Workshop

Was Fotos erzählen

15.02.2018   Lesezeit: 5 min

Ein Workshop des medico-Partners Jungleye reflektiert die Situation von Geflüchteten in Europa und stellt Verbindung zum Alltag von jugendlichen Schüler_innen und Geflüchteten in Frankfurt her. Von Katja Maurer

Das Motto zum 50jährigen Jubiläum von medico international „Die Welt ist groß. Rettung lauert überall“ hat sich der Schriftsteller Ilija Trojanow ausgedacht. Dass diese Idee, an jedem Ort zu jeder und zu jeder Zeit könnte sich unverhofft etwas Rettendes ereignen, sich so schnell im medico-Haus in der Praxis zeigen könnte, war nicht geplant. Wie auch. 

Seit 10. Februar findet hier im Haus ein Workshop von Jungleye statt, einer Initiative der Fotografin Séverine Sajous und der Architektin Julie Brun, die 2015 angefangen haben, mit Geflüchteten in Calais partizipatorische Fotografie zu machen und seither immer wieder Workshops in unterschiedlichen Flucht-Kontexten anbieten. medico hatte die beiden jungen Frauen über eine Zusammenarbeit mit unserem libanesischen Partner AMEL kennengelernt. In Foto-Workshops mit syrischen Frauen, die in einem Gesundheitszentrum von AMEL betreut werden, entstanden beeindruckende fotografische Dokumente ihres Lebens in menschenunwürdigen Verschlägen, die in Beirut zu horrenden Summen an die Schutzsuchenden vermietet werden. Zwei Ausstellungen sind daraus entstanden, die den Beiruter_innen 2017 einen ungewohnten Einblick in das Leben der syrischen Flüchtlinge gaben. Nämlich den, den die geflüchteten Frauen selbst erlauben.

In Frankfurt nun sitzen die beiden Frauen mit Schüler_innen der Integrierten Gesamtschule Nordend und geflüchteten Jugendlichen aus Afghanistan und Syrien, die hier zum Teil seit zwei Jahren leben, zusammen. Sie nähern sich über Fotografien, die die beiden mitgebracht haben und die beim Workshop entstehen, den Geschichten der Fotografen und dem Leben auf der Flucht. Am Ende ist das Ergebnis des Workshops auch Teil der Ausstellung, die ab dem 15. Februar im medico-Haus gezeigt wird. Was die Fotografien nur eingeschränkt wiedergeben können, ist der Prozess, in dem diese Bilder in den neuen medico-Räumlichkeiten entstanden sind.

Sprachenvielfalt einer mögliche Zukunft

An zusammengerückten Tischen sitzen die Jugendlichen. Kaum betritt man den Raum, schlägt einem die sprachliche Vielfalt entgegen, in der Jugendliche in Deutschland eben auch groß werden. Zwei Schüler_innen sind mehrsprachig aufgewachsen und übersetzen sprachlich gewandt und eher nebenbei das, was die Séverine Sajous auf Spanisch sagt. Ansonsten wird Englisch, Deutsch und Französisch gesprochen. Youssef aus Syrien und Jalil aus Afghanistan sprechen Deutsch, aber auch das Englisch der 16jährigen deutschen Muttersprachler_innen ist erstaunlich. Unwillkürlich denkt man: Das ist eine mögliche Zukunft.
 

In den Tagen hier haben die Jugendlichen gelernt, ihren fotografischen Blick zu schulen. Fotos geflüchteter Jugendlicher, die im „Jungle“ von Calais bis zu dessen Auflösung eine provisorische Heimat hatten, dienen als Vorlage für eigene Bilder. Das Foto eines Jugendlichen aus Calais zeigt zum Beispiel von der Seite aufgenommen das Fahrerhaus eines Lkws, der gerade in das Bild hinein fährt. Im Hintergrund ein Stoppschild und ein Baum. Die Geschichte dahinter erschließt den Sinn. Der Alltag der Flüchtlinge in Calais, auch der des Fotografen, bestand zu dieser Zeit darin, unbemerkt auf die Lkws zu springen, um damit die Überfahrt nach England zu schaffen. Len, ein sechzehnjähriger Schüler der IGS mit langer, zum Zopf gebundener Mähne, hat sich das Foto ausgesucht und eine ähnliche Situation im Osthafen fotografiert. Ein Lkw fährt ins Bild, eine Ampel zeigt Rot, in der Ferne schemenhaft eine Brücke über den Main. Er schreibt dem Jungen aus Calais: Er habe eine alltägliche Situation ausgesucht. Nur ein Lkw in der Stadt. Es gäbe Hoffnung: Denn irgendwann werde jede rote Ampel grün. In der Gruppe sprechen sie über die beiden Bilder. Für Len, sagen sie, sei ein Lkw Alltag, den er kaum bemerke. Für den Jugendlichen in Calais war der Lkw etwas Besonderes, nämlich die einzige Chance, mit dem Laster dorthin zu gelangen, wohin er eigentlich wollte.

Jalils Erfahrung ist näher an den Bildern aus Calais. Der 16jährige Junge aus Afghanistan mit schick geschnittener Tolle und zurückhaltendem Blick lebt seit 8 Monaten in Frankfurt. Er brauchte zwei Jahre, um über Pakistan, Iran, Türkei, Griechenland hierher zu kommen. Er hat sich ein Foto ausgesucht, das ihn an seine eigene Flucht erinnert. Das Foto zeigt, wie die Wäsche im Jungle von Calais getrocknet wurde. Irgendwie über Büsche und Gitter gespannt. Jalil hat es mit eigenen Kleidern und seinen schicken Turnschuhen re-inszeniert. Zögernd liest er seinen Text vor, der auf der Postkarte an den Jungen aus Calais steht: Ich bin Jalil aus Afghanistan. Ich habe dein Foto ausgewählt, weil es mich an meine eigene Flucht erinnert. Bei der Überfahrt von der Türkei wurden alle meine Kleider im Boot nass und ich musste sie in Griechenland trocknen.

Sehnsucht endlich anzukommen

Und so ergeben sich Parallelen, Distanzen, Überschneidungen. Eine Postkarte aus Calais zeigt das Meer und einen Vogel. Die Karte trägt den Titel: Wenn ich nur fliegen könnte, dann würde ich meine Träume erreichen. Jalil hat ein ähnliches Foto gemacht. Der Main und die EZB – aber es sind keine Symbole der Sehnsucht mehr, sondern der Ankunft. Hoffentlich.

Es gibt auch Humorvolles. Überhaupt, erzählen Séverine und Julie, hätten die Jugendlichen in Calais viel gelacht, als sie die Kameras handhaben konnten. Auch in der Lindleystraße geht es überaus entspannt zu. Also das Humorvolle: Eine Postkarte zeigt einen jungen Mann, der zwischen seinen Händen den Eifelturm hält. „So groß und passt doch in meine Hände“, schreibt er. Die Jugendlichen der IGS wundern sich. Dass der Witze machen kann, wo er in einer so beschissenen Situation lebt, meinen sie. Touristen und Vagabunden begegnen sich nicht oft, aber in diesem Eifelturmbild schon. Nicht nur die Fotos haben ihre eigene Poesie, auch die Texte, die die Jugendlichen verfassen. Einer lautet: So weit wir voneinander entfernt sind, so unterschiedlich unsere Träume sind, so ähnlich sind unsere Ziele. Ich stehe hinter dir.

Die Arbeiten des Workshops sind Teil der Jungleye-Ausstellung, die bis 2. März im medico-Haus, in der Lindleystraße 15 zu sehen ist.

 

Katja Maurer

Katja Maurer leitete 18 Jahre lang die Öffentlichkeitsarbeit von medico international und die Rundschreiben-Redaktion. Heute bloggt sie regelmäßig auf der medico-Website.


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