Über Hilfe hinaus

Wie kann es sein, dass die Welt gerade nicht spricht?

21.11.2024   Lesezeit: 15 min  
#beyondaid

Im Umbruch: Ein Gespräch über Hilfe und die Zukunft der Zivilgesellschaft.

Wir hätten uns eigentlich gerne zu fünft an einen echten Tisch gesetzt und waren auch bereit, dafür einiges in Kauf zu nehmen. Es sind schließlich besondere Zeiten, und da kann es helfen, sich in die Augen zu schauen. Doch schnell wurde klar, dass das nichts werden würde. Pirmin Spiegel, bis vor kurzem noch Hauptgeschäftsführer des Hilfswerkes Misereor, beginnt derzeit seinen Ruhestand nämlich genau dort, wo er zuvor schon Jahrzehnte tätig war: in Brasilien. medicos Referentin für kritische Hilfe Radwa Khaled-Ibrahim wiederum ist zur Zeit dieses Gesprächs in ihrer Heimatstadt Kairo im Homeoffice der globalen Art. Immerhin Barbara Unmüßig, die über zwei Jahrzehnte Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung und mindestens ebenso lange eine geschätzte Wegbegleiterin medicos war, hätten wir in Berlin treffen können. Da es dazu aber nicht kommt, sprechen wir auf fünf Kacheln und von drei Kontinenten über eine Welt im Ausnahmezustand.

Ist eine politische Hilfe, die Menschen in Not zur Seite steht, aber auch deren Ursachen bekämpfen will, unter den gegenwärtigen Bedingungen der kriegerischen Eskalation und der sich ausweitenden Krise noch möglich?

Pirmin Spiegel (PS): Ich befinde mich derzeit am Rande des Amazonasgebietes. Jeden Tag werden Brände gemeldet, die laut Medien zu 80 Prozent von Menschen gelegt werden. Die Brände und Brandrodungen bewirken vor allem eines: Sie weiten ein zerstörendes Wachstumsmodell im Interesse des Agrobusiness und der Rohstoff-fördernden Industrien aus, das sich immer neue Territorien erobert. Indigene Ethnien im Amazonasgebiet hingegen praktizieren ein anderes Lebens- und Wirtschaftsmodell. Sie sollen vertrieben oder unterworfen werden. Trotzdem gibt es Kämpfe um diese Territorien: Indigene Völker haben ein anderes Verhältnis zu Land als das Modell des Agrobusiness. Von hier aus könnte man es so formulieren: Die unmittelbare Hilfe ist ein Gebot der Menschlichkeit. Solidarische Hilfe, wie sie unsere Organisationen vertreten, steht darüber hinaus an der Seite derer, die eine Beziehung zum Wasser, zum Land, zur Natur haben, die nicht von Ausbeutung und Unterwerfung geprägt ist.

Diese solidarische Hilfe ist nötig und möglich – aber was hat sie tatsächlich erreicht?

PS: Gerade wird hier eine Demonstration für die Verteidigung der Territorien von Quilombolas organisiert. Das sind Siedlungen ehemaliger Sklaven, denen die brasilianische Verfassung Landrechte zugesteht. Statt Verfassungsrecht herrscht das Recht des Stärkeren. Ich habe mich in diesem Zusammenhang mit Lucineth, der regionalen Caritas-Präsidentin, darüber unterhalten, warum wir bei der Durchsetzung von Verfassungsprinzipien, um die wir so lange gekämpft haben, nicht weitergekommen sind. Sie sagte, dass wir in den vergangenen 30 Jahren nie an die Wurzeln des Problems herangekommen wären. Sie bestünden im Kolonialismus und seinen Folgen und in dem Glauben an unumschränktes Wachstum. Wir hätten Schönheitspolitik betrieben, sagte sie, und kurzfristige Interessen verteidigt. Mehr sei uns nicht gelungen.

Barbara Unmüßig (BU): Ich sehe es wie Pirmin: Wir sind gescheitert, die strukturellen Ursachen für Armut, Unrecht und Hunger so zu adressieren, dass sich wirklich global etwas ändert. Wir sind damals mit dem Anspruch angetreten, weltwirtschaftliche Verhältnisse zu dekolonisieren, Asymmetrien und ungleiche Tauschverhältnisse zu beseitigen. Mit Alternativen zur neoliberalen Globalisierung wollten wir dem Ende der Ausbeutung von Mensch und Natur ganz nahekommen. Auch in der Entwicklungstheorie gab es eine sehr lebendige Debatte dazu. „Hilfe“ wollten wir sowieso überflüssig machen. Parallel dazu hatte sich das normative Gerüst der Menschenrechte und des Völkerrechts im UN-System positiv weiterentwickelt und wurde zu einer wichtigen Referenz in der globalen Politik. Heute erleben wir jedoch im Krieg in Gaza ebenso wie in den bewaffneten Konflikten im Sudan oder Jemen, wie humanitäres Völkerrecht systematisch gebrochen wird. Zum Beispiel steht im WSK-Pakt von 1966, also den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten, die Teil der Allgemeinen Menschenrechte sind, dass auch im Kriegsfall der Zugang zu Nahrung für die Menschen gewährleistet werden muss. Hunger als Waffe in bewaffneten Konflikten ist gemäß des humanitären Völkerrechts ein Kriegsverbrechen. Genau das findet gerade im Jemen, im Sudan und in Gaza statt. Normativ sind wir also weit gekommen, aber die Durchsetzung der Rechte bleibt mehr denn je auf der Strecke und das Völkerrecht wird von allen Seiten torpediert. Und der Westen hat in der Pandemie mit seiner ungerechten Impfstoffpolitik und jetzt im Israel-Gaza-Krieg massiv an Glaubwürdigkeit verloren, weil er im wirtschaftlichen Eigeninteresse und politischem Kalkül seine Wertmaßstäbe zu verraten bereit ist.

Radwa, du bist bei medico für kritische Hilfe zuständig. Kann Hilfe heute im besten Fall noch das nackte Leben retten?

Radwa Khaled-Ibrahim (RKI): Ich möchte auf den Begriff des nackten Lebens eingehen. Es ist Teil der Kriegsführung, aus Menschen eine nackte, oft braune oder schwarze Masse zu konstituieren, die außerhalb des Rechts stehen kann. Es zieht sich eine Color Line durch unsere Geschichte und Gegenwart. Denn es handelt sich hier um Menschen, die eben noch eine Geschichte, noch eine Biografie hatten. Gerade als Hilfsorganisation müssen wir deshalb das Recht auf Rechte für alle unablässig einklagen und uns nicht mit dem Retten des nackten Lebens zufriedengeben. Es gibt ein Recht auf Rechte und deshalb kann es keine Subjekte geben, die außerhalb des Rechts stehen. Wenn sich Organisationen entpolitisieren müssen, um humanitär handlungsfähig zu sein, dann werden sie Teil der Kriegsregime und Verwalter einer Nekropolitik .

Braucht es also eine andere Hilfe – oder etwas anderes als Hilfe?

RKI: Ich bin derzeit viel mit Genoss:innen in Kairo unterwegs. Und wir führen sehr intensive Gespräche über diese Fragen. Es gibt eine große Wut. Vom westlichen Diskurs will man hier nichts mehr hören. Es braucht neue Räume, neue Diskurse und eine neue Sprache. Ob Hilfe dazu beitragen kann? Sie birgt immer ein Machtgefälle und ein Machtverhältnis. Insofern sind Hilfe und Emanzipation aus meiner Sicht zwei verschiedene Sachen. Gerade im Nord-Süd-Verhältnis hat sich aus pragmatischen Gründen eine Praxis ergeben, beides zu vermischen, und das hat sich oft auch produktiv verbunden. Aber jetzt steuern wir auf einen Punkt zu, wo Hilfe und Solidarität auseinanderdriften. Es ist also ein guter Zeitpunkt, sich die Frage zu stellen, wo Hilfe anfängt und wo sie aufhört. Wo müssen wir eine andere Praxis der Solidarität finden? Wie gestaltet sich Solidarität als Prozess, wenn der Westen nicht mehr das Zentrum ist?

Die Forderung nach Verwirklichung des Rechts auf Rechte – so verstehen wir euch – hat also ihre Aktualität behalten. Gleichzeitig hat sich aber etwas verändert. Die politische Konjunktur setzt fundamentale Rückschritte in der weltweiten politischen Agenda durch. Das zeigt sich nicht zuletzt in den doppelten Standards, mit denen der Westen den Gaza-Krieg und seine Völkerrechtsverletzungen unterstützt, während er Russland zum radikal Bösen erklärt, oder in einer Klima- und Flüchtlingspolitik, die sich komplett aus der globalen Verantwortung verabschiedet hat. Wie kam es zu diesem Wandel? Und was bedeuten das für das „Weitermachen“?

BU: Wir waren als Zivilgesellschaft früher viel eher in der Lage, ungerechte globale Verhältnisse in ihrer ganzen strukturellen und vermachteten Dimension zu kritisieren. Wir waren eine doch recht starke globalisierungskritische Bewegung. Wir haben gegen ungerechte, asymmetrische Welthandelsabkommen gekämpft, wir haben Investitionsabkommen kritisiert, die sich an den Unternehmensinteressen ausrichteten. Indem sich geoökonomisch und geopolitisch mit China als Akteur sehr viel verändert hat, ist diese Kritik am weltkapitalistischen System immer leiser geworden. Ich erlebe das als Entpolitisierung. Es gibt noch viele gute Bündnisse wie das für die globale Steuergerechtigkeit, die Klimabewegung fordert auch Klimagerechtigkeit. Aber die globalen ökonomischen Verhältnisse haben wir zu sehr aus den Augen verloren. Der Kampf gegen Autoritarismus und Faschisierung hat zu Recht Priorität. Aber dabei sollten die sozioökonomischen Ursachen für Spaltung und Rechtsextremismus nicht ausgeblendet werden.

PS: Wir waren als globalisierungskritische, kapitalismushinterfragende Zivilgesellschaft nie in der Mehrheit. Aber auch Minderheiten können sich erfolgreich für mehr Gerechtigkeit einsetzen. Gerechtigkeit ist das Minimum an Recht, das wir dem anderen zugestehen, damit er leben kann. Für mich hängt der Umschlagpunkt besonders mit 9/11, also dem Anschlag auf das World Trade Center 2001 und seinen Folgen, zusammen. Alle sogenannten Krisen nach 9/11 – die Finanzkrise, die Flüchtlingskrise, die Klimakrise, die Corona-Krise – wurden vor allen Dingen im Kontext eines partikularen, nationalen und regionalen Sicherheitsinteresses betrachtet. Sicherheit wurde zu sehr als militärische Sicherheit verstanden. Dass Sicherheit mit Bildung, mit Beziehung, mit Vernetzung, mit Hungerverminderung zu tun hat, kommt in diesem Narrativ kaum vor. Ein rein militärisches Sicherheitsnarrativ ist für eine nachhaltige Welt unproduktiv.

RKI: Es ist wahrscheinlich schwierig, einen einzigen Punkt zu nennen, an dem die Diskursverschiebung begonnen hat. Hier in Kairo und mit Partner:innen bei medico diskutieren wir die Deradikalisierung infolge der NGOisierung. Dadurch sind Potenziale einer gemeinsamen Sprache, die vorhanden war, verloren gegangen. Ich meine damit radikale Vorstellungen von Befreiung und Emanzipation. Die Idee, dass mit der Unterstützung lokaler Akteur:innen ein globaler Wandel möglich ist, kommt an ihre Grenzen. Das zeigt, wie zentristisch ein Konzept ist, wenn man sich ausgehend von einer politischen Vorstellung, die im Norden erdacht wird, Akteure im Süden aussucht. Ich würde gleichzeitig davon abraten, sich in die Binarität von Scheitern und Gewinnen zu begeben. Politische Prozesse gehen weiter und sind komplizierter, viele Bewegungen sind nach wie vor bedeutsam. Akteur:innen aus der Klimabewegung versuchen sich zu vernetzen, der Kampf um die Dekolonialisierung ist ein globales Phänomen und auch feministische Bewegungen sind nach wie vor relevant. Es fehlt allerdings die Imaginationskraft. Wir sind in der Gegenwart gefangen.

Nicht globale Maßnahmen für kleine Verbesserungen stehen auf der Tagesordnung, sondern Rückschritte im Sieben-Meilen-Stiefel-Tempo. Stehen wir vor einer zwar umkämpften, aber dennoch absehbar düsteren Zukunft?

PS: Polarisierung, so sagte Hannah Arendt, ist ein Merkmal von Umbrüchen. Wenn das stimmt, befinden wir uns mitten im Umbruch. Eine wichtige Frage besteht darin, wie wir in diesem Umbruch handeln können. Mich ermutigt, wie entschlossen hier in Brasilien schwarze und indigene Bevölkerungen für eine andere Politik und einen anderen Umgang mit Natur eintreten, weil sie wissen, dass es so nicht weitergehen kann. Sie tun das in einer zutiefst gespaltenen brasilianischen Gesellschaft. Sie lassen sich davon nicht entmutigen und gehen um ihretwillen und der kommenden Generationen willen in den Widerstand. Gerade findet in London eine Gerichtsverhandlung zum Dammbruch von Mariana 2015 statt, eine der größten Unglücke in der Geschichte des Bergbaus in Brasilien, das eine ganze Region zerstört hat. Eine australisch-britisch-brasilianische Aktiengesellschaft ist angeklagt, für die Katastrophe verantwortlich zu sein. Auch indigene Völker treten vor Gericht auf und sprechen von einem Schaden in Milliardenhöhe, einem Schaden, der sich in Geld gar nicht messen lasse, weil er auch eine ganze Kultur der Region zerstört habe. Da werden Zusammenhänge deutlich, die man in den privilegierteren Ländern vor 30 Jahren noch getrost negieren konnte. Vielleicht ist es heute unsere Aufgabe, diese vielen Initiativen zu vernetzen und die Möglichkeit zu bieten, sich gegenseitig zu ermutigen.

Sicher hat sich sehr viel getan. Trotzdem: Die politischen Institutionen im globalen Norden sehen keinerlei Veranlassung, darauf einzugehen. Wir haben keine Ansprechpartner in der Politik mehr. Stattdessen treiben die Eliten in den Krieg. Was heißt das für uns als westliche Zivilgesellschaft?

BU: In meiner langen Tätigkeit habe ich nie eine Zeit ohne Krieg erlebt. Die Kriege waren nur weiter weg. Jetzt steigen wir auch hier in eine Art Kriegswirtschaft ein. Und es ist bitter festzustellen, dass uns keiner zuhört. Wenn Hunderttausende für Klimagerechtigkeit auf die Straße gehen, passiert nichts bis wenig. Klimaktivist:innen müssen gar fürchten, kriminalisiert zu werden. Wenn ein paar Hundert Landwirte demonstrieren, werden selbst die wenigen Schritte zu einer klimaschützenden Landwirtschaft zurückgenommen. Wir haben heute Machtverhältnisse, die emanzipatorisches Handeln sehr schwermachen. Repression und Gewalt sind für viele Aktivist:innen harte Realität in allen Regionen der Welt. Sie vor allem brauchen unsere Solidarität.

RKI: Die globalisierungskritische Bewegung hat damals den Irak-Krieg 2003 nicht verhindern können, obwohl es weltweit eine große Bewegung dagegen gab. Dieser Krieg war eine imperiale Notwendigkeit: Die USA haben mit ihm ihre imperiale Position gesichert. Was jetzt passiert, ist genau solch eine imperiale Notwendigkeit, weil man die Herausbildung einer multipolaren Weltordnung und den damit einhergehenden eigenen Herrschaftsverlust nicht hinnehmen will. Deshalb wird es für alle kritischen Kräfte, ob in Ägypten oder in Deutschland, unglaublich eng. Für den Traum von Europa, das ein gutes Leben für alle verspricht, braucht es jedenfalls die „Anderen“. Die aber werden gerade zur dehumanisierten, braunen Masse gemacht, innerhalb und außerhalb Europas. Was unter diesen Bedingungen, in denen Formen von Rassismus und Kolonialismus in einer unvorstellbaren Weise wieder aufleben, Widerstand und Emanzipation heißt, wird diesseits und jenseits der Color Line sehr unterschiedlich verstanden. Dafür Vernetzungen und gemeinsame Räume zu schaffen, sich darüber auszutauschen und neu zu verständigen, wird eine wichtige Aufgabe sein. Transformationen entstehen in den Brüchen, darauf kann man vertrauen.

PS: Als Theologe ist für mich die Gottesebenbildlichkeit wesentlicher Ausgangspunkt. Sie bedeutet, dass die menschliche Würde nicht verhandelbar ist. Sie hat Kooperation, universelle Verantwortung und die Option an der Seite der Armen zum Inhalt. Wenn die Menschenwürde und Menschenrechte mit Füßen getreten werden, kann ich die Forderung nach Menschenwürde und Menschenrecht nicht aufgeben. Der Ausgangspunkt unseres Widerstands ist die Aufrechterhaltung unserer Empathie, unseres Mitleidens mit den Leidenden. Für mich war unvorstellbar, dass – bei jedem Selbstverteidigungsrecht – eine Vergeltung der Regierung Israels mit einer solchen unerbittlichen Härte und Unversöhnlichkeit legitimiert werden kann, wie das heute der Fall ist. Leben unterschiedliche Wertigkeit beizumessen, können wir nicht hinnehmen.

Nun scheinen aber genau jene aktuell stattfindenden Umbrüche gerade die Fortschrittsperspektive zunichte zu machen. Führt der Umbruch in den Abgrund?

BU: Wenn Polarisierung ein Zeichen von Umbruch ist, dann wissen wir ja noch nicht, wohin dieser Umbruch führt. Es könnte ja auch auf lange Sicht ein Umbruch in den Aufbruch von Emanzipation werden. Aber natürlich führt die Polarisierung derzeit in eine große Brutalisierung, in eine Zeit, in der die Würde des Menschen nicht mehr universell gültig ist. Die Hierarchisierung der Wertigkeit von Leben vollzieht sich in all den multiplen Krisen auf dramatische Weise. Gaza ist dafür ein entsetzliches Beispiel; wie Geflüchtete nicht nur an unseren Grenzen behandelt werden, ein anderes. Tausende Opfer der Klimafolgen sind fast schon „normal“. Der Umbruch löst bei uns im Norden enorme Verlustängste aus. Die Rechtsextremen mobilisieren all diese Ängste. Das ist zum Fürchten. Politische Prozesse lassen sich zum Glück umkehren, ökologische Zerstörung ist aber vielerorts irreversibel. Jeder Mensch weiß um seine Würde. Das ist universell. Sie für alle wirklich werden zu lassen, ist mein Antrieb für politisches Handeln.

Damit ist die Frage nach dem Universalismus gestellt. Wie muss er neu buchstabiert werden, damit er als Richtschnur unseres Handelns noch gültig ist?

PS: Als Kant den kategorischen Imperativ formulierte, galten dessen Werte nur für eine kleine Gruppe von Menschen. Wenn die kulturellen und menschenrechtlichen Wurzeln indigener Völker zwar in der Staatsverfassung respektiert, aber in der Praxis mit Füßen getreten werden und ganz konkret Polizeieinheiten aufseiten des Agrobusiness stehen, dann gilt Recht nicht universell. Universalismus bedeutet, dass die Schwächsten zur Unterbrechung berechtigt sind. Wir können sie nur darin unterstützen. Wir müssen neue Bündnisse dafür schließen und sprachfähig werden. Für das, was heute an Unmenschlichkeit geschieht, dafür habe ich noch keine Sprache. Fast denke ich, ich bräuchte neue Worte. In Brasilien blickt die Zivilgesellschaft auf den Krieg im Nahen Osten in anderer Weise als in Europa und gebraucht eine andere Terminologie. Sie betrachten die Genese des Konfliktes historisch und kulturell anders, sie nehmen den Rachegedanken als Leitmotiv des gegenwärtigen Handelns wahr. Würden wir diesen brasilianischen Blick in Deutschland zu Wort kommen lassen, wären das konstruktive Unterbrechungen.

RKI: Der Tod der Sprache spielt auch in den Debatten in der arabischen Welt eine Rolle. Mit der Sprache, die wir bisher kannten, lässt sich vieles nicht mehr beschreiben. Dabei ist Arabisch eine sehr alte Sprache, die sehr viel Leid und viele Umwälzungen gesehen hat. Der arabische Dichter Mahmoud Ezzat hat letztens ein sehr schönes Gedicht geschrieben, darin steht die Zeile „Wie kann es sein, dass die Welt gerade nicht spricht?“. Die Welt ist stumm und wir sind stumm. Dazu gehört, dass auch in Ägypten die Solidarität mit Palästina kriminalisiert wird. Es braucht, wie Spivak gesagt hat, eine affirmative Sabotage des Universalismus. Es braucht das Beharren darauf, dass die Menschen gleich sind, dass sie Rechte haben. Oder wie James Baldwin sagt: „All children are ours, every bombed house is where I`ve grown up in.“ Das zu affirmieren und gleichzeitig zu fragen, welche Machtverhältnisse der Universalismus aufrechterhält, und dies zu sabotieren – daraus kann eine Art progressiver Humanismus entstehen.

BU: Solidarität ist für mich, wenn wir aufhören, die Kosten unserer privilegierten oder imperialen Lebensweise auszulagern, Menschen und Natur zu entwürdigen und auszubeuten. Dafür braucht es neben vielem anderen ein komplett anderes Agrar- und Ernährungssystem und gerechte Finanz- und Steuerpolitiken in allen Ländern der Welt. Solidarität heißt, zum Beispiel radikal die Emissionen bei uns zu reduzieren und die seit 2009 in Kopenhagen zugesagten 100 Milliarden Klimamittel zu liefern oder in den „Loss and Damage Fund“ einzuzahlen. In all den akuten Krisen braucht es auch Nothilfe, wohl mehr denn je. Wir brauchen aber vor allem Lebens- und Wirtschaftsmodelle, die diese Nothilfe überflüssig machen. Dafür brauchen wir neues Denken und anderes Handeln.

PS: Vermutlich wird einmal gefragt werden, wie es möglich war, dass die internationale Staatengemeinschaft akzeptiert hat, was im Nahen Osten, was im Sudan, was in Myanmar passiert. Oder auf Inseln, die jetzt in Papua Neuguinea nicht mehr bewohnbar sind, weil sie im Meer versinken. Wir wussten das alles und waren zu wenig aktiv, andere Interessen dominierten. Wir haben es zugelassen. Uns eint das Wissen, dass der Weg, der vor uns liegt, herausfordert, einen anderen Anfang zu wagen und das Alte nicht einfach fortzusetzen.

Das Gespräch führten Katja Maurer und Mario Neumann.

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 4/2024. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!


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