Griechenland

Würde bewahren

02.12.2021   Lesezeit: 4 min

Im Lager auf Lesbos bleiben 3.200 Geflüchtete fest gesetzt. Sie organisieren sich selbst.

Von Anita Starosta

Es war als Übergangslager gedacht. Das alte Militärgelände bei dem Küstendorf Kara Tepe (türkisch für „schwarzer Hügel“) liegt nur zehn Minuten von Lesbos‘ Hauptstadt Mytilini entfernt. Zwei Wochen nach dem Brand des berüchtigten Flüchtlingslagers Moria in der Nacht vom 8. auf den 9. September 2020 wurden Tausende Menschen hierher evakuiert. Das Versprechen der EU-Kommissarin Ylva Johansson „No more Morias“ ist damit jedoch nicht in Erfüllung gegangen. Im Gegenteil: Den Bewohner:innen des Lagers steht nun der zweite Winter in Kara Tepe bevor und die Lebensbedingungen sind schlecht. Davon können wir uns ein Jahr nach dem Brand von Moria bei einem Besuch auf Lesbos selbst ein Bild machen.

Zurzeit leben noch etwa 3.200 Menschen im Lager, die meisten stammen aus Afghanistan. Fast alle stecken in Asylverfahren fest und hoffen auf eine Anerkennung (oft haben sie schon mehrere Ablehnungen hinter sich), um die Insel endlich verlassen zu können. Im Lager sind wir mit Raed, Omid und Asif verabredet. Sie sind die Teamleiter der drei selbstorganisierten Geflüchteten-Initiativen Moria White Helmets, Moria Academia und Moria Corona Awareness Team, die von unserer griechischen Partnerorganisation Stand by me Lesvos unterstützt werden. Schon im alten Moria hatten sich Geflüchtete zusammengefunden und dort mangels Hilfe von außen Infrastruktur, Bildung und Corona-Prävention selbst organisiert. Im „neuen Moria“ stehen sie unter stärkerer Kontrolle von Polizei und Lagerverwaltung.

Die Zusammenarbeit funktioniert

Als wir bei der Werkstatt der White Helmets und des Awareness Teams ankommen, hat sich vor dem provisorischen Verschlag eine lange Schlange gebildet: Menschen mit Säcken voll leerer Plastikflaschen warten geduldig, bis Mitarbeiter:innen im Austausch Saftpakete verteilen. Aufgrund der Lebensmittelversorgung ist der Plastikmüll im Lager enorm, ein Entsorgungssystem gibt es nicht, erklärt uns Raed. Seitdem das Team im Tausch gegen leere Plastikflaschen Lebensmittel anbietet, ist es im Camp sauberer geworden. Die gesammelten Flaschen werden auf einem kleinen Laster zu einer Deponie gebracht, bis zu 15.000 Stück an einem Tag. „Wir leben hier, also kümmern wir uns auch um diesen Ort. Wenn Europa uns unserem Schicksal überlässt, dann nehmen wir es eben selber in die Hand. So erhalten wir wenigstens unsere Würde“, sagt Raed, während er uns die kleine Werkstatt zeigt. Eine Frau lässt gerade einen Kinderwagen reparieren, der oft auch als einfaches Transportmittel dient. „Es ist so viel Wissen unter uns vorhanden – egal, wo die Leute herkommen, die Zusammenarbeit funktioniert gut“, erklärt Raed.

Über hundert Geflüchtete helfen ehrenamtlich bei den Moria White Helmets und dem Corona Awareness Team mit. Durch ihre Aktivitäten sind sie inzwischen unentbehrlich geworden. Sie halten auch die offene Kanalisation im Lager sauber, damit sie nicht verstopft und überläuft. Und sie kümmern sich um die Elektrifizierung im Camp, sogar die Polizeistation haben sie mit Strom versorgt. Die Polizeistation? „Sie haben uns gefragt“, berichtet Raed. Denn vieles funktioniert hier im Lager nicht und niemand fühlt sich verantwortlich. Raed ist schon seit drei Jahren auf Lesbos, er kommt aus Syrien und hat bereits zwei Ablehnungen seines Asylantrags erhalten.

Eine Schule als „Freies Afghanistan“

Vorbei an Zelten und Containern („im Winter kalt, im Sommer viel zu heiß“), kommen wir auf die andere Seite des Lagers. Direkt am Wasser stehen zwei ausrangierte Busse, die zu einer selbstorganisierten Schule umfunktioniert wurden, der „Moria Academia“. Die Lehrer:innen der Academia – alle selbst Bewohner:innen des Lagers – zeigen uns ihre Lehrpläne: Informatik, Business-Englisch, aber auch Alphabetisierungskurse werden angeboten. Bevor uns Omid die beiden zu Klassenzimmern ausgebauten Busse zeigt, beschriftet er im „Innenhof“ grüne Pappschilder. „Free Panjshir“ schreiben er und sein Teamkollege Asif darauf und halten es in die Handykamera. Die Bilder posten sie später auf der Facebook-Seite der Moria Academia.

Wir kommen auf die Situation in Afghanistan zu sprechen. Omid berichtet uns von Freunden und Verwandten in Kandahar, die um ihr Leben fürchten. Asif erzählt von seiner Schwester, die für die alte Regierung in Kabul gearbeitet hatte und nun um ihr Leben fürchtet. Die Sorge um Freund:innen und Angehörige teilen alle hier. Und so ist die Moria Academia seit der Machtübernahme der Taliban zum Treffpunkt vieler Afghan:innen im Lager geworden. Hier sind Videos entstanden, in denen Frauen von ihren Erfahrungen unter Taliban berichten. Hier wurden Demonstrationen und Aktionen organisiert in Solidarität mit denen, die sich in Afghanistan gegen die Taliban stellten. Omid sagt es so: „Die Welt hat Afghanistan alleine gelassen. Dort können Frauen und Mädchen nun nicht mehr unterrichten und lernen. Hier können sie es. Unsere Academia in einem Flüchtlingslager auf Lesbos ist zu einem freien Afghanistan geworden.“

Wo Europa, die griechischen Behörden und ein unzureichendes Hilfssystem versagen, sind es die Geflüchteten selber, die an Europas Außengrenzen ihr Schicksal in die Hand nehmen. Mit medico-Unterstützung können die Geflüchteten die Moria Academia winterfest machen und das Bildungsangebot auch in den kalten Monaten aufrechterhalten.

Spendenstichwort: Flucht & Migration

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 4/2021. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!

Anita Starosta

Anita Starosta leitet die Öffentlichkeitsarbeit von medico international. Außerdem ist die Historikerin für die Kommunikation zur Türkei, zu Nordsyrien und dem Irak zuständig. 

Twitter: @StarostaAnita
Bluesky: @starosta


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