Dass kaum noch jemand an das Regime glaubt, zeigte sich zuletzt an der historisch niedrigen Wahlbeteiligung bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen. Es ändert für viele Iraner:innen nichts mehr, ob sogenannte Hardliner oder Reformer gewinnen. Dies gilt besonders für den wachsenden Teil der iranischen Bevölkerung, der in Armut lebt. Eine hohe Inflationsrate, immer teurere Lebensmittel, steigende Altersarmut und eine geringe Beschäftigungsquote lassen die sozialen Missstände immer weiter wachsen. Immer wieder fanden in den letzten Jahren deswegen große Streiks und Massenproteste statt – seit 2017 brodelt es unentwegt in der iranischen Gesellschaft.
Gewerkschaftlich organisierte Arbeiter:innen forderten die Verstaatlichung der Fabriken und auch damals kam es schon zu Protesten gegen den Hijab. 2019 gingen teils bewaffnete Arbeiter:innen gegen die hohen Benzinpreise auf die Straße und 2020 streikten die Beschäftigten von Zeitarbeitsfirmen. Dieses Jahr streikten landesweit 24.000 Arbeiter:innen der Öl- und Gasindustrie und zuletzt Gesundheitspersonal für bessere Arbeitsbedingungen. All diesen Protesten gemein ist neben dem Ruf nach einer Verbesserung der Arbeitssituation auch die Forderung nach einem Ende der Islamischen Republik, symbolisiert durch Angriffe auf islamische Institutionen und das Ablegen des Hijabs.
Den Höhepunkt der Anti-Regime-Proteste markierte die „Jin, Jiyan, Azadî“-Bewegung im Herbst 2022, die durch den Mord an Jina Mahsa Amini durch die Sittenpolizei entfesselt wurde. Monatelang protestierten und streikten Iraner:innen verschiedener Herkunft, verschiedenen Alters und Geschlechts gegen das Regime, das mit brutaler Repression und massenhaften Exekutionen antwortete. Im vergangenen Jahr wurden Amnesty International zufolge doppelt so viele Menschen hingerichtet wir im Vorjahr. Seit einer Verschärfung der Kleiderordnung greift die Sittenpolizei noch härter gegen Frauen durch, die sich nicht regimekonform kleiden. Im Herbst 2023 wurde die 16-jährige Armita Garawand in einer U-Bahn brutal von der Sittenpolizei verhaftet und verstarb wie Jina Mahsa Amini einige Tage später.
Widerstand leisten die Menschen seitdem besonders im Alltag : Sie tanzen und singen auf öffentlichen Plätzen, legen den Hijab ab oder bringen öffentlichihre Freude über den Tod des verhassten Ex-Präsidenten Raisi zum Ausdruck. Die Hoffnung, dass ihr Ruf nach Gleichberechtigung und Demokratie eines Tages Wirklichkeit wird, ist nicht erloschen.
medico international fördert seit einiger Zeit ein aktivistisches Netzwerk*, das in den Provinzen Kurdistan, Belutschistan und in anderen Teilen des Iran Verletzte durch die Repression gegenüber den Protesten und Angehörige von Inhaftierten unterstützt. Die Gruppe trägt Behandlungskosten nach Augen-, Kopf- und Wirbelsäulenverletzungen ebenso wie Kosten für Prothesen und Fahrtkosten in nahegelegene Krankenhäuser. In einigen Fällen waren die Inhaftierten oder Ermordeten auch die Versorger:innen ihrer Familien, die auf sich gestellt in finanzielle Not gerieten. Sie werden mit der Übernahme von Kosten für medizinische Behandlungen oder bei der Beschaffung von Materialien unterstützt, um sich einen neuen Lebensunterhalt aufzubauen.
*Um die Aktivist:innen nicht zu gefährden werden weder Namen noch Orte genannt. Nur unter großen Sicherheitsvorkehrungen ist die Unterstützung vor Ort möglich.