Essay

Im Land des depressiven Zusammenbruchs

09.09.2013   Lesezeit: 11 min

Auf den Putsch gegen Allende 1973 folgten drastische neoliberale Reformen unter Diktator Pinochet, die als "Schock-Politik" weltweit traurigen Ruhm erlangt haben. Dennoch argumentiert der chilenische Intellektuelle Carlos Pérez Soto, dass der Neoliberalismus erst unter den demokratischen Regierungen der 90er Jahre zum umfassenden gesellschaftlichen Projekt werden konnte. In seiner Analyse der 40 Jahre Neoliberalismus in Chile legt Pérez Soto die katastrophalen Folgen unter anderem für Bildung und Gesundheit dar.

Die ist eine gekürzte Version der Abhandlung. Die ausführliche schriftliche Grundlage finden Sie hier: "40 Jahre Neoliberalismus in Chile" und als Video in spanischer Sprache auch auf Youtube.

Seit fast vierzig Jahren ist Chile Schauplatz eines tiefgreifenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Experiments. In einem durch den Staatsstreich im September 1973 und die darauf folgende blutige Repression geprägten Land konnten die zivilen Minister der Militärregierung auf brutale Weise jede institutionelle Hürde beiseite schieben und ein Wirtschaftsmodell implementieren, das der chilenischen Tradition völlig fremd war. Dafür gab es weltweit keinen Präzedenzfall. Viele der von den neoliberalen Theoretikern in den letzten Jahrzehnten entwickelten Wirtschafts- und Sozialformeln wurden erstmalig in Chile angewandt.

Der viel gepriesene „Erfolg“ des chilenischen Modells verschleiert aber die soziale Katastrophe, die es für die meisten Chilenen bedeutet, und verschweigt, dass es auf der Plünderung der nationalen Ressourcen beruht. Laut Angaben der Steuerbehörde verfügen heute 99% der Chilenen über ein monatliches Durchschnittseinkommen von 680 Dollar, das restliche Prozent von 27.400 Dollar. Und unter der Mehrheit gibt es ebenfalls beträchtliche Unterschiede: 81% leben von einem Durchschnittslohn von nur 338 Dollar. Dies zeigt den Betrug, der sich hinter den vermeintlich „erfolgreichen“ makroökonomischen Zahlen verbirgt.

Die verschiedenen linken Analysen des neoliberalen Modells beschäftigen sich vor allem mit seinen gewalttätigen Ursprüngen und betonen die extreme Gewalt der lateinamerikanischen Diktaturen der 1970er-Jahre. Das hat jedoch dazu beigetragen, die zweite und viel tiefergehende Phase zu vertuschen, in der sich das Modell ausweiten und konsolidieren konnte. Tatsächlich ist es Schritt für Schritt von zivilen Regierungen vertieft worden, mit „demokratischen“ Mitteln und von politischen Koalitionen, die sich als „Mitte-links“ ausgeben.

Lagos und Bachelet sind die perfekten Erben Pinochets und seiner Finanzminister. Genauso sind die Kirchners in Argentinien die perfekten Nachfolger von Menem und Lula in Brasilien von Cardoso. Es ist also diese zweite Phase, in der Chile erneut Modellcharakter trägt, die dringend analysiert und kritisch reflektiert werden muss. Denn das chilenische Modell ist in fast allen „Auswegen“ präsent, die weltweit für die Folgen der sich seit 2008 entwickelnden Finanzkrise angeboten werden.

Vom Anrecht zur Ware

Die in Chile zu beobachtende Prekarisierung der Beschäftigung, die Entnationalisierung der natürlichen Ressourcen und die Privatisierung der staatlichen Güter sind Folgen einer tiefgreifenden Neuorganisierung der internationalen kapitalistischen Arbeitsteilung. Dabei ist der doktrinäre neoliberale Diskurs weder Ursache noch Motor dieser Reorganisierung, sondern eher ihre Legitimierung: Die „Ineffizienz des Staates”; der Zwang, sich in die „Globalisierung“ einzureihen; das angebliche Unheil, das durch den „Protektionismus“ heraufbeschworen würde; die vermeintlichen Vorteile der „Eigeninitiative“ und „des unternehmerischen Selbst“ – all das sind Argumente, die aus dem Prozess der Neuordnung der Produktion entspringen und ihm dienlich sind.

Ein wesentlicher Bestandteil ist die vollständige Unterordnung des Staates unter die Interessen der Privatwirtschaft. Der Staat privilegiert bei der Auftragsvergabe die Unternehmen zum Nachteil seiner eigenen Dienstleistungen und Dienstleister. Unter diesem Regime ist es dem Großkapital gelungen, auch Dienstleistungen in Geschäftsfelder zu verwandeln, die traditionell als soziale Rechte vom Staat bereitgestellt und garantiert werden. Im Zuge dieser Kommodifizierung genehmigt der Staat die Profitmacherei mit grundlegenden Gütern, bürgt für deren Erträge und wälzt die Kosten auf die Allgemeinheit ab. In Chile zeigt sich das in so sensiblen Bereichen wie dem öffentlichen Personenverkehr, in der Lebensmittelindustrie und besonders im Bildungs- sowie im Gesundheitswesen.

Die Privatisierung der Bildung

Vor 35 Jahren hat der chilenische Staat das öffentliche System der höheren Bildung einfach an die Privatwirtschaft verschenkt. Entstanden ist ein System privater Universitäten, die alle Tricks beherrschen, mit denen sie Gewinne machen können, obwohl ihnen das per Gesetz formell verboten ist. Zudem ist es ihnen gelungen, eine Reihe außerordentlicher Steuerbefreiungen durchzusetzen. An den verbliebenen öffentlichen Universitäten sind unter dem Signum der Selbstfinanzierung und angesichts sinkender staatlicher Gelder die Studiengebühren auf das gleiche Niveau gestiegen wie in den Privatuniversitäten. Die Studiengebühren in Chile zählen zu den höchsten der Welt. Eine Folge davon ist, dass die Familien 40% der Kosten für die Hochschulbildung tragen müssen – in der Regel dadurch, dass sie sich bei Privatbanken oder beim Staat verschulden.

Durch solche Entwicklungen ist ein System entstanden, in dem die „Qualität“ der Bildung keinen Bezug mehr hat zur persönlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklung im Dialog mit den Bedürfnissen des Landes. Vielmehr sind die Universitäten zu Fabriken für Fachkräfte geworden, die hier eine Ausbildung kaufen, die ihnen unmittelbaren Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglicht. Insofern hat die offizielle Lehrmeinung recht, wenn sie die Bildung nicht mehr als ein Recht, sondern als ein „Konsumgut“ betrachtet.

Nicht besser sieht es im schulischen Bereich aus. Die Grund- und Mittelschulen wurden an die Kommunalverwaltungen übergeben. Gleichzeitig und in Konkurrenz dazu fördert der Staat das Wachstum privater Schulen durch direkte Subventionen und Steuervorteile. Hinzu kommt, dass sich die Privatschulen zu großen Gesellschaften zusammenschließen, die auch mit zusätzlichen Dienstleistungen Gewinne erwirtschaften, etwa mit dem Transport von Schülern oder dem Verkauf von Lehrmaterial. Die öffentlichen Schulen hingegen verarmen, da sie solche zusätzlichen Gewinne nicht erwirtschaften können. So verlieren sie nach und nach ihre Schüler an das Privatsystem.

Die Studenten- und Schülerbewegungen der Jahre 2005 und 2011 haben das Drama des chilenischen Bildungswesens ans Licht gebracht. Seither gibt es eine breite öffentliche Debatte. Aber an keiner Stelle war die Politik auch nur zu geringsten Abstrichen an der Privatisierung der Bildung bereit, obwohl die übergroße Mehrheit der Bevölkerung dies wünscht.

Gesundheit als Geschäft

Ein weiteres Beispiel für die Vertiefung des neoliberalen Modells ist die von den Mitte-Links-Regierungen, der Concertación, verfolgte Gesundheitspolitik. Das Paradigma der „Ressourcenkonzentration“ schuf die allgemeinen, für eine umfassende Grundversorgung zuständigen Gesundheitsbudgets ab und installierte stattdessen ein System, in dem der Staat lediglich die Gebäude der Krankenhäuser bereitstellt. Die Dienstleistungen, zunächst für Reinigung und Ernährung, später so zentrale Bereiche wie die Verwaltung und vor allem die medizinischen Dienstleistungen, werden vielerorts per Ausschreibungen an Privatfirmen vergeben.

Das öffentliche Gesundheitssystem beschränkt sich darauf, individuelle Gesundheitsleistungen in Form von Boni und Zuweisungen nach Fallhäufigkeitstabellen zu zahlen. Hierbei geht es nicht mehr um die Absicherung des Menschrechts auf Gesundheit, auch soziale oder Präventionskriterien tauchen dabei nicht mehr auf. Stattdessen sind die Zuschüsse auf die medizinischen Bedürfnisse der Individuen als isolierte Einzelpersonen ausgerichtet. Es sind Ausgaben, die permanent zu überwachen sind, um ein Anwachsen des Staatshaushalts zu vermeiden, und jederzeit eingefroren oder durch einfache Verwaltungsmaßnahmen entwertet werden können. Dank der Bevorzugung der kurativen Medizin hat sich die Gesundheitslage insgesamt verschlechtert.

Wie öffentliche Gelder systematisch in den Privatsektor verschoben werden, zeigt sich an dem Garantiesystem Garantías Explícitas en Salud (GES). Wird ein Beitragszahler der staatlichen Krankenkasse FONASA in ein öffentliches Krankenhaus eingewiesen, stellt der Staat einen GES-Bonus aus. 2012 erhielt das Krankenhaus pro „Bettentag“ 129.000 chilenische Pesos. Die tatsächlichen Kosten sind allerdings mehr als doppelt so hoch. Die Differenz bleibt das Krankenhaus dem Staat schuldig. Um die Lücke zu schließen, sollen die Kommunen einspringen, die die Krankenhäuser verwalten. Hierzu fehlen ihnen allerdings die Mittel. Lediglich vier oder fünf von rund 350 Kommunen in Chile konnten die Leistungen ihrer Krankenhäuser aufrechterhalten. Alle anderen häufen eine „Krankenhausverschuldung“ an, die es ihnen unmöglich macht zu investieren.

Vielerorts mussten öffentliche Krankenhäuser Leistungen einschränken oder die Bettenzahl reduzieren. Da der Patient aber einen Bonus empfangen hat, der eine die Gesundheitsleistungen betreffende Garantie umfasst, hat er das Recht, eine private Klinik aufzusuchen. Für die dabei entstehenden Kosten muss der Staat aufkommen. Plötzlich ist der Staat aber auf magische Weise bereit, dieser privaten Klinik 800.000 Pesos – also sechs Mal mehr als bei öffentlichen Krankenhäusern – pro „Bettentag“ zu zahlen. Auf diese Weise hat der Staat allein in den ersten neun Jahren seit der Einführung des GES-Systems dem privaten Gesundheitssystem acht Milliarden Dollar zugeschanzt. Es ist müßig festzustellen, dass mit diesem Geld locker 20 qualitativ hochwertige öffentliche Krankenhäuser hätten gebaut und betrieben werden können. So aber wird die öffentliche Infrastruktur im Gesundheitswesen immer ärmer und defizitärer.

Während der Regierung von Michelle Bachelet wurde der Bau zusätzlicher öffentlicher Krankenhäuser vorgeschlagen. Es handelte sich scheinbar um eine sehr fortschrittliche Maßnahme. Aber sowohl der Bau als auch der Betrieb dieser Einheiten wurde per Ausschreibungen und Konzessionen an Privatunternehmen vergeben. Um dem Privatsektor Anreize zu bieten, in einem defizitären Geschäftsfeld zu investieren, hat der Staat die neuen Krankenhäuser subventioniert. So erwuchsen beim Bau zweier Krankenhäuser, dessen reale Kosten 300 Millionen Dollar betragen, dem Staat Kosten in Höhe von 600 Millionen Dollar.

Ein bemerkenswerter Effekt ist, dass die chilenische Regierung triumphierend verkünden kann, sie habe Gesundheitsausgaben erhöht. Letztlich sind aber vor allen Dingen öffentliche Gelder in Privatkassen umgeleitet worden. Die Unternehmen können vollkommen marktunübliche Preisaufschläge und Gewinnmargen durchsetzen. Auf dieselbe Art sind auch die Ausgaben für Bildung, Kultur sowie Wohnungs- und Straßenbau drastisch gestiegen.

Ein Element der Privatisierung des Gesundheitswesen war es, die Arbeitenden dazu zu zwingen, 7% ihrer Löhne in ein System der privaten Krankenversicherung einzuzahlen: in die ISAPRES. Hierfür sind jedoch relativ hohe Löhne erforderlich – mit der Folge, dass gegenwärtig nur 16% der Bevölkerung bei ISAPRES versichert sind, nämlich die Gutverdiener. Der Rest nutzt das staatliche FONASA-System. Trotzdem haben die ISAPRES zwischen 1990 und 2004 direkte staatliche Subventionen von 530 Millionen Dollar erhalten, wodurch sie nicht nur wachsende Gewinne erzielen, sondern auch die wichtigsten Kliniken aufkaufen oder mit ihnen Gesellschaften gründen konnten.

Der Staat zahlt den ISAPRES das, was sie für ihre legitimen Gewinne halten. Dies hat dazu geführt, dass gegenwärtig 57% der Gesundheitsausgaben in Chile im Privatsektor getätigt werden, in dem jedoch nur 16% der Bevölkerung behandelt werden. Natürlich können die Chilenen durch Zuzahlungen bessere Leistungen erkaufen. Im Ergebnis werden 37% der Gesundheitsausgaben von den Familien selbst finanziert.

Der Kern all dieser Mechanismen ist die fortschreitende Umwandlung aller umfassenden und unteilbaren Rechte, die die Arbeitenden durchgesetzt haben, in personalisierte Boni und Zuweisungen: Boni pro Kind für Mütter, Boni für die Opfer eines Erdbebens, Subventionen für die Zusatzzahlungen der Väter an die Privatschulen, Boni für die Verbesserung der Wohnungen als Unterstützung angesichts der gestiegenen Heizmittelpreise, Boni für die Schulmaterialien zum Schuljahresanfang. Alles Boni nach Maßgabe der neo-populistischen und -klientelistischen Politik der Parteien, die jeweils die Regierungsgeschäfte führen. Solche Zuweisungen werden so lange gewährt, so lange die Staatsfinanzen es erlauben. Sie verschwinden allerdings sofort, wenn in den Kassen Ebbe herrscht oder die Prioritäten es erfordern, die Banken oder Großunternehmen vorzuziehen.

Subjekte unter Druck

Verschuldung, Unterdrückung und Wucher prägen das Leben des Einzelnen in Chile. Vieles ist über die Auswirkungen dieser alltäglichen Unterdrückung auf die Subjektivität veröffentlich worden. Chile weist Rekordzahlen bezüglich Kindesmisshandlung, Gewalt in der Familie und Aggressivität im öffentlichen Raum auf. Auch die individuellen Folgen sind erschreckend. Wachsende Depressionsraten, die Zunahme psychosomatischer Erkrankungen, Dysfunktionen in der Kommunikation und emotionale Beziehungsstörungen kennzeichnen die psychische Lage.

Geradezu unheimlich ist, dass diese Entwicklungen selbst zu einem riesigen Geschäft geworden sind. Chile ist wahrscheinlich eines der wenigen Länder, in dem man zwei oder drei Apotheken an ein und derselben Straßenecke finden kann. Angstlösende Mittel, Antidepressiva, Schlaftabletten und Tabletten, um sich wach zu halten – alles geht hier über den Ladentisch. Arzneimitteln ersetzen den sozialen Protest. Die Empörung, die nicht äußern lässt ohne die Entlassung oder Lohneinbußen zu riskieren, kommt schließlich als Somatisierung des Unbehagens zum Ausdruck. Chile ist das Land des depressiven Zusammenbruchs. Von der einfachsten Arbeiterin bis zum faschistoiden Präsidentschaftskandidaten – alle stehen unter einem gemeinsamen Zeichen: Jede plötzliche Steigerung des ständigen Stressniveaus führt zum Kollaps.

Unter solchen Umständen kann es nicht verwundern, dass die Schüler und Studenten oder die absolut Armen in den Randzonen der Städte oder die Fußballfans die mit allen Mitteln unterdrückte soziale Gewalt öffentlich machen. Die Schüler- und Studentenproteste bringen ihr Unbehagen und das ihrer Familien ans Tageslicht. Die absolut Armen entladen ihren Zorn bei jeder öffentlichen Massenveranstaltung. Und so ist Chile eine zutiefst gewalttätige Gesellschaft. Jene, die, ergriffen von einem blinden Gefühl von Allmächtigkeit und Straflosigkeit, andere missbrauchen, können nicht unbegrenzt dunkle Winde säen. Früher oder später werden sie die von ihnen entfachten Stürme ernten. Erst dann wird endlich Chiles Stunde schlagen.

Carlos Pérez Soto ist einer der bekanntesten linken Theoretiker in Chile und unterrichtet an verschiedenen Universitäten in Chile. Er engagiert sich in den Diskussionen über die Perspektiven einer neuen Linken in Chile und entwickelt Vorschläge gegen die Kommerzialisierung von Bildung und Gesundheitsdiensten.


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