Von Christian Sälzer
Aus dem Meer ineinander verkeilter Wellblechhütten ragt die Motherland Hall deutlich sichtbar heraus. In dem kargen Gemeinderaum drängen sich rund 40 Frauen, in einer Ecke spielen Kinder, auch eine Handvoll Männer hat sich eingefunden, allesamt Bewohner des umliegenden Slums. Dan, Erick und David, drei Aktivisten der Organisation KAPLET, die zu der Versammlung eingeladen hat, bitten um Ruhe. Ob sie von ihren Männern geschlagen werden, fragt Dan die Frauen. Fast alle strecken eine Hand nach oben. Ob sie es richtig finden, dass sie geschlagen werden? Wieder nicken einige, andere protestieren lautstark . Dan, Pullunder über gestärktem Hemd, eloquent und erfahren, macht eine Pause. „Deswegen sind wir heute hier. Um darüber zu sprechen, ob es in Ordnung ist. Und was ihr tun könnt, wenn ihr es nicht in Ordnung findet.“ Zwei Stunden später haben viele der Anwesenden zum ersten Mal erfahren, welche Rechte sie haben und wie sie sich wehren können. „Wenn sie das wissen, können sie entscheiden, was sie tun“, erklärt Dan später. Es ist nicht nur ein Angehen gegen Traditionen und Unwissenheit. Es ist ein Kampf, bürgerschaftliche Rechte dorthin zu tragen, wo der Alltag eine permanente Zumutung aus Armut, Gewalt und Rechtlosigkeit ist.
Vor zehn Jahren hat der Stadtsoziologe Mike Davis angesichts der weltweiten Verstädterung und der dramatischen Zunahme urbaner Elendsquartiere den Begriff „Planet of Slums“ geprägt. Auf diesem Planeten stellt die kenianische Metropole so etwas wie die Hauptstadt dar. Zwar ist Nairobi das politische und wirtschaftliche Zentrum Ostafrikas, Sitz zahlreicher UN-Institutionen und Hunderter NGOs, das Zuhause der kenianischen Eliten und wohlhabender Ausländer, Ankunftsort Hunderttausender Safari-Touristen, eine Stadt mit riesigen Anwesen, Nobelhotels und Shopping Malls. Aber das ist nur die eine, die westliche Seite. Vor allem im Osten bilden 285 Slums einen Flickenteppich informeller Siedlungen. Auf gerade einmal fünf Prozent der Stadtfläche drängen sich mehr als 2,5 Millionen Menschen, das sind zwei von drei Bewohnern Nairobis. Nach Angaben von UN-Habitat sind es die am dichtest besiedelten Slums weltweit. Ungeachtet dessen sind es weitgehend unsichtbare, sich selbst überlassene Orte. Das Zuhause der Verworfenen und Namenlosen. In Stadtplänen sind die Slums weiße Flecken, nicht einmal Google Maps kennt sie. Sie sind nur notdürftig an das städtische Wasser- und Stromnetz angeschlossen, eine funktionierende Kanalisation ist selten und mancherorts kommt nur alle sechs Monate ein Laster vorbei, um die obersten Schichten der Müllberge mitzunehmen.
Traumrenditen in den Slums
Das große Bild kann Joseph Muturi zeichnen. In seinem Büro weit im Westen der Stadt erzählt der Vorsitzende des nationalen Verbandes der Slumbewohner Muungano Wa Wanavijiji, wie er mit seinen Kollegen jahrelang Daten zusammengetragen hat. „Die ersten Slums sind Anfang der 1970er Jahre entstanden, als die Menschen aus der Innenstadt vertrieben wurden.“ Dann kamen die Menschen vom Land hinzu, in der Hoffnung, hier Arbeit, Wohnungen und ein besseres Leben zu finden, später auch Flüchtlinge aus Ruanda und Somalia. Heute wachsen die Slums aus sich heraus, fast alle Bewohner sind in einer Wellblechhütte geboren. Natürlich gab und gibt es Projekte seitens der Regierung, der UN und NGOs, die Lage in den Vierteln zu verbessern, „Slum-Upgrading“ lautet das Stichwort. Wenige sind nachhaltig, viele konzentrieren sich auf Kibera, den wohl größten Slum Afrikas und der einzige im Westteil Nairobis. „In Kibera gilt: Ein Haushalt, eine NGO“, spottet Muturi. Die politische Elite interessiere sich ohnehin nur vor Wahlen für die Slums – und profitiert gleichzeitig massiv von ihnen. Muturi und seine Kollegen haben die Besitzverhältnisse in den Slums recherchiert und sie als riesiges Geschäft enttarnt. Für jede der Hunderttausende winzigen Wellblechhütten zahlen die Bewohner Miete, von 20 bis zu 60 Euro. Durch die Dichte summiert sich das zu Traumrenditen. „Die Slums sind die attraktivsten Immobilien, die man sich vorstellen kann“, so Muturi. Nachweislich landet das Geld, das den Ärmsten Monat für Monat abgepresst wird, über verschlungene Wege in den Taschen von Spitzenpolitikern, hohen Beamten und Unternehmern.
Sogar Wasser untersteht privater Kontrolle
Zurück im Osten der Stadt. Hier liegen auch Kinyago und Kanuku, zwei Slums mit 40.000 bis 50.000 Bewohnern, genau weiß das niemand. An einem Kiosk warten neben Dan, David und Erick weitere Mitglieder des medico-Partners KAPLET und die Community Health Workerin Julia. Alle sind in Slums aufgewachsen, die meisten leben heute noch dort. Sie selbst sprechen von „Villages“, was mehr nach Gemeinwesen klingt, die beanspruchen, in die stadtweite Versorgung einbezogen zu werden. In Fortbildungen haben sich die Aktivisten zu „Human Right Defenders“ und Laienjuristen qualifizieren lassen. Ihr Wissen über Menschenrechts- und Gesundheitsfragen geben sie bei örtlichen Versammlungen und Mediationen weiter. Zudem haben sie in 14 Villages ein Netz von Gemeindehelfern aufgebaut – Menschen wie Julia, die den heutigen Rundgang durch Kinyago organisiert. Die 35-Jährige kümmert sich ehrenamtlich um gesundheitliche Belange, von ungewollten Schwangerschaften über Notfälle bis zum Polio-Schutz. Immer wieder klingelt ihr Mobiltelefon. Es geht um ein dreijähriges Mädchen, das wenige Tage zuvor vergewaltigt worden ist. Sie legt auf und seufzt. „Gehen wir.“
Auf der Hauptstraße von Kinyago, einer holprigen Gasse, bieten die Bewohner ihre Waren und Dienste an. Hier brät eine Frau Chapatis, dort werden Haare geschnitten. In einem der Verschläge kann man die Spiele der Premier League sehen, in einem Drug Store finden sich Schmerzmittel aller Art. Pharmazeutische Betäubungskunst ist angesichts der mangelnden medizinischen Versorgung in den Villages gefragt. Mancherorts gibt es zwar öffentliche Kliniken, aber es fehlt an Personal und Ausstattung. In den privaten Kliniken muss jede Leistung bezahlt werden, was hier kaum jemand kann. Doch auch öffentliche Anbieter bitten immer wieder zur Kasse. Vor zwei Jahren hat KAPLET erfolgreich gegen die Praxis einer Geburtsklinik mobilisiert, die Wöchnerinnen so lange in Gewahrsam nahm, bis die Behandlungskosten bezahlt waren.
Wie tief das Prinzip, Profit noch aus den dringendsten Bedürfnissen von Menschen zu ziehen, in das soziale Gewebe der Villages eingedrungen ist, zeigt sich wenige Schritte weiter. An einem Wasserhahn am Rande der Straße befüllt eine Frau gelbe Kanister. Der kleine kostet fünf Kenia-Schilling, der große acht. Weil kein Haushalt über einen eigenen Anschluss verfügt, sind die Bewohner gezwungen, bei den „Waterlords“ zu kaufen. Das gleiche Prinzip gibt es bei den Latrinen, jeder Toilettengang kostet. Das ist nicht überall so. In einem nahegelegenen Village können sich alle Bewohner an einer öffentlichen Wasserstelle bedienen. Was wie geregelt ist, hängt von den jeweiligen Machtstrukturen ab und die sind komplex. Es gibt von der Regierung eingesetzte Verwalter und Slum-Älteste, die Polizei unterhält Spitzel, Slumlords sichern ihre Pfründe, Jugendgangs die ihren. Hinzu kommt die ethnische Zugehörigkeit, die in Kenia das soziale Leben prägt und trennt.
Fluchtursache Handelsabkommen
Wie die EU die wirtschaftliche Entwicklung Ostafrikas verhindert
Kenias Zivilgesellschaft hatte bis zuletzt gegen eine Unterschrift protestiert. Als sich auch die Regierung in Nairobi weigerte, das Wirtschaftspartnerschaftsabkommen EPA zwischen der Europäischen Union und der ostafrikanischen Gemeinschaft EAC zu unterzeichnen, zog Europa die Daumenschrauben an. Strafzölle auf Einfuhren wie Tee und Schnittblumen aus Kenia zeigten schnell Wirkung: Im Oktober 2014 unterschrieb Kenia das Abkommen. Fredrick Njehu, Handelsexperte der Kenyan Human Rights Commission, bezeichnet das Vorgehen der EU als „Erpressung zu einem für Ostafrika sehr schlechten Deal“.
Parallel zu den Verhandlungen mit den USA über TTIP rang die EU viele Jahre lang mit 79 afrikanischen, karibischen und pazifischen Staaten der AKP-Guppe um neue Wirtschaftsabkommen. Die Vereinbarungen, die inzwischen mit sieben AKP-Regionen abgeschlossen wurden – Ostafrika beugte sich als letzte –, entpuppten sich als rigide Freihandelsprogramme. So ist es den EAC-Staaten untersagt, Zölle auf Ausfuhren in die EU zu erhöhen oder neue zu erheben, was bedeutet, dass sich Europa den Zugriff auf Rohstoffe dauerhaft gesichert hat. Vor allem aber muss Ostafrika seine Zölle auf Importe aus der EU weitgehend abbauen. Damit verlieren die Staaten nicht nur dringend benötigte Einnahmen, sondern auch das zentrale Werkzeug, um eigene Industrien schützen zu können. Kenias Bauern und Geflügelzüchter etwa fürchten um ihre Existenzgrundlage, weil die EU die Überschüsse ihrer hochsubventionierten Agrarindustrien künftig noch billiger auf die Märkte in Nairobi, Daressalam und Kampala bringen kann.
Das Grundproblem vieler Ökonomien Afrikas, eine nur schwach entwickelte industrielle Produktion, wird durch EPA nicht gemildert. Im Gegenteil: Das Abkommen nagelt sie auf das fest, was sie heute schon sind – billiger Rohstofflieferant und wehrloser Absatzmarkt. EPA war jüngst auch Thema in der ZDF-Satire-Sendung „Die Anstalt“. Die Expertengruppe „Fluchtursachen und Militärisch-Politische Strategien“, kurz FUMPS, sollte der Kanzlerin das komplexe Thema auf einen Nenner bringen. Nach Durchsicht der EPA-Abkommen lautet dieser: „Fluchtursache Nummer eins sind wir.“
Von der zentralen Gasse aus führen Abzweige in ein Labyrinth schmaler Pfade, die nahtlos in Kloaken übergehen. Um voranzukommen, muss man sich durch Durchgänge mit rostigen Kanten zwängen. Später, wenn die Masse der Bewohner von dem Bemühen, in der Stadt genug Geld für das Abendessen zu verdienen, zurückkommen, ist hier kein Durchkommen mehr, erzählt Julia. „Nach Einbruch der Dunkelheit ist es stockfinster, keine Frau verlässt dann noch ihre Hütte.“ Dann lädt sie in ihr Zuhause ein, wie fast alle anderen ist es keine zehn Quadratmeter groß: ein Sofa mit Zebramuster, ein Sessel, hinter einem Vorhang ein Bett – für einen Schrank ist schon kein Platz mehr. Hier lebt sie mit drei Kindern und ihrer Mutter. Durcheinander kann sie sich da kaum leisten, die wenigen Habseligkeiten hat sie ordentlich verstaut. Wie das alles geht? „Es geht schon“, sagt sie. Je weiter die Pfade hinunter zum Nairobi River führen, umso ärmlicher wird es. Auf der einzigen freien Fläche Kinyagos, einem mit Unrat übersäten Fußballplatz, sind Dutzende Namen mit Farbe auf eine Mauer geschrieben, „Our Soldiers“ steht darüber. Es sind die Namen derjenigen, die in den vergangenen Monaten von der Polizei erschossen wurden. „Es ist weit weniger Aufwand, eine Kugel willkürlich auf einen Slumbewohner abzufeuern als einen tatsächlichen Straftäter zu ermitteln“, sagt Dan und kann die Wut kaum unterdrücken. KAPLET dokumentiert solche Fälle und berät Angehörige von Opfern, welche juristischen Wege ihnen offenstehen. Doch nur selten gelingt es, einen Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Viel zu groß ist die Angst, zu wirksam die Einschüchterung, zu korrupt das System.
Seit 2010 hat KAPLET einen neuen „Verbündeten“: In einem landesweiten Referendum wurde der Entwurf einer neuen Verfassung angenommen. Diese stutzt nicht nur die bisherige Allmacht des Präsidenten und räumt den Regionen mehr Selbstverwaltung ein. Vor allem garantiert sie allen Kenianern weitreichende Rechte – auf bestmögliche Gesundheit und Zugang zu medizinischer Versorgung, auf Bildung und auf angemessenen Wohnraum. Das ist ein gewaltiger Erfolg der zivilgesellschaftlichen Demokratiebewegung. Was aber ist das formale Recht auf Gesundheit wert, wenn die Lebensverhältnisse krank machen? Was bringt das Recht auf Bildung, wenn die Grundschulen seit Wochen geschlossen sind, weil die Regierung die Lehrergehälter nicht zahlt, und nahezu kein Slumbewohner angesichts von hohen Gebühren auf eine weiterführende Schule gehen kann? Und was hilft das Recht auf angemessenen Wohnraum, wenn die Einkommen kaum reichen, um die Miete für eine schäbige Hütte zu zahlen?
Doch KAPLET wendet nicht die Realität gegen das Recht, sondern das Recht gegen die Realität. „Die neue Verfassung ist ein wichtiges Werkzeug“, erklärt David. Aus dem Strom von Ungerechtigkeiten picken sie konkrete Fälle heraus, die sie dokumentieren und verfolgen. Vor allem aber versucht KAPLET, die Namenlosen darin zu stärken, Handelnde zu werden. „Knowledge is power“ lautet der Slogan. Die Menschen sollen wissen, wie sich Ansteckungen mit HIV vermeiden lassen; dass Polizisten sie nicht grundlos einsperren dürfen, um sie gegen Zahlung von Schmiergeld freizulassen; dass es juristische Mittel gibt, um Arbeitgeber dazu zu bringen, den fälligen Lohn zu zahlen. Gleichzeitig geht es um Formen eines solidarischen Miteinanders. So erzählt David von Frauen, die sich in autonomen Sparrunden gegenseitig unterstützen oder von gemeinschaftlichen Aktionen gegen Cholera.
Zurück auf der Hauptstraße. Julia verabschiedet sich, die anderen beraten, wie es weitergeht. Alle wissen, dass sich die kleinen Erfolge immer wieder an den Verhältnissen brechen und sich wenig gewinnen lässt, wenn sich nichts Grundsätzliches ändert; dass sich in diesen Arenen des Überlebenskampfes Momente von Würde erreichen lassen, aber keine Gerechtigkeit. Hinzu kommt, dass KAPLETS Kampf gegen die Willkür der Staatsgewalt gefährlich ist. Alle Mitglieder wurden bereits bedroht und mussten samt Familien den Wohnsitz wechseln. Warum nehmen sie all das auf sich? Könnten sie mit ihren in vielen Trainings erworbenen Fähigkeiten die Slums nicht hinter sich lassen? Wollten sie es denn? Nach kurzem Überlegen antwortet Erick: „Immer wenn ich überlege aufzuhören, merke ich, dass es nicht geht. Die Slums sind unser Zuhause.“
Siehe auch die komplette Fotostrecke unter www.medico.de/kaplet
Erstmals hat medico KAPLET 2011 im Kampf gegen die Hungerkatastrophe in Ostafrika unterstützt. Seitdem fördert medico die Arbeit der Organisation, die auch in dem globalen Gesundheitsnetzwerk People’s Health Movement aktiv ist.
Dieser Artikel erschien zuerst im medico-Rundschreiben 04/2015. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!