Seit Sonntag schweigen die Waffen in Gaza. Ein Waffenstillstand bedeutet für die Menschen in Gaza und Israel vor allem eines: Aufatmen und Hoffen. Hoffen auf die Rückkehr der Geiseln und Gefangenen. Hoffen auf ein Ende tagtäglicher Angst vor den Bomben der israelischen Armee, das Ende des Tötens und Aushungerns. Das renommierte medizinische Fachjournal The Lancet geht mittlerweile von etwa 70.000 Toten in Gaza allein durch direkten Beschuss aus – ohne indirekte Todesfälle etwa infolge von Mangelernährung oder Krankheiten. Zwar wurde der Ausbruch einer Polioepidemie gestoppt, doch das gilt nicht für andere übertragbare Krankheiten, insbesondere Haut- und Atemwegsinfektionen sowie akute Durchfallerkrankungen.
Auch weiterhin werden jeden Tag Menschen in Gaza an den Folgen des Krieges sterben. Besonders gefährdet sind die aktuell mehr als 25.000 verwundeten und schwerkranken Patient:innen, die angesichts des weitestgehend zerstörten Gesundheitssystems keine Möglichkeit haben, versorgt zu werden oder dringend evakuiert werden müssen. Gefährdet sind zudem alle 1,9 Millionen Menschen in Gaza, die mehrfach vertrieben wurden und die bei kalten Temperaturen, gravierendem Mangel an Grundnahrungsmitteln und fehlender sanitärer Versorgung weiterhin ums Überleben kämpfen. Die meisten von ihnen werden auf unabsehbare Zeit nicht wieder in ihre zerstörten Häuser und Wohnungen zurückkehren können.
Bleibende Beeinträchtigungen
Die Weltgesundheitsorganisation WHO schätzt, dass jede:r vierte Verletzte bleibende Beeinträchtigungen erlitten hat und Rehabilitationsleistungen benötigen wird, einschließlich der Versorgung von Amputationen und Rückenmarksverletzungen. Laut Unicef benötigen eine Million Kinder und Jugendliche psychosoziale Unterstützung aufgrund von Traumata. Durch monatelange Mangel- und Unterernährung sind die geistigen und körperlichen Entwicklungschancen vieler Kinder erheblich eingeschränkt. Viele von ihnen werden ihr Leben lang davon gezeichnet sein.
Mehrfach in den vergangenen 15 Monaten des Krieges haben die Vereinten Nationen vor dem Kollaps des Gesundheitssystems in Gaza gewarnt. So zuletzt auch das UN-Menschenrechtsbüro OHCHR: Die tödlichen Angriffe auf und in der Nähe von Krankenhäusern hätten das Gesundheitssystem an den Rand des völligen Zusammenbruchs gebracht mit katastrophalen Auswirkungen auf den Zugang der Palästinenser:innen zu medizinischer Versorgung. Die laut WHO verbliebenen 1800 Krankenhausbetten können dem Bedarf an stationärer Versorgung in keiner Weise gerecht werden. Von den ehemals 36 Krankenhäusern sind 20 zerstört.
Im Dezember stürmte die Israelische Armee das letzte funktionierende Krankenhaus in Nord-Gaza, Kamal Adwan, und entführte den Kinderarzt und Leiter des Krankenhauses Dr. Husam Abu Safiya. Er ist einer von zurzeit 300 Gesundheitsarbeiter:innen, die durch die israelische Armee festgenommen und teilweise an unbekannte Orte verschleppt worden sind. Hinzu kommt die unfassbare Zahl von mehr als 1000 getöteten Ärzt:innen, Sanitäter:innen und Pfleger:innen – es ist seit Ende des Zweiten Weltkrieges die höchste erfasste Zahl an getötetem medizinischem Personal in einem einzigen Konflikt.
Angesichts der täglich etwa 200 Geburten ist der Umstand besonders dramatisch, dass es im gesamten Gazastreifen keine:n einzige:n Neugeborenenmediziner:in mehr gibt. Selbst wenn die medizinische Infrastruktur in den kommenden Monaten und Jahren wiederaufgebaut werden sollte – das getötete Fachpersonal kann nicht ohne weiteres ersetzt werden.
Auch die Einrichtungen der medico-Partnerorganisation Palestinian Medical Relief Society, wie deren Zentrum für nicht-übertragbare Krankheiten, das in Gaza einzigartige Diagnoseverfahren bot, sind weitestgehend zerstört, und die meisten der über 160 Mitarbeiter:innen wurden durch die Angriffe der israelischen Armee vertrieben.
Keine rein humanitäre Frage
Klar ist, es geht nach dem Waffenstillstand um die unmittelbare Versorgung der Bevölkerung in Gaza mit dem Nötigsten: Nahrungsmittel, Trinkwasser, Treibstoff, Medikamente und medizinische Ausrüstung. Die Lieferungen dürfen nicht wie in den vergangenen Monaten vom Wohlwollen der Israelis abhängen. Israel hat als Besatzungsmacht nach der Genfer Konvention die Verantwortung für die Gesundheitsversorgung der Zivilist:innen in Gaza. Es bedarf deshalb einer Aufhebung jeglicher Restriktionen für den Wiederaufbau aller Gesundheitseinrichtungen sowie der sanitären Versorgung im Gazastreifen. Diesen von der Machtfrage in Gaza abhängig zu machen, wie von der CDU gefordert, würde zu einer immensen Zahl vermeidbarer Toten führen.
Gleichzeitig darf die Gesundheit der Menschen in Gaza keine humanitäre Frage bleiben. Ohne die Verwirklichung des Rechts auf Selbstbestimmung wird das Recht auf Gesundheit für Palästinenser:innen keine Realität. Dazu gehört ein Gesundheitssektor, der unabhängig von einer Hilfe arbeiten kann, die wiederum abhängig von israelischen Genehmigungen ist. Denn Israel hat mit der Kontrolle über (medizinische) Hilfslieferungen und über Ein- und Ausreisegenehmigungen für medizinisches Personal und Patient:innen direkten Einfluss auf die Gesundheit der Menschen in Gaza. Dazu gehört die sofortige Freilassung inhaftierter Ärzt:innen und Pfleger:innen sowie die strafrechtliche Aufarbeitung der Verschleppungen, Misshandlungen und Folter von Palästinenser:innen in israelischen Haftlagern, denen unter anderem Gesundheitspersonal ausgesetzt war und ist. Und dazu gehört auch die konsequente Strafverfolgung hinsichtlich der als Kriegsverbrechen geltenden Angriffe gegen Gesundheitseinrichtungen und -arbeiter:innen. Der Kreislauf von Wiederaufbau und Zerstörung darf nicht in die nächste Runde gehen.
Hilfe ist unter den Bedingungen des Krieges in Gaza kaum noch möglich. Die Helfer:innen der medico-Partnerorganisationen sind selbst von Vertreibungen betroffen, haben Verwandte oder Freundinnen und Freunde verloren, viele auch ihr Zuhause. Sie machen weiter. Trotz allem. Wo Hilfsmaßnahmen noch möglich sind, koordinieren sie diese. Dabei geht es um alles, was gerade noch möglich ist: medizinische Hilfe, Essensverteilungen und psychosoziale Unterstützung, Hilfe für Vertriebene und die Errichtung von Notunterkünften.