Die Heuchelei ist die Pest der Gegenwart. Und es scheint kein Kraut gegen sie gewachsen. Mit weihevollen Worten predigt der reiche Norden dem armen Süden die Überlegenheit demokratischer Werte und fördert doch nur oft genug autoritäre Regime und Korruption. Auch das Klagen über den unheilvollen Zustand des Planeten, die Sorge um die Ärmsten der Armen und die wohlklingende Menschenrechtsrhetorik sind nichts wert, wenn es um die Sicherung des eigenen Vorteils geht.
Die Bilanz ist trostlos. Ganze Arbeit hat der Marktradikalismus des "Washington Consensus" geleistet. Begleitet vom Bemühen um Armutsbekämpfung sind die Reichen reicher und die Armen ärmer geworden. Die Deregulierung des Politischen, dessen Hohelied die internationale Politik in den letzten Jahrzehnten gesungen hat und dem auch wir allwöchentlich bei "Sabine Christiansen" lauschen durften, hat die Welt an den Abgrund getrieben. Doch selbst die Empörung über das Elend, das nun heute in der Welt herrscht, ist nicht vor Heuchelei geschützt. Längst haben findige Geschäftsleute und Showstars auch die Entrüstung zu einer einträglichen Masche gewendet. Kein Gala-Dinner, bei dem nicht zwischen Hummerschwänzen und Seeteufel für Afrika, die Umwelt oder die Kinder gesammelt würde. Wohltätige Mäzene, die sich gegen HIV/AIDS engagieren, aber am Gewinn jener Firmen beteiligt sind, die eben dafür sorgen, dass AIDS-Patienten vom Zugang zu erschwinglichen Arzneimitteln ausgeschlossen bleiben. Selbstgefällige Schlagersänger, die schon zufrieden sind, wenn sie sich mit den Mächtigen der Welt zum Gruppenfoto versammeln dürfen. Kritik ohne jeden kritischen Stachel.
Joseph Stiglitz, der ehemalige Chef-Volkswirt der Weltbank, dagegen weiß, wovon er spricht. Nicht allein mehr Hilfe ist nötig, sondern die strukturelle Änderung der ungerechten Welthandelsbeziehungen: "Die Mindereinnahmen, die die reichen Länder den armen Ländern durch Handelshemmnisse bescheren, sind dreimal höher als die gesamte Entwicklungshilfe, die sie leisten." Systematisch fließe Geld von unten nach oben. Der vielleicht noch größere Skandal aber sei, dass ausgerechnet in dem Moment, wo zur Lösung der täglich voranschreitenden Krise unbedingt globale Institutionen notwendig wären, diese so schwach seien wie nie zuvor. Nicht durch demokratisch verfasste Strukturen, und noch nicht einmal durch die Vereinten Nationen werden die globalen Verhältnisse gegenwärtig gesteuert, sondern durch undurchsichtige und in ihrer Zusammensetzung durch keine Wahl legitimierte Staatenclubs, allen voran die G8. Gastgeber des diesjährigen G8-Gipfels ist die Bundesregierung. Auch in den Dokumenten zur Vorbereitung des Hochsicherheitsereignisses in Heiligendamm an der Ostsee spiegelt sich die leidige Doppelmoral. Man wolle das Zusammentreffen nutzen, um für Innovation als Grundlage weiteren Wirtschaftswachstums zu werben. Dafür sei der Schutz geistigen Eigentums, ohne den sich Innovation nicht lohne, Voraussetzung. Unbedingt müsse dafür Sorge getragen werden, den Patentschutz global durchzusetzen und, wo nötig, zu verschärfen. Daneben wolle man auch so genannte "weiche Themen" vorantreiben. Ganz zuvorderst die Bekämpfung von HIV/AIDS in Afrika.
So gut das gesundheitspolitische Engagement klingt, so sehr steht es im Widerspruch zum handelspolitischen. Die Bekämpfung von Krankheiten wie HIV/AIDS verträgt sich nicht mit der Verschärfung von Patentregeln. Als befristet gewährte Monopole ziehen Patente automatisch hohe Preise nach sich und sorgen dafür, dass selbst unentbehrliche Arzneimittel zu unerschwinglich teuren Luxusgütern werden. Als die Wirtschaftsminister das TRIPS-Abkommen zum Schutz geistigen Eigentums verabschiedeten, haben sie "Tausende von Menschen in den ärmsten Ländern zum Tode verurteilt", so Stiglitz.
Auch wenn sich heute die Stimmen derer mehren, die den Marktfundamentalismus für gescheitert erachten, hält seine unheilvolle Praxis doch an. An den Folgen jedenfalls wird die Welt noch lange zu leiden haben. Zumal die Propheten des Neoliberalismus selbst dort ihr Unwesen treiben, wo man sie nicht vermuten würde. In Afghanistan beispielsweise, dessen Bevölkerung sich offenbar zu Unrecht eine Stabilisierung des Landes durch eine kompetente und leistungsstarke Regierung erhofft hat.
Kaum im Amt, hat Karzai der "starken Ermutigung" durch ausländische Mächte nachgegeben und eine umfassende Privatisierungspolitik beschlossen. Ein sorgfältiges Prüfverfahren kann dem nicht vorausgegangen sein. Nicht einmal eine Seite füllt das Dekret, in dem nun steht, dass von den 65 Unternehmungen, die sich im Staatsbesitz befinden, 37 zu privatisieren und 19 gänzlich auszulöschen seien. Die restlichen 9 wolle man vorerst behalten.
Gut 25.000 Menschen beschäftigen die afghanischen Staatsbetriebe derzeit. Davon werden 14.000 nun unmittelbar ihren Job verlieren und viele der anderen vermutlich später, wenn entsprechende Investoren gefunden sind. Angesichts der unsicheren Umstände, die in Afghanistan herrschen, werden die kaum aus dem Ausland kommen. Tatsächlich mehren sich die Anzeichen, dass inländische Investoren zum Zuge kommen sollen, hinter denen in aller Regel jene korrupten Provinzgouverneure und Drogenbarone stehen, die an Wettbewerb überhaupt kein Interesse haben. Wie im Russland nach der Wende droht nun die Überführung von öffentlichem Eigentum in private Monopole, ohne dass zuvor Regulierungs- und Kartellbehörden geschaffen worden sind, die für ein Mindestmaß an Kontrolle sorgen könnten.
Unbeirrt aller Kritik wird den Afghanen, die so große Hoffnung "in den Westen" gesetzt hatten, ein Konzept übergestülpt, das längst als widerlegt gilt. Angesichts der großen Arbeitslosigkeit, die im Lande herrscht, nimmt sich auch das deutsche Angebot, den arbeitslos werdenden Mitarbeitern mit Übergangszahlungen und bei der Suche nach neuen Jobs zur Seite zu stehen, nicht gerade beruhigend aus.
Es ist lange her, dass politische Entscheidungen zunächst auf ihre langfristigen Auswirkungen hin überprüft wurden. Dem Ältestenrat der nordamerikanischen Indianer schien der Maßstab von sieben Generationen nicht zu lang. Dem "Washington Consensus" dagegen ist das Denken in solchen Zeiträumen abhanden gekommen. Zwar verfügt die Welt heute über die technischen Möglichkeiten, die langfristige Vorhersagen präzise zuließen, doch dominiert umso mehr ein kurzfristiges Verwertungsinteresse – und mit ihm auch die Heuchelei.