Das Ringen um eine dritte Option

Krieg ohne Ende? Die Entwicklung in Syrien

08.05.2013   Lesezeit: 8 min

Im Dezember 2012 waren die Hoffnungen, die mit dem ein Jahr zuvor begonnenen Aufstand in Syrien einhergingen, bei vielen Betrachtern einem lähmenden Ohnmachtsgefühl gewichen. In Syrien gab es keinen zentralen Tahrir-Platz, keine unübersehbare Menge, die den Autokraten zum Abdanken zwingen konnte. Stattdessen schoss das Regime zurück, zumeist in den revoltierenden Vororten. Als jede Demonstration zu einem Begräbnis wurde und jedes Begräbnis eine Demonstration war, bildeten sich die ersten Stadtteilmilizen, zumeist aus Deserteuren. Später gründete sich die sogenannte „Free Syrian Army“, eher ein lockerer Verbund bewaffneter Gruppen als eine wirkliche Armee. Bombenanschläge erschütterten Damaskus, Luftangriffe die Vorstädte. Berichte von Massakern drangen an die Öffentlichkeit. Hinzu kam eine beginnende Konfessionalisierung durch radikalreligiöse Gruppen, ausländische Dschihadisten eröffneten eine neue Kriegsfront. Dazu das wachsende Leid der Zivilbevölkerung, die faktischen oder drohenden Einmischungen von außen – diese Gemengelage beschwor Haltungen herauf, sich fatalistisch abzuwenden oder gar eine Wiederkehr des „Kampfs der Kulturen“ zu vermuten.

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Audio: Martin Glasenapp (medico international) zur Lage in Syrien auf hr-iNFO am 16.5.2013

Vor diesem Hintergrund veröffentlichte medico am 10. Dezember, dem Tag der Menschenrechte, zusammen

mit der zivilgesellschaftlichen Initiative „Adopt a Revolution“ einen Solidaritätsaufruf für die syrische Demokratiebewegung, dem sich über 60 prominente Erstunterzeichner aus Politik, Wissenschaft, Kunst und Kultur anschlossen: „In Syrien droht die Zerstörung des Gemeinwesens durch eine Gewaltherrschaft, die ihren Sturz auf unabsehbare Zeit herauszögern will, und durch eine militärische Gegengewalt, die nicht siegen kann. Doch liegt die syrische Tragödie auch darin, dass die Zukunft des Landes längst nicht mehr allein in den Händen seiner Bürgerinnen und Bürger liegt. Jede militärische Aufrüstung der Anrainerländer birgt die Gefahr einer Regionalisierung des Krieges. Jede andere Form der offenen militärischen Intervention wird die politischen Kräfte an den Rand drängen und die Opposition in Syrien weiter spalten. Abwarten und Zuschauen droht aber zu ähnlich verheerenden Resultaten zu führen.“ Durch die bitteren Widersprüche des syrischen Konflikts hindurch forderte medico, an einer dritten Option festzuhalten. Das aber ist umso eher möglich, je besser man die Hintergründe des Aufstandes versteht, die Dynamiken nachzuvollziehen versucht und die Motive derjenigen Kräfte, die trotz allem an der zivilen Perspektive festhalten, präsent hält.

Der soziale Charakter der Revolte

Der syrische Aufstand gegen das Regime von Präsident Bashar al-Assad erhob sich in einer Gesellschaft, in der der Wohlstand nie zuvor derart ungleich verteilt gewesen war. 50 Prozent des Reichtums konzentrierten sich auf nur fünf Prozent der Bevölkerung. 20 Prozent lebten unterhalb der Armutsgrenze, 30 Prozent der Bevölkerung und 58 Prozent der unter 24-Jährigen waren arbeitslos. Eine ganze junge Generation war ohne wirtschaftliche Perspektive herangewachsen. All dies ist Folge davon, dass Assad seit seiner Amtseinführung im Jahr 2001 die staatliche Wirtschaft dereguliert hat. Der ländliche Raum wurde vernachlässigt, der öffentliche Sektor sowie staatliche Versorgungsstrukturen wurden abgebaut und die neu entstandene Privatwirtschaft von einer räuberischen Elite der New Economy kontrolliert. Dabei setzte die Baath-Partei, nachdem sie 1963 die Macht übernommen hatte, die sie bis heute nie wieder abgab, noch eine umfassende Bodenreform um. Größere Ländereien wurden enteignet, Pächter, landlose Bauern und Landarbeiter konnten den Boden preiswert erwerben. Es gehört daher zur Ironie der syrischen Revolte, dass ein Regime seine erbittertsten Feinde unter den Nachkommen jener Bauernschaft findet, die vor 50 Jahren mit einem modernen Entwicklungsversprechen aus sklavereiähnlichen Arbeitsverhältnissen befreit worden war. Daher lag der Beginn der Protestbewegung 2011 nicht zufällig in der Peripherie, genauer: in den grauen Agglomerationsgürteln der größeren Städte Daraa, Hama, Homs und vor allem Damaskus. Es ist jener suburbane Ballungsraum, in dem sich in der Vergangenheit Hunderttausende von ehemaligen Bauern niedergelassen haben. So richtig die Feststellung ist, dass der Bürgerkrieg diesen sozialen Charakter der Revolte entlang konfessioneller Bruchlinien zu überlagern droht, so falsch wäre es, zu vergessen, dass der Aufstand noch immer auch eine Bewegung der Armen gegen die Privilegierten ist. In der BBC betonte unlängst ein Händler aus Aleppo, dass man die „Klassenkomponente“ des syrischen Aufstands nicht ignorieren könne: „Für die Rebellen gibt es eine 100-prozentige Korrelation zwischen dem Regime und den Reichen. Wenn du Geld hast, bist du Teil der Machtelite.“

Die syrische Gesellschaft lebte jahrzehntelang im permanenten Ausnahmezustand eines formell säkularen Staatswesens, einer Republik der Angst, in der das Einvernehmen der Regierten nur durch einen allgegenwärtigen Überwachungsapparat garantiert werden konnte. Hier liegt die zweite „blutige“ Wahrheit der syrischen Tragödie begründet: Dass ein Land mit einer dezidiert nicht-konfessionellen Verfassung durch einen sich zunehmend religiös aufladenden Konflikt, zu dessen Vermeidung die Verfassung entworfen worden war, begonnen hat, sich selbst zu zerstören. In Syrien zeigt sich, dass der große ideologische Kampf einer arabisch-nationalistischen Fortschrittsmoderne gegen das politisch-religiöse Projekt der Muslimbrüder verloren zu sein scheint. Da in Syrien seit dem Ausbruch der Proteste sämtliche Plätze von der Geheimpolizei und Armee abgeriegelt und kontrolliert wurden, weil in unbewaffnete Demonstrationen geschossen wurde und verletzte Demonstranten vom Geheimdienst aus Krankenhäusern verschleppt wurden, schufen sich die Menschen in den Moscheen (und einzelnen Kirchen) einen neuen öffentlichen Raum, kamen vor allem zum Freitagsgebet Muslime, aber auch Christen und Alawiten zusammen, um gegen die herrschende Despotie zu protestieren. Wenn also junge syrische Rebellen in Homs, Hama oder Idlib rufen, „wir knien vor niemandem außer Gott“, ist dieses offensive Glaubensbekenntnis nicht nur eine demonstrative Zurückweisung des formell säkularen Regimes und eines quasireligiösen Familienkultes um den Präsidenten. Vielmehr wird die Religion unmittelbare Stütze eines Aufstandes und gibt dem massenhaften Aufruhr die Kraft, sich dem repressiven System entgegenzustellen. Ist es daher nicht zumindest erklärlich, dass in einer Situation, in der alles Bestehende nur der staatlichen Willkür dient, der Rückgriff auf Traditionen und religiöse Institutionen erfolgt und damit zugleich auch auf rückwärtsgewandte und ausschließende Tendenzen?

Wege jenseits der Militarisierung

medico solidarisierte sich von Beginn an mit den Protesten und versuchte Partnerkontakte zu den mutigen Aktivistinnen und Aktivisten herzustellen, die für Freiheit, Demokratie und Würde demonstrierten. Bewusst begaben wir uns in eine praktische Suchbewegung, wie unsere Unterstützung von elementaren Bürgerrechten

und der Idee von sozialer Gleichberechtigung im syrischen Geschehen manifest werden kann. Denn die universelle Idee der Aufklärung bedeutet auch, sich mit demokratischen Aufbrüchen zu solidarisieren, selbst wenn die Bewegungen nicht allein von einem säkularen oder klassisch „linken“ Konsens geprägt sind. Die Menschen fordern ja nicht allein eine bessere Zukunft und ein gutes Leben, sie rebellieren auch gegen die monströse Ausgeburt einer autoritären Entwicklungsmoderne. Das galt für Tunesien, Ägypten und Jemen und gilt besonders für Syrien. Zwar ist die arabische Welt innerhalb der letzten Jahre unwiderruflich in das 21. Jahrhundert eingetreten, dennoch stehen die Zeichen auf Restauration und einen möglichen Regionalkrieg. Insbesondere die Feudalmonarchen der Golfstaaten versuchen, die syrische Opposition gegen das „gottlose“ Regime in Damaskus zu instrumentalisieren.

medico bleibt weiterhin an der Seite derer, die sich für ein freies und sozial gerechtes Syrien einsetzen. Der demokratische Aufbruch einer ganzen jungen Generation droht erstickt zu werden. Unser solidarischer Beistand gilt all jenen Aktivistinnen und Aktivisten, die lokale Initiativen und medizinische Hilfsstrukturen unterstützen, die noch immer unbewaffnet für eine demokratische Gesellschaft in Syrien streiten. Trotz des eskalierenden Bürgerkriegs stehen sie weiter für eine dritte Handlungsoption, jenseits der bloßen Unterwerfung unter die herrschende Macht und dem sich ausbreitenden konfessionalisierten Terror, jenseits der inneren wie äußeren Militarisierung.

Auch wenn unsere Möglichkeiten begrenzt sind, versuchen wir verantwortungsvoll zu handeln. Gibt es Erfolgsaussichten? Samuel Beckett hat in „Worstward Ho!“ bereits die Antwort gegeben: „Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern.“

Solidarische Hilfe in Zeiten des Krieges: Was medico konkret macht

Ärztliche Nothilfe in Syrien: Seit Ende des Jahres 2011 unterstützen wir Notfallkliniken der oppositionellen Basiskomitees, die unter immer schwierigeren Bedingungen alles tun, um Menschenleben zu retten. Diese Kliniken sind illegal und verboten und die Ärzte, die dort arbeiten, bringen sich in höchste Lebensgefahr.

Syrisch-kurdische Zivilgesellschaft: Im kurdischen Serê Kanîyê (Ras Al Ain) nahe der türkischen Grenze unterstützt medico das lokale Bürgerkomitee Hêwî (Kurdisch: „Hoffnung“). Das ehrenamtliche und parteiunabhängige Komitee aus Rechtsanwälten, Journalisten und Handwerkern versorgt ausgebombte und obdachlos gewordene Familien, verteilt Nahrungsmittel und legt eine Datenbank über die Kriegsschäden an.

Hilfe für Helfer in Damaskus: Das palästinensische Flüchtlingslager Yarmouk mit mehr als 150.000 Einwohnern wird immer mehr zum Zufluchtsort von Syrern. Die palästinensische Jafra-Foundation verteilte mit Unterstützung von medico Lebensmittel an besonders bedürftige Flüchtlinge. Hinzu kommt ein Notschulprogramm.

Flüchtlingsversorgung im Libanon: Mehr als 400.000 syrische Flüchtlinge haben im Nachbarland Libanon Zuflucht gefunden. Mit Förderung des Auswärtigen Amtes unterstützt medico die libanesische Hilfsorganisation AMEL bei der medizinischen Nothilfe für syrische Flüchtlinge in der nördlichen Beeka-Ebene. Im Ein-el-Hilweh-Camp ermöglicht medico außerdem der Nashet Association die Betreuung und Versorgung palästinensischer Flüchtlinge aus Syrien. Unser Partner bot damit auch eine säkulare Alternative zur starken Präsenz islamischer Hilfswerke.

Aufklärung in Deutschland: medico geht es auch um die politische Solidarität mit der zivilen und unbewaffneten Oppositionsbewegung. Anfang 2012 bildete sich aus deutschen und syrischen Aktivisten die Solidaritätsinitiative „Adopt a Revolution – den Syrischen Frühling unterstützen!”. medico berät die Initiative und finanzierte die Medien- und Öffentlichkeitsarbeit lokaler Basiskomitees in Syrien.

Für die weitere Arbeit bitten wir um Spenden unter dem Stichwort "Syrien".

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