Interview

"Das Gesundheitssystem in Kobanê ist kollabiert"

03.02.2015   Lesezeit: 5 min

Sieben Tage nach dem Ende der Kämpfe in der Stadt. Ein Interview mit Dr. Nassan Ahmed, Gesundheitsminister der Kantonsverwaltung Kobane.

Es ist nicht mehr als eine schlechte Notversorgung. Die wenigen verbliebenden Ärzte arbeiten seit Beginn des Krieges rund um die Uhr in zwei Kellerkliniken. Denn auch wenn Kobane frei ist, hat der Krieg noch nicht aufgehört. Zurückkehrende Zivilisten werden Opfer von Blindgängern und Sprengfallen, die der IS in den Trümmern hinterlassen hat. Dazu gibt es in den Kämpfen um die Befreiung der Dörfer im Umland weiter täglich Verletzte und Tote.

Wie ist die aktuelle gesundheitliche Versorgung in Kobane?

Das gesamte Gesundheitssystem kollabierte während des Krieges. Bevor unsere Stadt angegriffen wurde, gab es drei Krankenhäuser in der Stadt. Der IS beschoss gezielt die medizinischen Einrichtungen, um unsere Verteidigungskraft zu schwächen und die Bevölkerung zu zermürben. Das neue Krankenhaus am Stadtrand wurde sehr früh durch Sprengminen schwer beschädigt. Hier war auch unser Medikamentenlager und unsere wichtigsten medizinischen Geräte und Labore, darunter auch die Blutbank, die uns medico lieferte. Das große Krankenhaus wurde später im Zuge der Kämpfe durch einen Luftschlag vollständig zur Ruine gebombt. Das Hospital im Zentrum wurde durch einen Selbstmordanschlag des IS zerstört. Das Krankenhaus im Westen wurde verwüstet und alle Geräte gestohlen. Die letzte Gesundheitsstation in Grenznähe wurde im Dezember zerstört.

Können unter diesen Bedingungen jetzt überhaupt die Flüchtlinge zurückkehren?

Wir arbeiten heute in zwei Kellerkliniken mit einfachsten Geräten. Es ist nicht mehr als eine schlechte Notversorgung. Die wenigen verbliebenden Ärzte arbeiten hier seit Beginn des Krieges rund um die Uhr. Denn auch wenn Kobane frei ist, hat der Krieg noch nicht aufgehört. Zurückkehrende Zivilisten werden Opfer von Blindgängern und Sprengfallen, die der IS in den Trümmern hinterlassen hat. Dazu gibt es in den Kämpfen um die Befreiung der Dörfer im Umland weiter täglich Verletzte und Tote.

Ein großes Problem sind jetzt, eine Woche nach dem Ende der Kämpfe in Kobane, die Leichen hunderter IS-Terroristen, die nicht nur in den Straßen der östlichen Stadtviertel liegen, sondern auch unter den Trümmern von Häusern verschüttet sind. Wir haben keine Erfahrung mit einer professionellen Leichenentsorgung in dieser Größenordnung und es beschämt uns auch, dass uns die Leichensäcke fehlen, um die Toten von unseren Straßen zu räumen zu können. Hunde und sogar Hühner fressen an den Toten und wir befürchten neue Krankheiten. Deswegen müssen die Flüchtlinge noch etwas warten, auch wenn wir wissen, dass viele eigentlich sofort zurückkehren wollen.

Wie versuchen Sie jetzt den Neuanfang zu bewältigen?

Wir brauchen internationale Hilfe. Wir haben im Rahmen des geplanten Wiederaufbaus von Kobane mehrere Kommissionen gegründet, die die Schäden schätzen sollen und für bestimmte Bereiche zuständig sind. Zwei Komitees kümmern sich um die Gesundheitsfragen, eines um eine Übergangstruktur für die nächsten Monate, ein anderes ist für die Leichenräumung zuständig. Wir müssen auch Wasserproben nehmen um zu analysieren, ob die Kämpfe und die verwendete Munition möglicherweise die Brunnen verunreinigten.

Wieviel Ärzte arbeiten heute in Kobane?

Zurzeit haben wir sechs Ärzte und 10 Krankenschwestern und -pfleger permanent in der Stadt. Viele Ärzte sind im letzten Jahr gegangen. Die noch da sind, sind völlig erschöpft. Unterstützung bekamen sie zeitweise von kurdischen Ärzten aus der Türkei, die aber immer nur wenige Wochen blieben, weil die Bedingungen so gefährlich wurden, als die Kämpfe zwischenzeitlich das Zentrum der Stadt erreicht hatten. Der Krieg in Kobane war unmenschlich und menschlich zugleich. Wir gingen an die Grenze unserer Möglichkeiten, wir hatten einen unmenschlichen Gegner, aber sehr viele Menschen und besonders die Ärzte zeigten eine ungeahnte menschliche Stärke und Würde.

Gibt es schon erste Pläne für den Wiederaufbau der Krankenhäuser?

Wir wissen noch nicht, wie Kobane in Zukunft aussehen wird. Wir wissen noch nicht, was wir wiederaufbauen können und was wir vielleicht auch zur Erinnerung an unseren Widerstand als Ruinen der Erinnerung belassen wollen. Daher haben wir noch keinerlei Vorstellung über die Orte der neuen Krankenhäuser. Aber sobald die Flüchtlinge zurückkehren, brauchen wir eine angemessene medizinische Grundversorgung. Wir denken eher an Containerkliniken und  mobile medizinische  Einheiten, die auch die umliegenden Dörfer versorgen können. Ganz unmittelbar benötigen wir ein neues Labor, Sauerstoffgeräte, eine neue Blutbank und bessere OP-Möglichkeiten. Und wir brauchen Training für Physiotherapeuten. Viele Verwundete, unter ihnen viele junge Kämpferinnen und Kämpfer der kurdischen Selbstverteidigung, drohen zu verkrüppeln, weil wir keine sachgerechte Nachbehandlung anbieten können. Das ist in dieser Dimension auch eine neue Herausforderung für uns.

Welche Rolle spielt die Gesundheit für die Zukunft von Kobane?

Der Krieg um Kobane und unserer Sieg ist nicht nur für uns Kurden von Bedeutung. Wir haben immer gesagt, dass wir auch für die Idee der Demokratie in der Welt kämpfen. Hätte der IS in Kobane gesiegt, dann hätte er möglicherweise auch in ganz Syrien und im Irak weiter siegen können. Die grausamen Attentate in Paris und die Ermordung der zwei Japaner zeigen, dass der IS in die Defensive geraten ist und nur noch mit völliger Brutalität antworten kann. Wir setzten dieser Gewalt unsere Idee der Demokratie und des Zusammenlebens entgegen. Das haben wir immer gesagt. Aber ohne eine umfassende Gesundheit gibt es kein demokratisches Zusammenleben. Gesundheit braucht mehr als Medikamente. Gesundheit bedeutet auch Strom, Kühlschränke, sauberes Wasser und saubere Luft. Für uns ist Gesundheit ein sozialer und politischer Wert im zukünftigen Kobane.

Das Interview führte Martin Glasenapp von medico international


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