Chilenische Erinnerungen

Gerechtigkeit für Chile

01.11.2001   Lesezeit: 5 min

»Neben den Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die unter der Diktatur in Chile begangen wurden, ist die Straflosigkeit eine weitere Aggression gegen die Opfer der Gewalt. Denn sie negiert Prinzipien und Normen von Recht und Gerechtigkeit, die im Laufe der Menschheitsgeschichte entwickelt wurden.« Dr. Paz Rojas, medico-Tagung »Psychosoziale Arbeit nach Krieg und Diktatur«, Juni 2000

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Recht und Gerechtigkeit in Chile

Von Dr. Paz Rojas (Vorsitzende der Menschenrechtsorganisation CODEPU)

Die Forderung nach »Wahrheit und Gerechtigkeit« hat jahrelang den Widerstand gegen die chilenische Diktatur getragen. Darin drückte sich unsere Hoffnung aus, daß wir eines Tages dieses Ziel erreichen würden. Wie viel ist von dieser Forderung erfüllt worden? 11 Jahre nach dem Ende der Diktatur fällt die Bilanz ambivalent aus. Was die Wahrheit betrifft, so gab es einen Bericht der Rettig-Kommission Anfang der 90er Jahre sowie einen staatlichen Bericht, in denen ein Teil der Diktatur-Verbrechen aufgelistet wurde. Hier wurden nicht alle Opfer von Verbrechen gegen die Menschlichkeit benannt. Aufgelistet waren allein die meisten politischen Morde und Fälle, in denen politische Gefangene verschleppt wurden und seitdem nie mehr auftauchten. Aber das Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das die Militärs in Chile am häufigsten praktizierten, blieb vollkommen unberücksichtigt - die Folter. Für uns ist es von besonderer Bedeutung, daß es gelingt, dieses dramatische Phänomen der Diktatur aufzuarbeiten, die Folgen für die Gesellschaft deutlich zu machen und durchzusetzen, daß die Folteropfer als Opfer von Verbrechen gegen die Menschlichkeit anerkannt werden. Immer wieder werden die Opfer der Gewaltverbrechen aufgefordert, das Kapitel »Vergangenheit« zu schließen und sich zu »versöhnen«. Das ist schwer, wenn das Schuldeingeständnis derer fehlt, die die Gewaltverbrechen begangen haben. Noch schlechter bestellt ist es um die Wahrheit über die Täter. Beide Berichte benennen keinen einzigen Täter. Wir kennen in Chile jedoch auch einen wichtigen Teil dieser Wahrheit. Nicht der Staat und nicht die Organe der Justiz haben die Namen der Täter enthüllt, sondern die Menschenrechtsorganisation und die Verbände der Opfer und Angehörigen.

Das Maß der Gerechtigkeit

Dieses Beharren auf Aufklärung hat uns in den Jahren der »Übergangszeit« zur Demokratie schwere Stunden bereitet. Es war eine bleierne Zeit, in der Menschenrechtsorganisationen wie CODEPU als Störenfriede betrachtet wurden, die das Investitionsklima verschlechtern. Erst die Verhaftung von Pinochet in London hat diese Schweigenszeit beendet. Zum ersten Mal kam es auch in Chile zu Klagen gegen Pinochet. Daß der Prozess gegen Pinochet mit der Begründung ausgesetzt wurde, er sei nicht verhandlungsfähig, ist ein Bruch mit der chilenischen Verfassung. Denn in Chile wird nur dann nicht verhandelt, wenn die angeklagte Person geistesgestört ist. Das ist bei Pinochet nicht der Fall. Bis zu seiner Verhaftung lag Pinochet noch wie ein dunkler Schatten auf der chilenischen Politik. Er war die Ikone der Rechten. Nun wird er in den Massenmedien nicht einmal mehr genannt. Die Rechten haben aufgehört, ihn zu Hause zu besuchen. Wenn auch der Prozess nicht zu einer Verurteilung geführt hat, so hat das Verfahren doch klar gemacht, daß Pinochet ein Mörder ist. Nach den Jahren der Isolation erleben wir heute eine breite Unterstützung in der Gesellschaft für eine juristische Verfolgung der Diktatur-Verbrechen. Das Unterfangen aber bleibt schwierig, da in den meisten Gerichten noch immer Richter sitzen, die während der Diktatur eingesetzt wurden. Anfang November aber haben wir wieder einen wichtigen Erfolg errungen. CODEPU hat 10 neue Klagen gegen Verantwortliche von Folterzentren und gegen ranghohe Militärs, die andere Militärs aus ihren eigenen Einrichtungen verfolgt haben, eingereicht. Diese Klage wurden akzeptiert. Es wird also zu Prozessen kommen. Alle Klagen sind sehr gut recherchiert. Wir können ärztliche Atteste vorlegen, die beweisen, daß die Personen gefoltert wurden. Es geht uns dabei nicht nur darum, mittlerweile alt geworden Männer im Gefängnis zu sehen. Die juristische Strafverfolgung zwingt die Gesellschaft, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Wenn es Gerichtsprozesse gibt, dann berichten die Medien darüber. Es kommen neue Informationen ans Tageslicht. Ohne Erinnerung, ohne Wissen darüber, was wirklich in den 17 Jahren Diktatur geschah, wird diese Zeit eine offene Wunde bleiben. Das gilt nicht nur im übertragenen Sinne für die Gesellschaft. Das gilt auch für die Opfer. Für all diese Menschen hat die Verhaftung Pinochets und haben die Prozesse gegen Täter eine fördernde Wirkung für den eigenen Heilungsprozess. Sie empfinden, daß man ihre Geschichte, ihre Erfahrung und Leid als solches anerkennt. Das heißt nicht, daß alles wunderbar ist. Vor kurzem kam es zum Gerichtsprozess wegen der Folter in der Villa Grimaldi. Die Opfer mussten ihren Folterern gegenübertreten und am Ende wurden sie freigesprochen. Das ist ein furchtbares und niederschmetterndes Erlebnis für die Opfer. Für die Opfer ist deshalb der juristische Weg auch mit Risiken verbunden. Die Gefahr, daß die Klage nicht zum Erfolg führt, ist groß. Verbrechen gegen die Menschlichkeit müssen geahndet werden, zur Not über den internationalen Strafgerichtshof. Ich glaube, daß diese Forderung angesichts der gegenwärtigen Entwicklung von noch viel größerem Gewicht ist. Das muß dann auch für die USA gelten, die offenbar wie einst das römische Imperium die eigenen Interessen als einziges geltendes Recht betrachten.

Aufgeschrieben von Katja Maurer

CODEPU gehört zu den wenigen verbliebenen Menschenrechtsorganisation in Chile. Vielen anderen Organisationen wurde der Geldhahn zugedreht. Auch so kann man sich des Problems von Störenfrieden entledigen. Auch CODEPU hat akute Finanzierungsprobleme. Alles, wovon Paz Rojas in diesem Text berichtet, geschieht unentgeltlich: die psychische Betreuung der Opfer ebenso wie die juristische Arbeit. Das ist auch für CODEPU auf Dauer existenzbedrohend. Wir bitten deshalb dringend um Spenden unter dem Stichwort »Chile«


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