Proteste im Iran

Der Geschmack von Freiheit

12.12.2022   Lesezeit: 8 min

Die Aufstände dauern an. Wohin kann es gehen, wenn es kein Zurück mehr gibt? Fragen an die Bloggerin Mina Khani.

medico: Trotz aller Repressionen erheben sich Menschen im Iran weiterhin gegen das Regime. Die Welt staunt über den Mut und das Durchhaltevermögen. Du auch? In einem Interview hast du schon vor knapp drei Jahren vorhergesagt, dass es zu einer riesigen gesellschaftlichen Explosion kommen wird.

MIna Khani: Man muss die aktuellen Proteste in ihrer Entwicklung sehen. 2009 gingen erstmals wieder Millionen Menschen im Iran auf die Straße. Unter der Parole „Wo ist meine Stimme?“ demonstrierten sie gegen den Betrug bei der Präsidentschaftswahl. Zwar trugen vor allen Dingen die Mittelschichten in Teheran diesen Protest. Dennoch eroberten sich die Menschen damals das Gefühl zurück, ihre Stimme öffentlich erheben zu können. Das war wichtig. Nach der Niederschlagung der Grünen Bewegung musste sich der Widerstand gegen die Diktatur neu sortieren. Bereits unter Rohani, Präsident der Islamischen Republik zwischen 2013 und 2021, gab es erste Kampagnen gegen den Kopftuchzwang. Ende 2017 und Anfang 2018 waren es vor allem die ärmeren Schichten, die gegen die politisch-wirtschaftliche Misere aufbegehrten. Das kulminierte 2019 in massiven landesweiten Protesten, im Zug derer das Regime 1.500 Menschen ermordete. Seitdem hat der Iran im Grunde keinen ruhigen Tag mehr erlebt. Und ja, jetzt erleben wir die Explosion. Ich bin auch begeistert von dem Mut der Menschen. Aber überrascht bin ich nicht.

2009 war es Wahlfälschung, 2019 eine schlagartige Benzinpreiserhöhung. Diesmal aber war der Mord an der jungen kurdischen Iranerin Mahsa Amini infolge eines angeblich nicht korrekt getragenen Kopftuchs der Funke, der einen Sturm entfachte. Warum ist ein Stück Stoff so wichtig für die Herrschaft des Mullah-Regimes?

Es geht nicht um das Kopftuch. Viele Demonstrantinnen tragen es, aber eben freiwillig. Es geht um den Zwang. Dieser symbolisiert den Anspruch des Staates, umfassend Kontrolle über die Gesellschaft auszuüben. Um durchzusetzen, dass sich die Hälfte der Gesellschaft verschleiert, ist im Laufe der Zeit eine regelrechte Maschinerie aufgebaut worden. Unzählige Institutionen sind dafür da, die Sittlichkeitsmoral ideologisch zu begründen, zu verbreiten und allen einzutrichtern. Letztlich werden über ein Stück Stoff weite Teile des Lebens unterworfen – von der Familienpolitik über die Ordnung der Geschlechter bis zu sexuellen Rechten.

Mit der Ablehnung des Kopftuchzwangs stellen die Proteste also das gesamte Gesellschaftsbild und die Gesellschaftsordnung infrage?

Ja, denn an den Rechten von Frauen hängen die Rechte von allen und auf alles. Dank des Internets wissen junge Iraner:innen heute, dass es in vielen muslimischen Ländern keinen Kopftuchzwang gibt. Warum, fragen sie sich, ist es dann für den Staat im Iran so wichtig? Was mischt er sich ein, was maßt er sich an? Damit widersprechen sie dem gesamten Herrschaftsanspruch des Staates über das Leben der Menschen.

Diese radikale Ablehnung macht es dann auch möglich, dass der Protest verschiedene Strömungen aufnimmt und bündelt?

Tatsächlich passiert gerade vieles gleichzeitig und so auch zum ersten Mal. Erstmals konnten sich Proteste, die im kurdischen Nordwesten ihren Ausgang hatten, im ganzen Land verbreiten. Auch die zentrale Parole, „Jin, Jiyan, Azadî!“, also „Frauen, Leben, Freiheit!“ stammt aus dem Kurdischen. Erstmals spielen Frauen wirklich die Hauptrolle in dem Aufbegehren. Erstmals werden auch LGBTQ-Menschen und -Themen im Laufe der Proteste sichtbar. Erstmals wird darüber diskutiert, wie der Staat ethnische Gruppen im Land gegeneinander ausspielt und herrscht, indem er die Gesellschaft spaltet. Umso bedeutsamer ist es, dass alle möglichen Gruppen überall im Land demonstrieren. Frauen und Männer inklusive Genderminderheiten, jung und alt, Angestellte, Schüler:innen und Studierende und Arbeiter:innen, verschiedene ethnische Gruppen und religiöse Minderheiten, in Teheran ebenso wie im Nordwesten oder im Südosten des Landes.

Der Protest ist offenkundig sehr breit. Wie tief aber ragt der Wunsch, das Regime möge stürzen, in die Gesellschaft hinein?

Diese Frage stellen mir deutsche Journalist:innen immer, als ging es nur darum, Erfolgsaussichten abzuwägen. Natürlich darf man nicht unterschätzen, wie militarisiert der Staat ist und dass er allein über die Milizen Millionen Menschen von sich abhängig gemacht hat. In den vergangenen Jahren konnte man aber beobachten, dass der Staat immer weitere Teile seiner sozialen Basis verliert. Und es ist definitiv keine kleine Minderheit, die genug von dem System hat. So hat das Regime fast die gesamte junge Generation verloren. Die junge Generation hat den Geschmack von Freiheit geschmeckt. Sie hat Kopftücher abgelegt und verbrannt. Sie hat Bilder von Chomeini, Chamenei oder Soleimani zerstört. Sie hat alle möglichen Symbole der Macht angegriffen.

Ist der Prozess also unumkehrbar?

Für die jungen Menschen gibt es kein Zurück. Sie verstehen nicht, wie sich aus der Revolution von 1979 solch ein Staat entwickeln konnte. Ihre Wut richtet sich dabei nicht nur gegen das Regime, sie konfrontieren auch ihre eigenen Eltern: Was habt ihr euch bloß gedacht? Wie konntet ihr euch hinter Chomeni stellen und unsere Leben derart ruinieren? Warum habt ihr nicht stärker dagegen angekämpft? Die Situation erinnert ein bisschen an Deutschland in den 1960er-Jahren.

Die Welt nimmt Anteil an dieser Bewegung. Zu der Solidaritätskundgebung in Berlin sind über 80.000 Menschen gekommen. Welche Rolle kann die iranische Diaspora spielen?

Das ist komplex. Die iranische Diaspora ist traditionell sehr gespalten. Da gibt es Monarchist:innen und Nationalist:innen, Volksmudschahedin, Linke und viele andere. Man darf nicht vergessen, dass es der Staat Iraner:innen im Ausland immer schwergemacht hat, Einfluss zu nehmen. Sie wurden stigmatisiert und gegeneinander ausgespielt, Flucht und Exil wurden als Schande denunziert. Aktuell nehme ich aber eine neue Dynamik wahr. Die iranischen Communitys sagen sich: Wenn die Menschen im Iran bereit sind, so viel zu riskieren, dann müssen wir unsere Differenzen erst mal nicht in den Mittelpunkt stellen und solidarisch sein, um über demokratische Wege über die Zukunft des Landes zu entscheiden. Es gibt auch keinen Grund zur Sorge, weil viele alte politische Strömungen wirklich kaum eine Basis im Iran haben, wie zum Beispiel jetzt die Volksmudschahedin. Die neue Generation akzeptiert eher nicht die altmodische Art der politischen Organisationen und Parteien.

Infolge der Proteste haben in Deutschland Debatten über die eigene Politik begonnen. Hat man weggeschaut und nicht wissen wollen? Hat man – Stichwort Atomdeal – zu lange verhandelt und daran festgehalten, durch Zusammenarbeit Veränderungen bewirken zu können?

Was mich schon lange frustriert, ist Folgendes: Niemand in Deutschland hat glauben wollen, dass die iranische Gesellschaft schon lange genug hat und etwas grundlegend anderes will. Die hiesige Politik und die Medien haben sich wenig für diese gesellschaftliche Opposition interessiert. Stattdessen haben sie immer wieder die angeblichen „Reformer“ innerhalb des Staatsapparates eingeladen und hofiert. Die haben jedoch nur ihre Interessen verfolgt und konnten dem Westen Lügen auftischen, wie gut es doch zum Beispiel um die Menschenrechte im Iran bestellt sei.

Aber das hat doch niemand geglaubt. Geht es nicht vielmehr darum, dass die europäische und deutsche Politik immer von der Leitlinie bestimmt war, trotz allen Unrechts sei das Regime immer noch besser als das, was sonst kommen könnte? Stabilität statt Kontrollverlust?

Ich sage es mal so: Die Menschen im Iran haben sich schon lange von der Illusion verabschiedet, die Diktatur könne positiv verändert werden. Schon bei den Protesten Anfang 2018 verbreitete sich die Parole „Hartliner und Reformisten, eure Zeit ist vorbei“. Deswegen haben sie trotz aller Unterdrückung versucht, sich anders zu äußern und zu organisieren. Genau das wurde aber im Westen nie wahrgenommen, und das macht die Menschen so wütend. Warum hat sich die deutsche Außenpolitik immer an die vermeintlichen Reformer gehalten? Wie konnte Deutschland hoffen, der Iran möge sich durch diese Leute verändern? Hat irgendwer etwas von der Gesellschaft und der Staatsstruktur im Iran verstanden? Hätte man hingeschaut, wäre man jetzt auch nicht so überrascht darüber, wozu die Widerstandsbewegung im Iran fähig ist.

Dennoch dürfte sich die Zukunft des Landes nicht nur im Iran entscheiden. Das Land steht im Fokus geopolitischer Interessen und hat sich zudem zu einer Regionalmacht entwickelt.

Tatsächlich ist die Entwicklung im Iran sehr eng verknüpft mit der Region. Schon die Revolution von 1979 hat die gesamte Region verändert. Es galt die Ansage Chomeinis, den eigenen Islamismus und das Modell der Revolutionsgarden zu exportieren. Das ist geschehen. Der Iran mischt in vielen Ländern politisch und militärisch mit – im Libanon, in Gaza, im Jemen, im Irak und in Syrien. Aber auch dieses System wankt. Zum einen lehnen immer mehr Iraner:innen diese Politik ab. Sie wollen nicht, dass der Staat mit so viel Geld zur Militarisierung der Region beiträgt oder dass iranische Revolutionsgarden Assad gegen die eigene Bevölkerung verteidigen. Auch im Irak wehren sich immer mehr Menschen gegen die Einflussnahme des iranischen Staates. Hinzu kommt, dass wichtige Verbündete des Regimes gerade andere Sorgen haben. Russland ist mit der Ukraine, das Assad-Regime ist mit den Ruinen seines Krieges und die Hisbollah im Libanon mit einer extremen Staatskrise beschäftigt. Klar ist jedenfalls, dass Veränderungen oder gar der Sturz des Regimes Auswirkungen auf die gesamte Region haben werden. Ob Europa trotz aller Risiken einen anderen Iran will – diese Frage steht nun im Raum.

Interview: Katja Maurer und Christian Sälzer

Die Partner:innen von medico in der Region von Afghanistan bis zum Libanon stehen im Bann der iranischen Ereignisse. Im Iran selbst ist die Unterstützung autonomer Strukturen derzeit nur extrem eingeschränkt möglich. medico unterstützt in der Region seit vielen Jahren Organisationen, die mit den Aufständen verknüpft sind. Derzeit plant beispielsweise die Aman Women Alliance mit Unterstützung von medico eine Konferenz im Nordirak zu den Aufständen in der Region und will dabei nicht nur die eigenen irakischen Erfahrungen reflektieren, sondern auch Gäste aus Tunesien, dem Libanon und Sudan einladen, um deren Bewertungen kennenzulernen.

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 4/2022. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!


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