Besuch in der Ukraine

Zerrissenes Land

04.09.2024   Lesezeit: 16 min

Zwischen Selbstverteidigung und Kriegsmüdigkeit.

Von Riad Othman und Mario Neumann

In die Ukraine kommt man seit Februar 2022 nur noch auf dem Landweg. Also fahren wir Zug, von Budapest nach Mukatschewo. Von dort geht es mit dem Auto weiter nach Nyschnje Selyschtsche. Das Dorf liegt in Transkarpatien, einem der 24 Oblaste der Ukraine, über tausend Kilometer von der Front entfernt, nahe der Grenze zu Rumänien und Ungarn. Es gibt wohl im ganzen Land kaum einen Ort, der, zumindest oberflächlich besehen, mit den Kämpfen im Osten weniger zu tun hat. Transkarpatien gilt als sicherste Region des Landes.

In der malerischen Landschaft treffen wir die medico-Partner von Longo Maï. Sie betreiben hier, etwas abseits des Dorfes, seit den 1990er- Jahren einen ebenso malerischen Öko-Bauernhof, der Teil ihres internationalen Netzwerks von Stätten einer alternativen ländlichen Arbeits- und Lebensweise ist. Bei unserer Ankunft entsteht vor allem für diejenigen, die zum ersten Mal hier sind, der Eindruck, hier herrsche eher Bullerbü als Kriegsregime. Doch die ländliche Idylle wird schnell von der politischen Wirklichkeit eingeholt. Seit Beginn der „full scale invasion“, wie der Angriff Russlands im Februar 2022 von vielen Ukrainer:innen auf Englisch genannt wird – in Abgrenzung zu „Kriegsbeginn“, den sie mit Russlands Annexion der Krim 2014 verbinden –, ist Longo Maï gemeinsam mit anderen lokalen Akteuren in der Versorgung von Binnenvertriebenen aktiv.

In einer Unterkunft für Binnenvertriebene, die mitten im Dorf neben einer ebenfalls von Longo Maï mit aufgebauten Käserei und einem Restaurant liegt, treffen wir Familien aus Cherson, Charkiw oder Donezk, die hier untergebracht sind, manche schon länger, manche seit wenigen Monaten erst. Sie laden uns zu einer Hausversammlung bei Kaffee und selbst gebackenen Keksen ein und stellen sich reihum vor. Ihre Erfahrungen mit dem Krieg und der Flucht spiegeln sich nicht nur in ihren Worten, sondern auch in ihren schmerzverzerrten Gesichtern, wenn sie von konkreten Erlebnissen berichten.

Ein bisschen Frieden

Anna* und ihr Sohn Viktor* (Namen von der Redaktion geändert) haben Krieg, Besatzung und Flucht durchlebt. Anna hat nur wenige Zähne, lächelt aber über die Schicksalsschläge und Gewalt hinweg, von denen sie erzählt. Auf ihrem lila T-Shirt steht: „Keep Calm“. Die beiden sind aus einem ohnehin schwierigen Leben geflohen, in dem sie schließlich auch noch von russischen Truppen überfallen und vertrieben wurden, und haben hier offensichtlich einen Ort der Zuflucht gefunden. Anna stottert leicht und manchmal dauert es, bis sie die Worte ausgesprochen hat. Das gilt vor allem, wenn sie über Cherson und die Zeit des Krieges und der Besatzung spricht. Dann presst sie manches eher über die Lippen. „Wir hatten große Angst“, sagt sie nicht nur einmal und imitiert die Geräusche des Krieges, siedelt sie mit den Armen rund um ihren Körper an. Sie lebten sechs Monate unter Besatzung in Cherson und flohen schließlich, Anna, ihr jüngerer Sohn – und ihr Mann. Auf der Flucht trennte sie sich von ihm, der sie über Jahre hinweg geschlagen hat. Nach der Scheidung war sie mittellos; die Patentante ihres Sohnes, die weiterhin in Cherson lebt und mit ihr Kontakt hielt, habe für sie recherchiert und die Longo-Maï-Initiative auf Facebook gefunden. „Mein Sohn ist häufig krank, deswegen kann ich nicht arbeiten“, sagt sie. Das kleine Zimmer in der Unterkunft steht voller Medikamente. Auf dem Bett des Sohnes liegt ein Sponge Bob-Kissen, auf dem Tisch ein Buch: „1Q84“ von Haruki Murakami. Zwei Dinge, an denen man sich festhalten kann. Sie liest sehr gerne und „so viel wie möglich“.

Trotz des andauernden Krieges sehen nicht alle in Transkarpatien schwarz. Auch im Krieg sind neue Partnerschaften und Freundschaften entstanden. Das Longo-Maï-Kollektiv hat im Dorf auch ältere Häuschen und Wohnungen angemietet oder gekauft, um dort Kriegsflüchtlinge dauerhaft unterzubringen. Wer weiß, wann der Krieg endet und ob eine Rückkehr möglich sein wird.

Eine kleine Familie aus der ostukrainischen 21.000-Einwohner-Stadt Popasna, die 2022 sofort zum Kampfgebiet und von der russischen Armee eingenommen wurde, konnte sich in einem solchen Häuschen mit Garten niederlassen. Olha, die Krankenschwester ist, kümmert sich seit der Flucht um den erwachsenen Sohn Jaroslaw, der unter Schizophrenie leidet. Ihr Ehemann Valentin muss nach einem Arbeitsunfall bei der ukrainischen Eisenbahn vor einigen Jahren keinen Einberufungsbefehl der Armee fürchten. Er pendelt täglich mit dem werkseigenen Bus zur Arbeit in einer Schuhfabrik in Mukatschewo, der morgens die Arbeiterinnen (Valentin ist unter 300 Beschäftigten der einzige Mann) abholt und nachmittags wieder in die Dörfer des Umlands zurückfährt. „Die Babuschka von nebenan kommt fast täglich zu Besuch. Sie backt manchmal und bringt uns etwas oder schenkt uns Eier“, sagt Olha. Eine Rückkehr nach Popasna schließen sie aus. Es sei nicht nur stark zerstört worden, es sei auch zu befürchten, dass Rückkehrer:innen dort nach einem wie auch immer gearteten Friedensschluss von prorussischer oder proukrainischer Seite als Verräter:innen betrachtet werden.

Also wollen Olha und Valentin mit Jaroslaw in dem transkarpatischen Dorf Fuß fassen, sich eine neue Existenz aufbauen. Diese Art der Tapferkeit begegnet einem in der Ukraine oft. Sie hat nichts mit dem Heldenmut der Armeeplakate zu tun. Das ganze Leid geht dennoch an niemandem spurlos vorbei, auch nicht an denen, die helfen. Es ist gut, dass sie in dem kleinen Dorf endlich eine Psychologin gefunden haben, die aus dem rund 120 Kilometer entfernten Ushgorod einmal die Woche die Reise nach Nyschnje Selyschtsche auf sich nimmt. Sie kann nicht ändern, was geschehen ist, aber sie kann helfen, einen Umgang damit zu finden.

Normaler Kriegsalltag

Auf der Fahrt nach Kiew in einem Zug mit den geräumigen Schlafwagen sowjetischer Bauart kommen wir dem Kriegsgeschehen räumlich näher. Bei einem Zwischenstopp über Nacht in Lwiw hören wir zum ersten Mal den Luftalarm. Am nächsten Tag in Kiew ändert sich unser Bild jedoch. Vielerorts herrscht fast normale, in kapitalistischen Hochglanz getauchte Betriebsamkeit, die den Krieg hier ferner erscheinen lässt als in Transkarpatien, wo er durch die Binnenvertriebenen eine eigentümliche Wirklichkeit und Nähe besaß. Im ältesten Stadtteil Podil flanieren in der Abendsonne zahlreiche Pärchen die Petra Sahaidatschnoho-Straße entlang. In Blau-Gelb ist hier niemand gehüllt, weiße und pastellfarbene Töne dominieren das Straßenbild mit den vielen Restaurants, Eisdielen und hippen Bars. Man könnte ebenso gut in Frankfurt oder München sein. Wie fragil diese oberflächliche Normalität des Krieges ist, zeigt sich nicht nur wenige Wochen nach unserem Besuch, als bei intensivierten russischen Angriffen ein Kinderkrankenhaus in Kiew getroffen wird.

An den Krieg erinnern während unseres Besuchs nicht nur die regelmäßigen, weitestgehend ignorierten Luftalarme, sondern auch Großplakate der Armee. Auf einem wirbt ein Bataillon mit einer garantierten Ausbildungsdauer von 60 Tagen vor dem Fronteinsatz. Eine Reaktion darauf, dass zu Beginn des Krieges viele nicht einmal eine Grundausbildung erhielten und daher schneller an der Front starben. Doch es wird nicht nur geworben, es wird auch eingezogen.

Während es in den ersten Kriegsmonaten einen Ansturm von Freiwilligen auf die Armee gab, musste die Regierung im Mai 2024 ein neues Gesetz verabschieden, das den Personenkreis der Wehrpflichtigen erweitert und deren Mobilisierung durch einen neuen Registrierungsprozess erleichtert. Seitdem geht die Angst um. Das Militär bat den Präsidenten bereits Ende 2023 um die Rekrutierung von 500.000 neuen Soldat:innen. Die Regierung will nun Hunderttausende einziehen, um die völlig zermürbten und ermüdeten Einheiten an der Front zu entlasten oder zu verstärken. „Die militärischen Verluste der Ukraine sind eines der bestgehüteten Geheimnisse im Krieg“, hieß es im Mai bei ZDFheute. In der Tat: Glaubwürdige offizielle Zahlen zu militärischen Verlusten gibt es nicht, im Gegensatz zu den ziemlich genauen Zahlen über zivile Todesopfer in der Ukraine, die beispielsweise das Hochkommissariat für Menschenrechte der UN (OHCHR) bis zum 31. Juli 2024 auf mindestens 11.520 beziffert. Die Frage, ob die von Präsident Selenskyj im Februar genannten 31.000 toten Soldat:innen realistisch sei, löst jedenfalls meist Kopfschütteln oder sogar Gelächter aus.

Die Zahlen sind natürlich ein Politikum sondergleichen. Russland spricht von zehnmal so vielen getöteten ukrainischen Soldat:innen, während Großbritannien von einer halben Million Getöteter oder Verwundeter bei den russischen Streitkräften spricht. Unabhängige Zahlen, die meist auf Schätzungen und unterschiedlichen Hochrechnungen beruhen, geben auch keine genaue Auskunft, skizzieren aber zumindest eine recht eindeutige Dimension: Es dürften mittlerweile weit über 100.000 ukrainische Soldat:innen gefallen sein. Die russischen Verluste, Söldner eingeschlossen, liegen wohl noch einmal deutlich darüber. Dass manche da eine Analogie zu Verdun und dem Irrsinn jener ergebnislosen Materialschlacht mit Hunderttausenden Toten sehen, ist nicht ganz abwegig.

Mobilisierung unter Zweifeln

Mittlerweile hat jede:r Angehörige und Freunde an der Front, alle wissen vom Massensterben und hören grausame Geschichten. Familien und Freundeskreise sind zerrissen an den Fragen, die sich mit den Schicksalen der Soldat:innen verbinden. Kein Wunder, dass zwar fast alle der Unumgänglichkeit der Landesverteidigung zustimmen, aber immer weniger dafür einen Preis zahlen wollen. In der Hauptstadt sieht man noch viele junge Männer auf den Straßen oder in den Fitnessstudios. In Transkarpatien hingegen prägten Frauen das Straßenbild. Dort sprachen wir mit Sergej, der seine Wohnung nur noch selten verlässt. Er fürchtet die mobilen Kontrollen der Armee. Wie viele andere informiert er sich in Whats-App-Gruppen, die vor ihnen warnen, und schlägt sich dann regelmäßig in den Wald. In Kiew scheint das noch anders zu sein. Aber dennoch sind am Abend deutlich weniger Männer unterwegs, wohl nicht nur wegen der nächtlichen Ausgangssperre. Wann „Kiew dran ist“, ist in den Augen vieler nur eine Frage der Zeit.

Das neue Mobilisierungsgesetz sei auf Druck der USA zustande gekommen, heißt es. Man habe die weitere in Aussicht gestellte militärische Unterstützung an neue Rekrutierungen geknüpft. US-Senator Lindsey Graham hatte im März dieses Jahres bei einem Besuch in Kiew auch öffentlichen Druck auf die Regierung ausgeübt und die Absenkung des Wehreintrittsalters gefordert. Auch hinter den Kulissen scheint man sehr gut zu wissen, dass es nicht nur ein Materialproblem gibt. Der Waffenlieferungsdiskurs lenkt medial davon ab, dass es kaum jemanden gibt, der sie bedienen möchte. Zwangsweise rekrutiert wird schon länger. Die Arbeiter waren die Ersten, die nach der Zeit der Freiwilligkeit eingezogen wurden. Denn sie müssen physisch am Arbeitsplatz erscheinen und sind daher leicht anzutreffen und einzuziehen, selbst wenn sie ihren Wohnsitz meiden. Die Rolle der Arbeitgeber:innen war dabei ambivalent, versuchten doch viele von ihnen gerade betriebsrelevante Arbeiter zu behalten. Einige organisierten bei Prüfungen sogar Verstecke, brachten die Leute weg oder warnten sie rechtzeitig. Widersprüche des Krieges, zwischen Landesverteidigung und Unternehmensinteressen.

Gerade im Osten mussten außerdem viele Betriebe schließen. Die Zerstörungen durch die russischen Angriffe setzen Arbeiter frei, die dann nicht selten aus finanziellen Gründen zur Armee gehen. Diese je nach Region und sozialer Zugehörigkeit unterschiedliche Gefahr, an die Front zu müssen, hat Spaltungen in der Ukraine verschärft, die nach der anfänglichen Einheit in der kollektiven Landesverteidigung jetzt mit Wucht zurückkommen und sich vertiefen. Unter der Oberfläche ist das Land gespalten; nicht weil es Uneinigkeit in der Frage der Selbstverteidigung gäbe, sondern darüber, wer welchen Preis für sie zu zahlen bereit ist oder bezahlen muss. Bezahlen kann man auch, wenn man sich dem entziehen möchte. Manche behaupten, man bekomme für Geld alles, sogar die Befreiung vom Wehrdienst, andere bestreiten das. Eine Ausreise aber kann man zweifellos kaufen. Und noch bietet diese Ausreise, die zumindest für Männer zur Flucht geworden ist, einen begrenzten Schutz vor dem Einsatz an der Front.

Nicht ganz so eindeutige Fronten

Auch wenn man es auf den ersten Blick nicht merkt, ist Kiew vom Krieg im Osten, der immer wieder auch die Hauptstadt heimsucht, gezeichnet. Und nicht nur das: Auch die ambitionierte Westwerdung hinterlässt hier ihre Spuren. Das, was hierzulande oftmals als die Ukraine porträtiert wird, steht unter ziemlich sichtbarem westlichem Einfluss.

Ruslan Bortnik, ein erfolgreicher politischer Unternehmensberater und Intellektueller, kennt sich damit aus. Wir treffen ihn in einem Hinterhofrestaurant in Kiew. Neben Forbes-Top-100-Unternehmen zählen auch Firmen aus postsowjetischen Ländern zu seinen Kunden. Er berät sie in politischen Fragen, vorwiegend in solchen der Sicherheit, und hat einflussreiche Kontakte, mit deren Hilfe man im Land kleine und große Unternehmungen anschieben kann. Die schlechte ökonomische Lage der Ukraine sei „ein Vorhang“, sagt er. Ein Vorhang, den die Regierung ausgerollt habe, um in der Situation des Krieges möglichst viel Hilfe abzuschöpfen. Dahinter verberge sich ein differenzierteres Bild. Es gebe „zwei Ströme: rein und raus“. Einige Unternehmen flöhen vor dem Krieg, andere begriffen ihn als Chance. Bortnik schätzt, dass das BIP derzeit nur etwa die Hälfte der Kaufkraft abbilde, die andere Hälfte sei nicht dokumentiert. Die Armut nehme zu, vor allem im Osten. In Kiew, aber auch andernorts, könne man hingegen beobachten, dass die Situation ambivalenter sei. 2023 seien beispielsweise mehr neue Autos gekauft worden als vor dem Krieg. Teile der Gesellschaft seien „grant eater“ der westlichen Gelder, die durch verschiedene Kanäle ins Land kämen und in ebenso vielen wieder verschwänden.

„Die Ukraine ist ein Kind des Westens“ erklärt er, mit Betonung auf Kind. „Die westlichen Partner sind hier verantwortlich für alles“, ergänzt er, einfach so und ohne jeden Groll. In den letzten Jahren hätten der Präsident und sein Umfeld wesentliche gesellschaftliche Bereiche monopolisiert und sie gemeinsam mit „den westlichen Partnern“ verwaltet. Der Staat als größter „grant eater“ habe so das ökonomische Geschehen monopolisiert und gleichzeitig kapitalisiert. Das Bankensystem und der militärisch-industrielle Komplex beispielsweise seien heute rund um den Staat organisiert und im Besitz der Regierung. Außerdem kontrolliere und besitze der Staat die Massenmedien. Das Machtzentrum bestehe aus dem Präsidenten, seinem kleinen Umfeld und den westlichen Partnern. Selenskyj treffe alle wesentlichen Entscheidungen in Abstimmung mit ihnen, das Parlament habe geringe Macht, das Kabinett fast keine, lokale Politiker:innen und Institutionen nur wenig Einfluss. Wesentliche Akteure seien die USA, ihr Einfluss konzentriere sich vor allem auf Investitionen, das Militär und das „politische Dach“ einer zukünftigen Ukraine. Großbritannien spiele in militärischen Fragen eine gewisse Rolle, die EU sei finanzieller Player und ein Beitritt der Ukraine Entwicklungsziel, aber gleichzeitig geschwächt durch Uneinigkeit und Polyphonie. Die Oligarchen seien natürlich noch da, „jeder ukrainische Präsident hat eine neue Generation von Oligarchen mitgebracht“, aber ihre politische Macht sei geschwächt und im Wandel begriffen.

Der kleine Ritt Ruslans durch die Machtarchitektur der Ukraine und ihrer Verbündeten weicht deutlich ab von der einseitigen Geschichte einer selbstlosen militärischen Unterstützung gegen die imperiale Aggression Russlands, die hierzulande erzählt wird. Im Windschatten des militärischen Einmarschs der russischen Armee kann sich diese politisch-ökonomische Übernahme des Landes durch westliche Akteure offenbar gut als Solidarität tarnen.

Westen oder Osten?

Zu guter Letzt treffen wir in der weiteren Peripherie Kiews, etwas klandestiner als bei den bisherigen Begegnungen, einen alten Antifaschisten, der aus guten Gründen anonym bleiben muss. Nach 2022 kritisierte er die damals begonnene Ent-Demokratisierung in der Ukraine und war staatlicher wie rechtsradikaler Einschüchterung ausgesetzt. In dem kleinen Park neben dem Café, in dem unser Gespräch stattfindet, stehen die Reste eines sowjetischen Denkmals der russisch-ukrainischen Freundschaft, das niedergerissen und mit den Namen von Russland überfallener Orte besprüht wurde: Mariupol, Butscha, Charkiw.

Es sei nicht der Sieg von Ost oder West, der in der Ukraine eine soziale Demokratie hätte möglich machen können, sondern der Zwischenraum, der durch die relativ ausbalancierten Machtverhältnisse zeitweise entstanden sei und der plurinationalen Gesellschaft und Kultur entsprochen habe. Eine Mehrheit der Ukrainer:innen habe bei der Wahl 2019 gegen Poroschenkos Wahlkampf rund um „Armee, Sprache, Kirche“ das geopolitisch eher salomonische Programm Selenskyjs gewählt, das auf Ausgleich und Übergang ausgelegt war, betont unser Gesprächspartner mehrfach. Die Menschen hätten keine geopolitische Vereindeutigung, keine „Entscheidung“ für Ost oder West gewollt. Doch zeitgleich hätten seit dem Euro-Maidan die westlichen Interventionen auf ultimative Kontrolle des Landes gesetzt und die demokratischen Impulse geopolitisch und profitgetrieben gewendet. Kleine, aber wichtige Akteure seien dabei die Neonazis und ihr aggressiver Nationalismus gewesen. Statt die plurinationale und multikulturelle Demokratisierung des Landes zu fördern, habe der Westen über die ukrainischen Nationalist:innen Einfluss gewinnen wollen. Die Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine beruhe jedoch auf den zwei Enden in Ost und West und nicht in der einseitigen Wendung in eine Himmelsrichtung, weder vor noch im Krieg.

Das erinnert an Zwischentöne, die bereits im ersten Kriegsjahr vereinzelt zu vernehmen waren. Sie lehnten es ab, die Konflikte in der Ukraine allein auf die völkerrechtswidrige Annexion der Krim, die Besetzung von Teilen der Oblaste Luhansk und Donezk oder den verbrecherischen Angriff Russlands im Februar 2022 zurückzuführen. Die Vereindeutigung und Verengung auf eine monolithische nationale Identität wird die Ukraine nicht reicher machen – auch wenn es für diesen Blickwinkel keinen Raum geben mag, solange das Land im Kriegs- und Ausnahmezustand ist. Krieg ohne Ende „Kyiv ist waiting for you after the victory“ heißt es auf Werbetafeln im Stadtzentrum, die Siegesgewissheit vermitteln sollen – so wie die erbeuteten russischen Panzer, die vor dem Außenministerium stehen. Von der teils euphorischen Stimmung der ersten Monate, der Einigkeit in der kollektiven Landesverteidigung, ist jedoch nicht mehr viel zu spüren. Die anfängliche Hoffnung auf ein durch westliche Militärhilfe ermöglichtes, schnelles Ende des Krieges ist einer Ernüchterung gewichen, die zwar oft noch vom „Sieg“ spricht, aber kaum noch an ihn zu glauben scheint. Darüber kann auch der jüngste Vormarsch der Ukraine auf russisches Gebiet nicht hinwegtäuschen.

An einer Überführung des kriegerischen Konflikts in einen politischen Rahmen, um vielleicht nicht den Konflikt zu lösen, aber zumindest das Massensterben an der Front zu beenden – daran hat offenkundig keine der kriegführenden Parteien derzeit ein Interesse, auch nicht der Westen. Solange das so bleibt, hat die inflationär ins Feld geführte „Solidarität mit der Ukraine“ vor allem ein Ergebnis: dass die Ukrainer:innen weiterhin in einem Stellungskrieg leben und sterben.

Nothilfe und mehr: Die Arbeit der medico-Partner:innen

Die Lasten des Krieges werden vor allem von der Zivilgesellschaft getragen, von vielen kleinen Initiativen, Organisationen und Freiwilligen. Seit Kriegsbeginn organisieren sie unermüdlich Evakuierungen, die Versorgung mit dem Nötigsten, medizinische Hilfe, psychosoziale Unterstützung, den Aufbau von Zufluchtsorten und die Unterbringung von Vertriebenen. Hilfe von unten. Eben diese leisten auch die medico-Partnerorganisationen wie Mirnoe Nebo Kharkova oder Longo Maï in verschiedenen Teilen der Ukraine.

Während sie von der viel beschworenen Solidarität mit der Ukraine oft kaum noch etwas spüren, arbeiten sie trotz Erschöpfung weiter – im Wissen, dass ein baldiges Kriegsende immer unwahrscheinlicher wird und damit auch die Bedarfe nach Hilfe weiterwachsen. In diesem Zwiespalt organisieren sie nicht nur akute Nothilfe, sondern versuchen zugleich, mittel- und langfristige Perspektiven für die Vertriebenen aus der Ostukraine zu entwickeln, sich für einen solidarischen Wiederaufbau zu engagieren und gegen den Abbau von Sozialpolitiken unter Kriegsrecht zu wehren. medico unterstützt sie dabei.

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 3/2024. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!

Riad Othman

Riad Othman arbeitet seit 2016 als Nahostreferent für medico international von Berlin aus. Davor war er medico-Büroleiter für Israel und Palästina.

Twitter: @othman_riad

Mario Neumann

Mario Neumann ist verantwortlicher Redakteur des medico-Rundschreibens und vertritt medico im politischen Berlin.

Twitter: @neumann_aktuell


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