Chilenische Fotos

18.08.2006   Lesezeit: 4 min

Historischer Sieg der Diktatur-Opfer, aber kein Linksruck. Von David Becker

Auf dem einen Foto sehen wir Michelle Bachelet am Tag ihrer Wahl zur zukünftigen Präsidentin Chiles, unmittelbar nach ihrer Stimmabgabe. Bachelet lacht, sie sieht selbstsicher und optimistisch aus, jung und attraktiv.

Das andere Foto - ein paar Tage später aufgenommen - zeigt Lucía Pinochet, die älteste Tochter des Generals, im Kreise von Polizisten, kurz nach ihrer Ankunft in Santiago. Sie hatte zuvor versucht, ihrer Verhaftung in Chile zu entgehen, und in den USA vergeblich politisches Asyl beantragt. Sie sieht angestrengt aus, unordentlich, übergewichtig, etwas heruntergekommen.

Zwei symbolische Fotos aus Chile im Jahre 2006. Einen Beobachter der Entwicklung kann es nur zutiefst befriedigen, dass mit Michelle Bachelet nicht nur eine Sozialistin und ein unmittelbares Opfer der Diktatur zur Präsidentin gewählt wurde, sondern auch erstmals eine Frau (geschieden und agnostisch), was im traditionell konservativen Chile wirklich ein sensationelles Novum darstellt. Alle Gesetze der ehemaligen Diktatur - bis auf eines - sind inzwischen abgeschafft und durch demokratische Regelungen ersetzt worden. Lediglich das Wahlrecht bleibt noch ungerecht, wird aber wohl in den nächsten Monaten verändert werden. Die Demokratie in Chile ist stabil, und über die Vergangenheit hat sich kein "Tuch des Schweigens" gebreitet. Chile hat im Jahre 2005 28.000 Fälle von Folter an politischen Gefangenen während der Zeit der Militärdiktatur dokumentiert und im Rahmen des sogenannten Valech-Reports veröffentlicht. Während dieses Thema 1990 im Bericht der Wahrheits- und Versöhnungskommission aus pragmatisch-politischen Gründen noch ausgespart werden musste, konnte es nun - 15 Jahre später - aufgegriffen und zumindest in Ansätzen bearbeitet werden. In Chile hat ein langsamer und ständig fortlaufender Veränderungsprozess stattgefunden. Immer wieder wurde von Politikern versucht, die Vergangenheit zum Schweigen zu bringen, jedoch ohne Erfolg. Inzwischen sind diverse Prozesse geführt worden, die vor Jahren noch unmöglich gewesen wären. Die Familie Pinochet, und insbesondere der alte General, ist diverser Delikte angeklagt worden und genießt nicht länger Immunität. Auch finanziell sieht es in Chile positiv aus; es gibt Wachstumsraten, von denen man in Deutschland noch nicht einmal träumen kann. Die Arbeitslosigkeit ist vergleichsweise niedrig, die Infrastruktur des Landes hat sich enorm verbessert.

Heißt das nun, dass Chile zum Paradies geworden ist? Glückt es dort, wirtschaftliche Entwicklung und soziale Gerechtigkeit in Einklang zu bringen? Ist Bachelet das Symbol für einen modernen Sozialismus, in dem die traditionelle Machtverteilung in Chile überwunden wird? Werden wir etwa Zeugen des von Salvador Allende erhofften friedlichen Weges?

Das hieße nun sicherlich die oben genannten positiven Aspekte der chilenischen Wirklichkeit übertreiben. Chile bleibt ein Land, in dem eine kleine Elite die wirtschaftliche und politische Macht hat, und in dem ein nicht geringer Teil der Bevölkerung in Armut lebt. Diese ist weniger sichtbar als in anderen Teilen der Welt, aber sie existiert. Chile mag ein gutes Beispiel für die potentiellen Erfolge neoliberaler Wirtschaftspolitik sein, aber es ist auch ein Beispiel für die Grenzen dieser Politik, für die Realitäten, die durch sie ausgeblendet werden. Politisch ist die Situation nicht ganz so rosig, wie sie scheint. Zwar sind die Parteien der Concertación ein weiteres Mal an der Macht und die rechten Parteien schlagen heutzutage gemäßigtere Töne an als noch vor wenigen Jahren, aber ein konkretes politisches Programm zur sozialen Veränderung existiert nicht. Im Gegenteil, die Mitte-Links-Regierung erlaubt es den Bürgern gegebenenfalls sich besser zu fühlen, aber alle sozialpolitisch relevanten Themen werden so entschieden, wie es rechte Regierungen auch getan hätten, nämlich im Sinne der neoliberalen Wirtschaftsinteressen. Es wäre falsch, von Michelle Bachelet hier grundsätzliche Änderungen zu erwarten. Zwar hat sie als eine ihrer zentralen Aufgaben die Bekämpfung der Armut definiert, aber das haben auch schon andere vor ihr getan. Ihre Politik wird sich vielleicht in Stilfragen, aber inhaltlich nicht sonderlich von der Ricardo Lagos' unterscheiden. Sie ist eine gemäßigte Sozialistin, wie man das heutzutage nennt, und es wäre vollkommen falsch aufgrund ihrer Identität als Verfolgte des Pinochet-Regimes, übertriebene Hoffnungen in sie zu setzen, oder romantisierende Illusionen zu entwickeln über den Aufstieg der Linken in Lateinamerika. Davon ist zumindest Chile weit entfernt.

Auch wenn man Befriedigung über die aktuelle Situation des alten Generals empfinden kann, muss man den Wermutstropfen schlucken, dass er landesweit erst definitiv in Ungnade fiel, als die Anklage wegen Finanzbetrug und Steuerhinterziehungen erhoben wurde. Wirtschaftsverbrechen sind auch in Chile schwerwiegender als Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Zur Zeit hagelt es an all diesen Fronten Prozesse gegen Pinochet. Erfolg ist ihnen aber erst beschieden, seitdem seine Freunde ihre schützenden Hände von ihm abgezogen haben, und das, wie gesagt, aufgrund seiner Wirtschaftsverbrechen.

Chile muss also den mühsamen Weg zur Demokratie weitergehen, mit all seinen Widersprüchen und Schwierigkeiten. Trotzdem: Wer hätte je gedacht, dass es in Chile einmal so erfreulich zugehen wird.


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