder als EU-Hilfen zur Verfügung gestellt werden, mit den Goldminen, die in Kalifornien für viele nackte Mühsal bedeuteten, einigen wenigen aber ungeheure Gewinne brachten. Tatsächlich profitieren die zur Versorgung der Internierten geschaffenen Einrichtungen und ihre Helfer:innen nicht nur moralisch, sondern auch finanziell von dem Elend, das humanitär nur verwaltet werden kann, weil es einzig politisch gelöst werden könnte. Die Menschenwürde der Geflüchteten werde auch deshalb systematisch verletzt, weil unprofessionelle Helfer: innen, oft Ehrenamtliche, allzu banale Vorstellungen von der Hilfsbedürftigkeit der Geflüchteten hätten. Damit raubten ihnen die Helfer:innen oft noch die letzte Autonomie: „Menschen wollen aber keine Hilfe auf Kosten ihrer eigenen Fähigkeiten“, so Tinnesand.
Rassismus und Demokratie
Die Wiederkehr rassistischer Gewalt insbesondere gegenüber Schwarzen bildet den Widerspruch liberaler Gesellschaften, den Widerspruch zwischen Demokratie und Rassismus. Weil diese Gesellschaften früher solche der rassistischen Vorherrschaft waren, sehen sie die Entwürdigung von Schwarzen auch dann als natürlich an, wenn sie ihnen formell gleiche Rechte einräumen. Das entspricht der Geschichte der rassistischen Formation (Gesellschaft, aber auch: Bildung). Die Weißen hingen von der Versorgung durch Sklav:innen ab und sahen sie gleichzeitig als die Anderen, die genau dazu da waren. Es gab da kein moralisches Dilemma: Weil der Rassismus die Rassist:innen glauben lässt, selbstständig zu sein, wird die Ungleichheit der Lebenssituation als normal hingenommen. Der dritte Punkt liegt in der Idee einer wesenhaften Differenz zwischen Weißen und Schwarzen. Das ist die weiße Suprematie (Vorherrschaft), das Merkmal des modernen Rassismus – und das Scheitern des Projekts einer liberalen Ordnung.
Finanzialisierung der Hilfe
Der Humanitarismus, der sich nicht nur in Haiti und Moria mit Geld und Moral ausstattet und nichts zu lösen vermag, wird ergänzt durch die Finanzialisierung der Hilfe, wie sie u.a. Barbara Adams vom „Policy Forum“ in New York im dritten Panel zur Hilfe beschrieb. So würden die Vereinten Nationen eine immer weiter voranschreitende Privatisierung der Hilfsfinanzierung betreiben, mit nichts als dem hohlen Argument, dass es bei den reichen privaten Stifter:innen „nun mal das Geld gibt.“ Obwohl der Internationale Währungsfonds (IWF) oder die Weltbank als Finanziers der Hilfe zugleich eine systematischen Verschuldungspolitik gegenüber den ärmeren Ländern betrieben, wünsche man sie sich heute insofern fast zurück, als sie zumindest formell demokratische Gremien sind. Demgegenüber sind die Banken, die heute zunehmend an deren Stelle treten, nur einem Gesetz verpflichtet: dem des größtmöglichen Profits. Tatsächlich sind die Banken und ihre „Public-Private-Partnerships“ eben nicht den Vereinten Nationen, sondern nur ihren eigenen Vorständen rechenschaftspflichtig.
In seiner Bilanz der Privatisierungswelle in der Entwicklungspolitik konnte das Panel zeigen, dass selbst die Sustainable Development Goals (SDG), die Nachhaltigkeitsziele der UNO, nur noch als „Investitionsmöglichkeit“ betrachtet werden. Der italienische Politikwissenschaftlers Sandro Mezzadra brachte dazu später den Begriff des „absoluten Kapitalismus“ ins Spiel. Von ihm getrieben, steht eine Hilfe, die nicht nur die Not, sondern auch deren Ursachen bekämpfen will, vor der Herausforderung, sich neu zu definieren. Wenn es nicht einmal mehr ums Beheben, sondern nur noch um die Verwaltung des Elends geht, muss eine Repolitisierung der Hilfe wieder die „Systemfrage“ stellen. Aber wie?
2. Der Kapitalismus
Kapitalismus als Errungenschaft und als Desaster
Die Frage einer Reinigungskraft beim Anblick einer Beuys‘schen Skulptur – „Ist das Kunst oder kann das weg?“ – scheint für viele Kapitalismuskritiker:innen auf ihrem Feld längst entschieden: Kapitalismus kann weg. Die Buchautorin und Wirtschaftsjournalistin Ulrike Herrmann stellte diese Gewissheit in ihrem Vortrag „Von der Not, nicht mehr wachsen zu dürfen“ noch einmal auf die Probe. Weil der Kapitalismus zumindest im globalen Norden für viele weniger eine Ausbeutungsprozedur als ein Weg zu einem angenehmen, sogar profitablen, wenn auch in Teilen entfremdeten Leben sei, stelle sich seine Überwindung, so Herrmann, nicht ganz so einfach dar. Die Unvermeidlichkeit der Infragestellung des Kapitalismus ergibt sich für sie auch deshalb eher aus den Erfordernissen der Klimakatastrophe. Dazu wies sie im Detail nach, dass die Klimaziele ernsthaft nur durch ein Ende des Wachstums zu erreichen seien. Da der Kapitalismus weniger die Ausbeutung als das ständige Wachstum brauche, habe sich der politische Grundwiderspruch von dem zwischen Kapital und Arbeit zu dem zwischen Wachstum und kein Wachstum verschoben. Dass aber erleichtere die Aufgabe nicht, die zur Überwindung des Kapitalismus nötige gesellschaftliche Mehrheit zusammenzubringen: „Wie kommen wir“, so brachte sie ihr Problem auf den Punkt, „zu einem Transformationsprozess, der nicht in einem Bürgerkrieg endet?“ Eine Antwort auf diese Frage konnte nach ihr auch Nina Treu vom „Konzeptwerk Neue Ökonomie“ nicht geben: Auch für sie blieb offen, ob die praktische Erprobung alternativer Lebens- und Wirtschafts-weisen, die sie vorstellte, schon ausreiche, die „Denkbremse“ zu lösen, die uns allen den Weg zu der für das Überleben des Planeten nötigen Transformation versperrt.
Postkolonialer Kapitalismus
Während Ulrike Herrmann und Nina Treu ihren Blick wesentlich auf die ökologischen Herausforderungen richteten, erörterte der italienische Politikwissenschaftler Sandro Mezzadra die „Weltlage des postkolonialen Kapitalismus.“ Dass und wie nicht nur der globale Süden, sondern auch und gerade der globale Norden „postkolonial“ verfasst sei, zeigten in Bezug auf die Transformationen von Arbeit und Staatsbürger:innenschaft eindrücklich die Bewegungen der Migration. Weil sie in den gegenwärtigen Krisen das emanzipatorisch dynamische Moment seien, komme den Konflikten um Rassismus, weißen Suprematismus und hierarchische Wissensproduktion eine ganz entscheidende Dimension zu. Allerdings werden die Migrant:innen von der Pandemie besonders hart getroffen. Sie habe, so Mezzadra, eine Krise der Mobilität ausgelöst und das Grenzregime nun um Hygienevorschriften und Impfausweise erweitert. Unter diesen Bedingungen sei eine dystopische Form von Migrationsmanagment denkbar, in denen Ghettos und selbst Orte wie Moria zu Reservoirs für temporär nötige Arbeitskräfte werden könnten. Wir stünden dann, so Mezzadra mit einem Begriff des Philosophen Etienne Balibar, vor der Wende hin zu einem „absoluten Kapitalismus.“
Der nigrische Journalist Moussa Tschangari ergänzte Mezzadras Verweis auf die dystopischen Tendenzen des postkolonialen Kapitalismus eindringlich um die Enttäuschung über die uneingelösten Versprechen aus der Zeit des nach dem Ende des Ost-West-Konflikts. Eines dieser Versprechen war das des „globalen Dorfes“, in dem alle – befreit von autoritären Regimen – im freien und gleichen Zugang zu Demokratie, öffentlichen Gütern und Mobilität verbunden wären. Doch zerfalle dieses Dorf zusehends in durch unüberwindliche Mauern vollkommen voneinander getrennte Teile. Fänden sich in diesen Mauern Risse und Löcher, so blieben sie doch nur virtuell: Zirkulieren, so Tschangari, können einzig die Dinge, während Menschen ohne Geld und ohne besondere Fertigkeiten ausschließlich als Bedrohung der allgemeinen Ordnung definiert und deshalb „einfach weggesperrt“ würden. Dem dystopischen Zug der Analyse entgegen betonte Mezzadra die Bedeutung der Bewegungen, die trotz der Pandemie von sich reden machen: die feministischen Aufstände in Lateinamerika, Black Lives Matter in den USA und in Europa, die ökologischen Bewegungen und eben die Hartnäckigkeit der Migration mit ihrem Beharren auf dem Recht auf Mobilität. Einsprengsel der Hoffnung in einem düsteren Szenario.
Ein Dorf voller Mauern
Globalisierung war einst mit großer Hoffnung verbunden. Politisch war es ein Versprechen auf Freiheit. Wirtschaftlich war es ein Versprechen auf größeren Kapitalzufluss und Zugang zu Waren und Dienstleistungen. In sozialer und kultureller Hinsicht war es ein Versprechen auf Bewegungs- und Reisefreiheit. Mit der Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechnologien, so wurde uns versichert, würde sich die ganze Welt in ein globales Dorf verwandeln. Wir alle erleben heute, wie der Traum vom globalen Dorf verblasst. Wir sehen, dass es in diesem Dorf nicht gerecht zugeht. Das Dorf ist in Quartiere aufgeteilt, die von Mauern getrennt werden. Zwar zirkulieren Waren und Dienstleistungen ohne größere Hindernisse, aber die Menschen, vor allem jene ohne Geld oder besondere Fähigkeiten, bleiben eingesperrt. Sie werden als Bedrohung für die soziale, politische, kulturelle und wirtschaftliche Ordnung dargestellt. Das ist das heutige Gesicht der Globalisierung, die noch vor wenigen Jahren das Versprechen einer Welt ohne Grenzen beinhaltete.
Von Kontrolle und Tod
Die argentinische Anthropologin und Feministin Rita Segato stellte die Frage in den Raum, was die Pandemie eigentlich mit den modernen westlichen Subjekten mache: Subjekte, so Segato, die ihren Tod verdrängen und ihn deshalb jetzt, wo er ihnen und ihren Angehörigen nahe rücke, hinter aseptischen Krankenhaus-Bildern verschwinden lassen wollen. „Virtualität macht sich nun zum Imperativ.“ Im Virtuellen, so Segato, existiere der Körper nur noch als Fantasie, als eine „Sache, geschaffen von einem omnipotenten, hypertrophen Ego und deshalb als toter Körper gar nicht vorzustellen“. Segato, die mit der „Pädagogik der Grausamkeit“ eine dekoloniale Kritik des patriarchalen Kapitalismus entwickelt hat, sieht in dieser Fantasie „einen dummen Unglauben an den Tod, der die Mentalität unserer Zeit ausmacht“. Mit den Feminiziden in Lateinamerika vor Augen erschließt sich die in der rechtsradikalen weißen Männlichkeit kultivierte Todesverachtung im Angesicht von Covid als männlicher Herrschaftsanspruch über den Tod der Anderen.
Auch gehört Segato zu den Denker:innen, die sich zugleich dem politischen Aktivismus verschrieben haben. Ein solcher Aktivismus aber ist in der körperlosen Zweidimensionalität des Virtuellen schlechterdings nicht vorstellbar. So äußere sich der lateinamerikanische Feminismus in einer Explosion der Vitalität, in der sich Frauen ihren lebendigen Körper zurückerobern: Ein freier Körper, der sich in allen Formen seiner Bewegung von der Zweidimensionalität befreie. Verdichtet hat sich diese Befreiung im Januar 2021, als das argentinische Parlament die Abtreibung gesetzlich zuließ und sich abertausende Frauen aus allen Klassen vor dem Parlamentsgebäude versammelten, sich im Augenblick ihres nach langen Kämpfen errungenen Sieges ihrer Masken entledigten und sich in die Arme fielen. Wie heißt es doch bei Brecht in der Resolution der Kommunarden: „… haben wir beschlossen nunmehr schlechtes Leben mehr zu fürchten als den Tod.“
Die Philosophin Eva von Redecker, die gerade ein Buch zur Philosophie der neuen Protestformen herausgebracht hat, konnte gut an Segatos „Pädagogik der Grausamkeit“ anschließen, weil die Verdinglichung von allem und allen für sie nicht nur eine Geschichte der nackten Gewalt ist, sondern eine patriarchale „Geschichte der Eigentumsformen.“ In ihrem im Hall der Übertragung leider teilweise schwer verständlichen Beitrag übersetzte sie Segatos Begriff der „Dueñidad“ (Besitzherrschaft) in ihren Begriff der „Sachherrschaft“: „Es war die patriarchale Sachherrschaft, die es einem Teil der Besitzlosen in Europa wie auch den Besitzenden und weißen Siedlern in den Kolonien ermöglichte, die Willkürfreiheit des Eigentümers genießen.“ Auch bei von Redecker wird Lebendiges verdinglicht und damit jeder möglichen Form von Gewalt übereignet. Dass die Feminismen aus Lateinamerika und Europa eine andere Sprache und doch eine gemeinsame sprechen, war eine bewegende Erkenntnis des Samstagabends.
3. (Re-)Konstruktion
Was haben wir gemeinsam, um die Welt zu rekonstruieren?
Dass der kamerunische Philosoph Achille Mbembe an einer zwar internationalen, doch von Deutschland aus organisierten Konferenz teilnahm, war nach den Debatten um seine Person im vergangenen Jahr keine Selbstverständlichkeit. Wie nötig gerade seine Stimme in einer politischen Debatte um den postkolonialen Kapitalismus ist, erwies sich einmal mehr an diesem Sonntagvormittag. Mbembe ging in seinem Vortrag der Frage auf den Grund, ob eine Rekonstruktion der Welt möglich ist und wie sie aussehen kann: von Afrika aus. Tatsächlich gibt gebe es „keinen besseren Ort auf der Welt, an dem uns diese Frage so eindringlich und radikal entgegenschlägt.“ Es gelte, eine „Welt für alle und alles“ zu rekonstruieren, getragen von einer anderen Ordnung und bedürftig einer neuen Ethik. So wie die Welt zurzeit mit ihrem auf Extraktivismus und Finanzialisierung ausgerichteten Entwicklungsmodell beschaffen sei, entstünden zwangsläufig immer größere No-Go-Zones, die dann in einer Art „Fernmanagement“ kontrolliert und eingehegt werden müssen. Diese Zonen erinnerten an den Kolonialismus, hätten jedoch das koloniale Paradox abgeschafft, das Mbembe zufolge die Kontrolle aus der Ferne mit der direkten körperlichen Konfrontation verband. Heute jedoch werde die „Landkarte der Entwicklung“ neu gezeichnet. In dieser Zeichnung stehen zwei Entwicklungsalternativen gegeneinander: „Eine Welt des Dauernotstands, die im technokratischen Management verwaltet werde, oder eine strukturelle Transformation der Gesellschaft und der Menschheit als Ganzes.“
Zur Entwicklung einer dazu notwendigen „Ethik des Planetarischen“ aber sei die liberale Ordnung allein nicht in der Lage, weil sie eine Ethik der Gleichheit von allen und allem sein müsse. Mbembe kritisierte den Kantschen Kosmopolitismus, der zwar eine Kritik des Kolonialismus beinhaltete, aber die Welt nur vom Wissen einer Provinz aus betrachtete. Ein posteurozentrischer Kosmopolitismus müsse die verschiedenen Archive des Wissens und der Erinnerung gleichberechtigt nebeneinander stellen und dürfe sie nicht hierarchisieren. Jedoch: „Darin aber offenbart der anhaltende Rassismus ein Versagen des Projektes der liberalen Ordnung.“ Dabei verwies Mbembe auf die Ideologie des weißen Suprematismus, die seit Jahrhunderten das trügerische Selbstbild der Weißen von ihrer Autonomie aufrecht erhalte, dazu die Abhängigkeit von der Fürsorge ihrer Sklav:innen ausblende und deshalb auch sowohl die eigene Verantwortung wie die Einsicht in die Verpflichtung zur Reparation verleugne. Damit rückte Mbembe die Aufarbeitung und Überwindung des weißen Suprematismus in den Mittelpunkt der Transformationsaufgabe. Sein Vorschlag des Gemeinsamen lautete: „Wir müssen über den Kosmopolitismus hinaus zu einer neuen Ethik der Welt kommen. Zu einer Idee der gemeinsamen Fürsorge für die Welt, die distribuitive und reparative Gerechtigkeit zusammenführt.
Was aber haben wir gemeinsam? Die kenianische Schriftstellerin Yvonne Adhiambo Owour machte deutlich, dass eine wohlfeile Beschwörung des Gemeinsamen nur dazu angetan ist, die Kluft zu vertiefen: „Die Vergangenheit jagt die Gegenwart, formt sie, kolonisiert sie jetzt.“ Zugleich aber sei eine neue Welt im Werden begriffen. Ihre Ausführungen zur „Ruhelosigkeit des Herzens“ mit ihren fluiden Zugehörigkeiten, ihre Verweise auf die technologischen und machtpolitischen globalen Verschiebungen mündeten in der Idee, dass das Gemeinsame zuletzt auch in einer eigenen Sprache ausgesprochen werden müsse und werde.
Wer bei diesem Prozess dabei sein will, so Owuor, muss vor allem eines: „erwachsen werden.“ Die Soziologin Sabine Hark verband diese Aufforderung mit der Einsicht in die Unterschiede, aus denen sich die Verpflichtung zum Gemeinsamen in einer asymmetrischen Globalität ergibt: „Privilegien zu verlernen, eine imperiale Lebensweise zu verlernen, aktiv Nein zu einer in Jahrhunderten geformten Sozialisierung in Dominanz zu sagen, verlangt etwas anderes, als sich aus einer Position ebenfalls über Jahrhunderte geformter Enteignung heraus als politischer Bürger oder politische Bürgerin neu zu entwerfen.“
Unerlöste Geschichte
Die Vergangenheit sucht die Gegenwart heim. Wir haben das Gewicht ungelöster Geschichte zwischen uns. Ihre nicht allzu fernen Vorfahren verrieten die grundlegenden Prinzipien der Menschlichkeit, begingen Gräueltaten gegen die Existenz, verwüsteten die Erde und kommerzialisierten das Leben. Sie veröffentlichten Kauderwelsch über uns, Unsinnigkeiten, die viele in Ihrer Welt immer noch für wahr halten. Die wilde Gier nach Kapital, Profit und Reichtum hat dazu beigetragen, die menschliche Seele zu zersetzen und ihr Vertrauen in andere zu untergraben. Dies und mehr zuzugeben, würde Sie oder Ihre Vorfahren nicht weniger menschlich machen. Es würde den Nachkommen, die die Wunden geerbt haben, nur verkünden, dass Sie bereit sind, eine verheerende kulturelle Zerbrochenheit anzuerkennen. „Reparatur“ ist der letzte Schritt einer langen Odyssee, die mit einer inneren Bestandsaufnahme beginnt und zu einem öffentlichen Eingeständnis der langen Schatten im Inneren führt. Die Zukunft widersetzt sich einer Amnesie.
Revolution heute
Moussa Tschangaris, aus der Aussichtslosigkeit heraus formuliertes, Begehren „nach etwas ganz anderem“ und Mbembes Beharren auf der Unumgänglichkeit einer „Transformation der Menschheit im Ganzen“ stellten unausgesprochen, doch unüberhörbar die Frage nach der Revolution. Die US-amerikanische Philosophin Susan Buck-Morss ist seit jeher dem revolutionären Denken verpflichtet und hat den „provinziellen“ Kosmopolitismus mit ihrem Grundsatzwerk „Hegel und Haiti“ schon überschritten, indem sie die Französische und die Haitianische Revolution miteinander verknüpft. In ihrem Vortrag, in dem sie immer wieder Bilder der Aufstände aus den letzten zehn Jahren einfließen ließ, sprach sie von der Notwendigkeit einer „totalen Revolution“, da kein Problem im Rahmen eines Nationalstaates gelöst werden könne. Zugleich aber stünden wir vor einer Krise der Alternativen. Nichts läge einfach auf der Hand. Hier schloss Susan Buck-Morss an Mbembe an, der für eine Enthierarchisierung der Erinnerungsarchive plädiert hatte. Sie hatte sich seine Rede um fünf Uhr morgens – New Yorker Zeit – angehört. Die Geschichtsschreibung pflege einen Mythos der Moderne, in dem eine Hierarchie des Fortschritts angelegt sei, der auf die Überlegenheit des kapitalistischen Systems hinauslaufe. Es sei sehr schwer, sich außerhalb dieser Fortschrittslogik zu stellen: „In unserer Verzweiflung müssen wir nicht weniger als eine Änderung der politischen Kultur erreichen.“ Eine Kultur des Zuhörens, des Respekts gegenüber der Würde des anderen. „Das revolutionäre Kollektiv ist nicht die Universalisierung einer Abstraktion“, lautete einer ihrer Charts, es ist vielmehr gerade in dem „enormen Aufleuchten von Bewegungen“ erfahrbar, „die sehr verschieden sind“.
Von diesem nur scheinbaren Paradox legten dann auch die beiden Mitdiskutant:innen des Forums Zeugnis ab. Der syrische Filmemacher Saeed al Batal, der in Leipzig im Exil lebt, schilderte, warum sich Menschen trotz der Todesgefahr an der Revolution in Syrien beteiligten. „Nicht jedes Leben ist wahres Leben“: Gerade diese Einsicht habe die Revolutionär:innen in Syrien, so al Batal, überhaupt erst befähigt, ihr Leben für die Revolution aufs Spiel zu setzen. Am Begriff des „Arabischen Frühlings“ kritisierte er die Reduktion der Suche nach einem besseren Leben in einer freien Zukunft zu einem „arabischen Problem“ und folglich auf ein „Noch-nicht-wie-wir-sein“, mit der die Verbindung zu anderen aufständischen Prozessen in der Welt abgeschnitten worden sei. Bei der deutschen Linken treffe er zudem immer wieder auf Argumente, die die syrische Revolution von ihrem Scheitern her betrachteten und delegitimierten. Sein Satz, dass „die Revolution erst vorbei ist, wenn die Revolutionäre aufhören“, traf sich mit Susan Buck-Morss‘ Verweis auf den unerhörten Mut, mit dem heute an vielen Orten in der Welt gekämpft wird.
Aus Chile berichtete Pierina Ferreti vom „estallido social“, der sozialen Explosion, einer Bewegung, die von Millionen Menschen getragen wird. Sie resultiere zum einen aus der Verdinglichung der gesamten Existenz im superneoliberalen Chile, wo der Mensch nur noch ein Objekt des Gewinnstrebens sei – ganz egal, um was es sich handle, ob Gesundheit, Bildung oder Rente. Die Bewegung hätte in der Gesellschaft einen Ärger ausgelöst, von dem die herrschenden politische Klasse nichts geahnt habe und den keine Partei, auch keine linke, zu repräsentieren in der Lage sei. Deshalb habe in der Bewegung jede und jeder einzelne sich selbst vertreten müssen. Zugleich erinnerte sie, dass der estallido social ohne die in den vergangenen fünf Jahren gewachsene feministische Bewegung gar nicht zu erklären sei: einer Bewegung, die Millionen von Frauen auf der Straße gebracht habe. Ihr sei der Nachweis gelungen, dass das scheinbar private Problem der häuslichen Gewalt in Wahrheit ein strukturelles Problem der ganzen Gesellschaft sei, das deshalb auch nur gesellschaftlich, also politisch, gelöst werden könne. Indem Frauen aus allen Schichten dies verstanden hätten, seien sie zu politischen Subjekten geworden – Rita Segato zufolge ein gelungenes Beispiel einer „Gegenpädagogik der Gewalt.“
Kontrollneurose
Unterdessen ereignet sich das, was ich einmal „Kontrollneurose des Westens“ genannt haben: die Missachtung der Zeit, der Unglaube an die historische Natur von allem, was existiert, eine Art cartesianischer Extremismus; der Glaube, dass sich der Kopf außerhalb der res extensa (der bloßen Materie) befinde und deshalb eine definitive Kontrolle über die Geschichte alles Lebenden und damit über das Leben selbst ausübt. Die Pandemie ereignet sich bei einem vom Leben ausgeschlossenen Menschen. In der Hoffnung, alle Unbestimmtheit und alle Unsicherheit zu beenden, hat er sich ein Exil außerhalb von allem Vitalen auferlegt. So kommt es, dass die Pandemie den Glauben unserer Epoche in Frage stellt. Wie ein großer Scanner enthüllt sie die verborgene Struktur der Welt, ihr Skelett. Sie ist so etwas wie der „Einbruch der Wirklichkeit“, der die Allmachtfantasie des apokalyptischen Kapitalismus untergräbt. Das könnte zu einer Reintialisierung, zu einem Reset führen – würden wir nicht das Antidot in uns tragen, das die transformative Fähigkeit des Systems selbst bremst: unser fataler Unglaube an unsere Sterblichkeit.
Die Revolution der Menschenrechte
Den Begriff und die Sache selbst der Revolution erst wieder ins SpieI bringen zu müssen, wäre nicht nötig, wenn sie nicht zuvor aus dem Spiel gebracht worden wäre und, schlimmer noch, wenn sie sich nicht selbst immer wieder aus dem Spiel gebracht hätte. Tatsächlich versteht es sich spätestens seit dem Ende der Sowjetunion 1991 nicht mehr von selbst, in der Revolution die politische Form emanzipatorischer Politik zu sehen. Der erste Grund dafür ist zwischenzeitlich vielfach gar nicht mehr präsent: Das Ende der für die Geschichte des 20. Jahrhunderts politisch bestimmenden Blockkonfrontation sollte nach dem Willen der Sieger dieses bislang letzten großen weltgeschichtlichen Konflikts nicht weniger als das Ende der Geschichte überhaupt sein. Der zweite Grund liegt in der Notwendigkeit, von der viele Revolutionär:innen und ausnahmslos alle Denker:innen der Revolution immer wieder gesprochen haben: der Notwendigkeit, die Revolution als permanente Revolution denken und praktisch angehen zu müssen. Eine Notwendigkeit, die alle Revolutionen seit ihren ersten modernen Anfängen in der Amerikanischen, der Französischen und der Haitianischen Revolution begleitet. Tatsächlich kann von allen modernen Revolutionen gesagt werden, dass sie nicht zu erreichen vermochten, was sie erreichen wollten. Zugleich muss von allen diesen Revolutionen gesagt werden, dass sie sich recht bald gegen die Revolutionär:innen wendeten, die sie begonnen haben. Gegen dieses immer vorzeitige Ende, besser gesagt: gegen die stete Unterbrechung der Revolution, hat die jüngere Kritische Theorie den Begriff der Menschenrechtsrevolution geprägt. Er soll benennen, worum es in den modernen Revolutionen eigentlich ging, was von ihnen blieb, woran immer neu anzuknüpfen sein wird und worin folglich ihre Sache selbst, d.h. ihre Permanenz, liegt. Die Revolution ist der historische Prozess, in dem wir uns gegenseitig zugesprochen und versprochen haben, frei und gleich an Rechten zu sein. So haben wir uns – über ihre vorzeitige Unterbrechung hinweg – in der Amerikanischen, der Französischen und der Haitianischen Revolution die politischen Menschenrechte zugesprochen. Wenn wir uns heute als frei und gleich auch an wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten verstehen, so ist dies das Erbe vor allem der Oktoberrevolution. Die antikolonialen Revolutionen schließlich haben uns die kollektiven Menschenrechte, wie etwa das Recht auf Wasser zugesprochen, deren juristische und politische Ausarbeitung noch lange nicht abgeschlossen ist. Dem weltweiten Aufbruch des Mai 1968 schließlich danken wir die Einsicht, dass alle Menschenrechte einander bedingen und deshalb nie gegeneinander ausgespielt werden dürfen. Genau besehen ist sogar die Permanenz der Revolution als ein Menschenrecht zu verstehen, als das im §28 ihrer Allgemeinen Erklärung verankerte Recht auf eine „internationale und soziale Ordnung, in der die in dieser Erklärung angeführten Rechte und Freiheiten voll verwirklicht werden können“: für alle und jeden, überall.
In dem der Menschenrechtsrevolution gewidmeten Forum auf der Konferenz wurde die Sache selbst in drei Hinsichten zur Diskussion gestellt. Der chilenische Menschenrechtsaktivist Roberto Mundaca erinnerte an die Permanenz der Revolution an der Geschichte seines Landes: am Aufbruch der Unidad Popular in den 1970er Jahren, an der dunklen Zeit der Militärdiktatur und ihrer noch heute fortdauernden politischen, ökonomischen und kulturellen Gewalt, einer Gewalt, gegen die sich in den letzten Jahren wieder einmal Millionen Menschen erhoben haben. Nicht zufällig mündet gerade dieser jüngste revolutionäre Aufbruch in die Auseinandersetzung um eine neue, radikal menschenrechtsbasierte Verfassung. Der Generalsekretär des medico-Partners European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR), Wolfgang Kaleck, insistierte gleichen Sinnes auf der Dialektik von politischem Aufbruch und juristischer Bewahrung, einer Dialektik, die uns gerade in der permanenten Verwiesenheit von Politik und Recht aufeinander auf das Menschenrecht als eine konkrete Utopie verweist, für die politisch und juristisch zu streiten bleibt. Bestimmend bleibt dabei der für den Begriff des Menschenrechts grundlegenden Umstand, dass die in permanenter Revolution fortzuschreibende Liste unserer pluralen Menschenrechte ihr Maß und ihre Bewährung in dem ihnen allen eingeschriebenen singularen Menschenrecht einer jeden auf die freie Selbstbestimmung der eigenen Existenz findet.
Den Horizont der reinen Gegenwart sprengen
Dass die planetarischen Problemlagen, mit denen sich die Konferenz beschäftigte, nur global zu lösen sind, klingt fast wie eine Binsenweisheit. Nur wo zeigen sich Ansätze globaler Lösungen? Thomas Gebauer, der über 20 Jahre lang Geschäftsführer von medico international war, und immer das globale Parkett für grundlegende Veränderungen suchte, zog in seinem Beitrag eine ernüchternde Zwischenbilanz. Der Bedeutungsverlust der Vereinten Nationen habe in dem Maße zugenommen, wie die Nationalstaaten selbst erodierten. Die bereits erwähnten SDGs, die sogenannten nachhaltigen Entwicklungsziele, setzten auf Wirtschaftswachstum und „gewinnbringende Problemlösungen“. Ja, es drohe die „Dystopie einer Governance der Konzerne“, in der sich der dem Kapitalismus immanente Zwang zur Verwertung von Mensch und Natur „absolut“ setze. Es reiche deshalb nicht aus, den Zerstörungsprozess allein mit Empörung aufhalten zu wollen. Es bedürfe einer mitreißenden Vorstellung, wie eine andere Welt aussehen könnte.
Das Schlusspodium der Konferenz war nie als Resümee gedacht und konnte nur bedingt Gebauers Forderung nach einer mitreißenden Idee einlösen. Wie auch. Am Beispiel von vier Themen, die sich auf die eine oder andere Weise durch die Konferenz zogen, tauchten jedoch Vorschläge für eine andere Praxis auf, die den Horizont der Gegenwart sprengen. Mark Heywood, südafrikanischer Journalist und Aktivist der ersten Stunde für das globale Recht auf Zugang zu antiretroviralen Medikamenten, war überzeugt, dass nicht allein die ungleiche Verteilung des Impfstoffes problematisch sei, der die Corona-Pandemie in den ärmsten Ländern um Jahre verlängern wird. Tatsächlich werde es kein Zurück zum „normalen Vorher“ geben. So führte die Pandemie im Schwellenland Südafrika zu einer 30-prozentigen Arbeitslosigkeit in der Folge der Vernichtung von zwei Millionen Arbeitsplätzen. Zugleich seien die Covid-Sterberaten unter der schwarzen Bevölkerung um ein Vielfaches höher als unter der weißen. „Dabei erleben wir“, so Heywood, „eine Stärkung des autoritären Staates, unter der es emanzipatorische Kämpfe schwerer haben werden als zuvor.“ Die globale Pandemie könne in ihren sozialen Folgen deshalb nur durch einen globalen Wiederaufbauplan bewältigt werden, der sich insbesondere mit der Rekonstruktion der durch die Privatisierung geschwächten Gesundheitssysteme beschäftigen müsse: Die Rückgewinnung der Gesundheit als eines menschenrechtsbasierten öffentlichen Guts müsse weltweit oben auf der politischen Tagesordnung stehen.
Die Juristin Miriam Saage-Maß, die für das European Center of Constitutional and Human Rights (ECCHR) seit vielen Jahren Prozesse begleitet, die europäische Unternehmen für Menschenrechtsverletzungen haftbar machen sollen, stellte die Widersprüche im Rechtssystem zur Debatte. Firmen beriefen sich auf Handelsverträge, die sie nicht haftbar machen. Weil diesen allerdings die internationalen politischen und sozialen Menschenrechte gegenüberstehen, rüttele jeder Prozess, der sich auf die Menschenrechte berufe, an der Auffassung der Firmen, nach der für sie einzig Handelsverträge gelten würden. Am Beispiel der Debatte um die Lieferketten und dem Entwurf der Bundesregierung für ein Lieferkettengesetz zeige sich, dass politische Spielräume vorhanden seien, die Macht der Unternehmen einzuhegen: auch wenn das Gesetz viele Schlupflöcher beinhalte.
Um diese Spielräume im Sinne der Menschenrechte zu nutzen, sei ein Zusammenspiel politischer Bewegungen, einer öffentlichen Meinung, die die Hyperausbeutung der Textilarbeiter:innen ablehnt, und juristische Formen der Strafverfolgung vonnöten.
Dass eine Rekonstruktion der Welt nicht denkbar ist, „ohne Europa zu verlassen, um die Welt zu retten“, daran erinnerte die Soziologin Vanessa Thompson. Mit dem Zitat von Frantz Fanon verband sie die transnationalen antirassistischen Kämpfe der Black Lives Matter-Bewegung (auch Black Liberation Movement) mit der Idee des Abolitionismus. Einst als internationale Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei entstanden, wäre der Abolitionismus heute eine Form „Schwarzer Theoretisierungen“, die auf eine radikale Kritik des liberalen Kosmopolitismus und des strukturellen Rassismus seiner Institutionen zielen, wie sie zuvor schon Mbembe geübt hatte. Dabei sei das abolitionistische Projekt auch ein Projekt der Rekonstruktion, das eine weitestgehend verleugnete Geschichte der Moderne erinnere, deren prominentester „Fall“ die Haitianische Revolution sei. Eine Rekonstruktion der Welt für alle und alles (Mbembe) sucht das uns Gemeinsame nicht nur im Zukünftigen, sondern auch in einer anders erzählten Geschichte jenseits des Nationalstaats.
In einer Zeit der „Krisen der Alternativen“ (Buck-Morss) liegt es an der Exemplarität, das mögliche Andere sichtbar zu machen. Das gelingt manchmal in Projekten, die nach eigenen anderen Regeln wenigstens zeitweise „Inseln der Vernunft“ sein können, und das gelingt mitunter in der Kunst, wie der Theatermacher Milo Rau am Beispiel seines Filmes „Das neue Evangelium“ zeigte, der im Begleitprogramm zur Konferenz zu sehen war. Im „Neuen Evangelium“ ist Jesus ein geflüchteter Aktivist aus dem Kamerun, die Apostel sind Sexarbeiter:innen, illegalisierte Arbeiter:innen der Tomatenplantagen und Kleinbauern im Süden Italiens. „Wir haben“, so Rau, „den transzendentalen, universellen Gerechtigkeitsbegriff der Bibel benutzt, um Menschen zusammenzubringen, die im System der süditalienischen Ausbeutung entlang ethnischer oder sozialer Linien fragmentiert werden.“ Dass der Regisseur seiner Kunst einen politischen Realitätsbeweis abverlangt, eröffnet seinen Grenzgang zwischen Kunst und Politik. So wurden die Illegalisierten im Rahmen des Projekts zu Hausbesetzer:innen, erreichten so die Zuteilung von Arbeitspapieren und näherten sich der Legalisierung ihres Aufenthalts. In Raus Interpretation wird das Evangelium zum Mythos einer unterbrochenen Revolution: „Jesus wird zum brutalsten Tod verurteilt, er scheitert an seiner Gruppe und an sich selbst. Und doch entsteht daraus für die Zukunft eine Kraft. Das ist Dialektik.“
Mit diesem Abschluss rahmte das Schlusspodium noch einmal die gesamte, in ihren Inhalten überbordende Konferenz: Ausgehend von der Hilfe und ihrem Zeugnis zur Lage der Welt ging es darum, Möglichkeiten ihrer Transformation wahrzunehmen. Auf dieser Grundlage können wir eine mögliche politische Kultur in den Blick nehmen, die sich im philosophischen, politischen und künstlerischen Versuch der Grenzüberschreitung der anderen Welt nähert, die noch immer möglich ist.
Wie geht es weiter?
Unter dem Stichwort „(Re-)Konstruktion“ setzen wir die Debatte, nun in kleineren Formaten online und offline fort. Wie genau – werden wir mitteilen. Eine schriftliche Dokumentation ist geplant. Auch da halten wir Sie über unsere Medien auf dem Laufenden.