Krieg und Gesundheit

Polioviren in Gaza

25.07.2024   Lesezeit: 3 min

Nachgefragt bei Dr. Andreas Wulf.

Die Ausrottung des Poliovirus, der Kinderlähmung verursacht, ist seit 1988 ein wichtiges Ziel der Weltgesundheitsorganisation. Der Kampf gegen das Virus war auch deshalb so erfolgreich, weil der Entdecker des Impfstoffs ihn nicht patentieren ließ und die Impfung deshalb sehr kostengünstig ist. Inmitten des Kriegsgeschehens in Gaza wurde das Poliovirus nun im Abwasser nachgewiesen. Es greift das Rückenmark an und kann bei Kindern irreversible Lähmungen verursachen. Dr. Andreas Wulf, medico-Gesundheitsreferent, zu den Ursachen und zur Frage, was nun getan werden müsste.

medico: Kinderlähmung gilt weltweit als fast vollständig eingedämmt. Wie kann es sein, dass das hochansteckende Virus nun in Abwasserproben in Gaza nachgewiesen wurde?

Andreas Wulf: Der Kampf gegen die Kinderlähmung ist leider immer noch nicht vollständig gewonnen. Es gibt immer wieder lokale Ausbrüche und Übertragungen in Krisengebieten, wenn die Wasser- und Sanitärversorgung sich verschlechtert und wenn die Impfprogramme unterbrochen sind. So tauchten Fälle von Polio-Infektionen 2017 in Syrien auf. Dieser regionale Ausbruch konnte durch ein intensiviertes Impfprogramm glücklicherweise eingedämmt werden.

Bislang wurden in Gaza Polioviren in untersuchten Abwasserproben nachgewiesen, aber noch keine Infektionen bei Menschen. Zu befürchten ist aber, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis auch bei Kindern die Infektionen auftreten.

Die israelische Armee hat damit begonnen, ihre Soldat:innen zu impfen. Sind solche Maßnahmen auch für die Bevölkerung in Gaza vorgesehen?

Die Routine-Impfprogramme im Gazastreifen, die vom palästinensischen Gesundheitssystem und der UNRWA durchgeführt werden, sind seit den massiven Angriffen der israelischen Armee im Oktober 2023 massiv eingeschränkt worden. Das liegt vor allem an Lieferengpässen, Zerstörungen durch Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen und hunderten getöteten Gesundheitsarbeiter:innen. Auch durch die ständigen, erzwungenen Fluchtbewegungen der Bewohner:innen im Gazastreifen tragen dazu bei. Die internationalen Hilfsorganisationen, auch die von der WHO koordinierten Notfallteams, sind durch diese Angriffe ebenfalls oft nicht in der Lage zu arbeiten – trotz der Versuche, ihre Arbeit mit der israelischen Armee zu koordinieren.

Welche Sofortmaßnahmen müssten ergriffen werden, um die Menschen in Gaza vor den Viren zu schützen?

Die Polioviren werden vor allem über menschliche Ausscheidungen und mangelhafte sanitäre Einrichtungen und Wasserversorgung übertragen. Um Infektionen zu vermeiden ist deshalb eine Verbesserung dieser Infrastruktur absolut notwendig. Aktuelle Berichte sprechen davon, dass die Menschen im Gazastreifen nur noch zwei Liter Wasser pro Person und Tag zur Verfügung haben, die WHO sieht 7,5  Liter als Minimum an. Notfall-Impfkampagnen könnten ebenfalls vor allem Kinder schützen, die in den letzten Monaten nur unzureichend geimpft werden konnten.

Das Recht eines jeden Menschen auf körperliche und geistige Gesundheit ist im Uno-Sozialpakt festgeschrieben. Welche politischen Folgen hat die Verletzung dieses Rechts über den Gazastreifen hinaus?

Grundsätzlich gilt nach den Genfer Konventionen die Verantwortung der Besatzungsmacht unter anderen für die Gesundheitsversorgung der Zivilist:innen in besetzten Gebieten. Die Forderung nach einer umfassenden humanitären Hilfe im aktuellen Konflikt wurde schon in den ersten Wochen der Eskalation erhoben. Die fortdauernde Verletzung dieser Rechte der Bevölkerung durch die Blockade vieler Lieferungen durch die israelische Seite verletzt nicht nur die Rechte der Menschen vor Ort, sondern stellt auch die Universalität und Durchsetzbarkeit dieser internationalen Abkommen massiv in Frage.

Die Krise der multilateralen UN-Institutionen, allen voran des Sicherheitsrates und des Internationalen Gerichtshofes, die ihre Forderungen nach einem Waffenstillstand und humanitärer Hilfe nicht durchsetzen können, hat auch negative Auswirkungen auf andere laufende Konflikte mit massiven Völkerrechtsverletzungen, wie den Ukraine-Russland-Krieg oder den Konflikt im Sudan.  

Das Interview führte Anne Jung.

Die Palestinian Medical Relief Society, mit der medico seit Jahrzehnten zusammenarbeitet, versorgt im gesamten Gazastreifen an mehr als 50 Orten Binnenvertriebene medizinisch und hilft bei der Evakuierung und Erstversorgung Verletzter. Die Helfer:innen versuchen auch, den Ausbruch von Infektionskrankheiten unter den Hunderttausenden Menschen einzudämmen, die auf engstem Raum ausharren. Mittlerweile ist es trotz der weitreichenden israelischen Abriegelung gelungen, medizinische Hilfsgüter über Ägypten nach Gaza zu bringen, um die Arbeit unserer Partner:innen weiter zu ermöglichen.


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