Das Ende der Ohnmacht

Medizinische Nothilfe für die lokalen Basiskomitees in Syrien

15.12.2011   Lesezeit: 5 min

Mohamed Bouazizi bewies posthum, dass nicht nur Staatsführer und Militärchefs Geschichte schreiben. Die erfolgreichen Revolten in Tunesien und Ägypten machten allen arabischen Herrschern klar, dass ihre Stunde geschlagen hat. Die Jahrzehnte der Furcht, der Bann aus staatlicher Willkür und Folter, der die Gesellschaften im Maghreb und auf der arabischen Halbinsel gefangen hielt, wurde gebrochen; die politische Landkarte der Region veränderte sich unwiderruflich. Am 17. Dezember 2011 verbrannte sich der tunesische Gemüsehändler Mohamed Bouazizi aus Protest dagegen, dass sein mobiler Marktstand verboten wurde und nachdem ein Polizist ihn ohrfeigte, damit er versteht, was in dieser Welt wirklich real ist. Sein Tod war Mitauslöser für wochenlange Proteste in Tunesien und schließlich für den Sturz des Diktators Ben Ali. Spätestens als der ägyptische Pharao Mubarak abdanken musste, begann die arabische Erde zu beben. Der Slogan, der die Proteste zwischen Tunis und Sanaa (Jemen) verband, lautete unabhängig von Religion und sozialer Herkunft: „Karama!“ – Würde, und: „Das Volk will den Sturz des Regimes!“. Auf einmal bedeutete „Revolution“ nicht länger Militärputsch (1952 Ägypten, 1961 Syrien, 1969 Libyen), sondern tatsächliche Erhebung von unten. Auf einmal besetzte die protestierende Menge den öffentlichen Raum, der zuletzt nur noch einer selbstreferentiellen Staatspropaganda vorbehalten war – und redete selbst. Passive Untertanen wurden zu freien Bürgern.

Die Herrschenden in den arabischen Ländern waren es Jahrzehnte gewöhnt, ihren Gesellschaften mit Verachtung und Herablassung zu begegnen. Ihre Sprache kannte keinen Dialog und sie sahen in ihrem Publikum bloß Empfänger von Botschaften. Diese autokratische Taubheit, die gesellschaftliche Kritik bestenfalls als abstruses Geräusch einer undifferenzierten Masse registrierte, wurde zu einem entscheidenden Faktor für die Dynamik der Revolte.

Syrien: Akteur ohne Erbe

Auch Syriens Präsidentensohn und Präsident Bashar al-Assad kannte bis zum Ausbruch der jüngsten Revolte keinen wirklichen Dialog und sah in der syrischen Gesellschaft nur einen unkritischen Resonanzboden für seine Botschaften. Anstatt die forcierte Gewalt gegen die Protestbewegung zu beenden, behauptet er bis heute, dass in erster Linie „feindliche Kräfte“, speziell die im Land verhassten Amerikaner, Saudis und „Zionisten“ hinter dem Aufruhr stecken.

Seit vierzig Jahren steht Syrien unter der lähmenden Vormundschaft der Baath-Partei, einer repressiven Einparteienherrschaft, die zwar verhältnismäßig weniger blutdürstig als die im Irak war, das Land aber nicht minder durch mafiöse Machtstrukturen systematisch ausgebeutet und mit einer Kultur der Angst geschlagen hat. In der arabischen Welt ist sie nahezu beispiellos – vom Libyens Gaddafi abgesehen, jedoch ohne dessen Erdöl. Sie verbindet die Korruption der ehemals sowjetischen Republiken mit einer polizeilich überwachten Abschottung nach chinesischem Muster.

Seit Wochen tötet der syrische Sicherheitsapparat im Auftrag der Assad-Sippe nach Belieben, Schulen und Fußballstadien wurden in Gefangenenlager und Folterzentralen verwandelt. Wie dramatisch die Lage in Syrien ist, ging jüngst aus einem Bericht hervor, den die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Navi Pillay, im Uno-Sicherheitsrat vorlegte. Danach sollen seit Beginn des Aufstands 5000 Zivilisten – Erwachsene wie Kinder – getötet worden sein. Viele der Gräueltaten werden erst nach und nach bekannt: So hat die UNO allein seit Anfang Dezember Informationen über weitere 1000 Toten erhalten. „Dies war das schrecklichste Treffen, dass wir im Sicherheitsrat in den vergangenen zwei Jahren gehabt haben“, sagt der britische Botschafter bei der UNO, Mark Lyall Grant, nachdem er den Bericht über Folter, Erschießungen und Entführungen gehört hatte.

Der Mut der Demokratiebewegung ist trotz täglicher Todesmeldungen noch nicht gebrochen. Angesichts des fortgesetzten Staatsterrors kündigt sich aber die Verwilderung des zu anfangs friedlichen Aufstands entlang konfessioneller Bruchlinien an. Es steigen die konfessionellen Auseinandersetzungen zwischen der (vorwiegend) sunnitischen Unterschicht und der dem Regime verbundenen alawitischen Glaubengruppe. Freischärler aus der sunnitischen Bevölkerungsgruppe, zumeist Deserteure der syrischen Armee, greifen alawitische Zivilisten an; alawitische Schlägertrupps des Präsidenten-Clans überfallen Oppositionelle. Der arabische Nachrichtensender Al Arabia meldete unlängst, dass sich angeblich bereits 600 libysche Milizionäre der neuen „Freien Syrischen Armee“ angeschlossen hätten und an der türkisch-syrischen Grenze auf ihren Einsatz warteten. Es wird darüber spekuliert, dass sich radikal-religiöse salafistische Gruppen aus dem Libanon und dem Irak den Aufständischen angeschlossen haben, während schiitische Milizionäre aus beiden Ländern und dem Iran die Sondereinheiten des Regimes beraten würden.

Medizinische Nothilfe für die lokalen Basiskomitees

Gegen alle Rufe nach einem militärischen Eingriff von außen und gegen die gefährliche Entwicklung zur Bewaffnung der Revolution, setzen die in Syrien landesweit aktiven Local Coordination Committees (LCC) weiterhin auf friedlichen Wandel. Ihre jungen Aktivisten organisieren wöchentlich Demonstrationen, veröffentlichen Berichte und Handyfilme via Internet. Die vorwiegend säkulare Basisbewegung kritisiert die Militarisierung des Aufstandes und lehnt zugleich jede Intervention von außen ab. Doch die Komitees wissen auch, dass der Assad-Clan nicht so schnell weichen wird und bitten deshalb um internationale Solidarität – und finanzielle Hilfe.

medico international leistet jetzt mit Strukturen der LCC medizinische Notfallhilfe in Syrien. Konkret geht es um die Unterstützung der medizinischen Versorgung in den Untergrundkliniken der Opposition. Die humanitäre Situation in den Zentren des Aufstands, den Städten und Dörfern im Westen des Landes (Homs, Hama, Daraa), ist vor allem für Verletzte dramatisch, da das syrische Regime gezielt auch in Krankenhäusern nach ihnen fahndet. Es wurden bereits Verletzten aus Krankenhäusern entführt und ermordet. Auch versucht das Regime, durch eine engmaschige Kontrolle der Blutbanken und -Konserven gezielt Opfer der Proteste zu identifizieren und ihrer habhaft zu werden.

Die Versorgung der Verletzten findet daher zunehmend außerhalb der öffentlichen Krankenhäuser statt, in Privatwohnungen, die in regelrechte Lazarette verwandelt wurden, oder in den Hinterzimmern von Arztpraxen. Getragen werden diese informellen bis klandestinen Strukturen von engagierten ÄrztInnen und anderem medizinischen Personal, die mit Sachmitteln von den LCCs unterstützt werden. Die medizinischen Teams kommunizieren mittels Web 2.0 ihren Sachmittelbedarf (Medikamente, medizinisches Verbrauchsmaterial, aktuell besonders auch Material für Bluttransfusionen) an die LCCs, die die Beschaffung über ihre Strukturen im benachbarten Ausland organisieren, die Güter dann nach Syrien schmuggeln lassen und dort an die Teams verteilen.

Spendenstichwort

Über vertrauenswürdige Kontakte unterstützt medico die medizinische Notfallhilfe mit Eigenmitteln von 10.000 Euro. Für die weitere Arbeit bitten wir um Spenden. Das Spendenstichwort der Solidarität lautet: Nahost.

Spendenkonto: 1800
Frankfurter Sparkasse
BLZ 500 502 01

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