Betroffenheit, Ohnmacht, Tragödie – das sind die Schlagworte der medialen Berichterstattung über Syrien. Eine politische Rettung ist nicht in Sicht. Was können wir tun, wenn wir nicht wegschauen und schweigen wollen?
Wie schon zuvor in Tunesien und Ägypten begann der Arabische Frühling auch in Syrien mit einem Fest der Hoffnung. Allwöchentlich versammelten sich die Menschen, um friedlich für ihre Freiheit zu demonstrieren. Aber die demokratischen Proteste verwandelten sich in Aufstände öffentlicher Trauer und Empörung. Nahezu jede Demonstration wurde ein Begräbnis und jedes Begräbnis eine Demonstration. Das Regime von Baschar al-Assad setzte von Anbeginn auf unerbittliche Härte, verweigerte jeden ernsthaften Dialog, jede einvernehmliche politische Lösung. Die AktivistInnen der lokalen Bürgerkomitees wurden verhaftet und gefoltert, tausende friedlicher DemonstrantInnen erschossen, KünstlerInnen und JournalistInnen gezielt ermordet.
Nach Monaten des friedlichen Widerstandes desertierten Soldaten. Sie weigerten sich, auf unbewaffnete Protestierende zu schießen und bildeten die oppositionelle Freie Syrische Armee (FSA). Die Shabbiha-Sondereinsatzgruppen des Regimes begingen gezielte Massaker, ausländische Kämpfer kamen ins Land. Es begannen Häuserkämpfe um ganze Stadtviertel und Ortschaften; blutige Anschläge und tägliche Luftangriffe des Regimes forderten ungezählte Tote. Die Armee schreckte nicht vor dem Einsatz von Streubomben in Wohngebieten zurück. Heute gleichen große Landstriche Syriens einem Alptraum im Wachzustand: Idlib, Homs, Serê Kaniyê (Ras Al Ain), Aleppo, die Vorstädte von Damaskus, Daraa. Ausgelöschte Lebenswelten. Zwischen den Trümmern Menschen, die ihrer Gegenwart, ihrer Vergangenheit und Zukunft beraubt werden. Hunderttausende fliehen vor der ethnisch-religiösen Gewalt des Regimes wie vor der bewaffneter salafistischer Milizionäre. Eine Apokalypse.
In Syrien droht die Zerstörung des Gemeinwesens durch eine Gewaltherrschaft, die ihren Sturz auf unabsehbare Zeit hinauszögern will, und durch eine militärische Gegengewalt, deren Sieg nicht absehbar ist. Auch deshalb ist die fragmentierte politische Opposition im Exil aufgefordert, ihren Beitrag zu einem unabhängigen und pluralistischen Syrien zu leisten. Doch liegt die syrische Tragödie auch darin, dass die Zukunft des Landes längst nicht mehr allein in den Händen seiner BürgerInnen liegt: In Syrien kreuzen sich nicht nur türkische, iranische und saudi-arabische Interessen, sondern auch „östliche“ und „westliche“ Außenpolitik. Das fand seinen Ausdruck im Scheitern der UN-Friedensmission von Kofi Annan und der anhaltenden Selbstblockade im UN-Sicherheitsrat.
Die Lage in Syrien erscheint hoffnungslos. Kein Dialog ist in Sicht und niemand scheint das andauernde Töten stoppen zu können. Jede Waffenlieferung – ob aus Russland, den USA, dem Iran, Europa, der Türkei oder den Golfstaaten – wird die ohnehin bestehende humanitäre Katastrophe verschlimmern. Jede militärische Aufrüstung der Anrainerländer birgt die Gefahr einer Regionalisierung des Krieges. Jede andere Form der offenen militärischen Intervention wird die politischen Kräfte an den Rand drängen und die Opposition in Syrien weiter spalten. Abwarten und Zuschauen droht aber zu ähnlich verheerenden Resultaten zu führen.
Wir, die UnterzeichnerInnen, hoffen weiterhin auf eine friedliche Lösung. Wir wissen, wie begrenzt unsere Möglichkeiten sind. Doch wir können versuchen, verantwortungsvoll zu handeln.
Vor anderthalb Jahren hat eine junge Generation in Syrien ihren Willen zur Freiheit erklärt. Für diese mutigen Frauen und Männer gibt es keinen Weg zurück in die alte Republik der Angst. Unbewaffnete lokale Bürgerkomitees, kurdische Initiativen, Studentengruppen, aber auch palästinensische Jugendliche verweigern sich der militärischen Logik der Zerstörung und verteidigen den demokratischen Aufbruch. Sie helfen nicht nur Verwundeten und Ausgebombten, sondern verteidigen auch die Interkonfessionalität der syrischen Demokratiebewegung gegen die religiöse Hetze des Regimes wie gegen die immer stärker werdenden radikal-islamischen Tendenzen innerhalb der Freien Syrischen Armee und protestieren gegen tagtägliche Menschenrechtsverletzungen. Noch immer finden jeden Freitag hunderte von unbewaffneten Demonstrationen statt; weiterhin versuchen AktivistInnen dort, wo sich der Staat zurückgezogen hat, das öffentliche Leben aufrechtzuerhalten. Sie alle, vor allem die vielen aktivistischen Frauen, haben keine hier bekannten Namen und kein prominentes Gesicht. Doch sie sind die neue Generation Syriens, die nicht nur Nachbarschaftshilfe für unzählige Inlandsflüchtlinge leistet, sondern Tag für Tag den Boden für ein zukünftiges demokratisches, multi-ethnisches und multi-religiöses Land bereitet. Ihnen gilt unser solidarischer Beistand, unser Respekt und unsere praktische politische Unterstützung.
Wir appellieren an Medien und Öffentlichkeit in Deutschland, das dramatische Geschehen differenziert wahrzunehmen und sich den offenen Blick durch die Bilder der Gewalt nicht verstellen zu lassen. Syrien verschwindet aus dem Blickpunkt der Öffentlichkeit, weil sich das Blutvergießen immer länger hinzieht. Es ist unsere Verantwortung, das zu verhindern.
Unterzeichnen Sie diesen Aufruf und spenden Sie für die humanitäre Nothilfe und das zivilgesellschaftliche Engagement der unbewaffneten lokalen Basiskomitees in Syrien.
Initiiert von medico international und Adopt a Revolution
Spendenkonto: 1800
Stichwort: Syrien
Frankfurter Sparkasse
BLZ 500 502 01
Online-Spenden: www.medico.de/spenden
ErstunterzeichnerInnen
Dr. Arshin Adib-Moghaddam (Centre for Iranian Studies, School of Oriental and African Studies, London), Ferhad Ahma (ASKYA - Assembly of Syrian-Kurdish Youth Abroad), Prof. Katajun Amirpur (Hamburg), Jan van Aken (Stellvertretender Parteivorsitzender, MdB, DIE LINKE), Prof. Elmar Altvater (Berlin), Ali Atassi (Journalist und Filmemacher, Syrien), Imran Ayata (Schriftsteller, Berlin), Dr. David Becker (Psychologe, Berlin), Larissa Bender (Übersetzerin und Journalistin, Köln), Rene Böll (Künstler, Köln), Dr. Manuela Bojadžijev (Berlin), Prof. Ulrich Brandt (Wien), Prof. Micha Brumlik (Frankfurt), Prof. Hauke Brunkhorst (Flensburg), Hikmat Bushnaq-Josting (Vorsitzender Ibn Rushd e.V.), Prof. Michael Corsten (Hildesheim), Prof. Helmut Dahmer (Wien), Prof. Alex Demirović (Berlin), Prof. Hans-Peter Dürr (Träger des Alternativen Nobelpreises, München), Andre Find (about:change e.V.), Thomas Gebauer (Geschäftsführer medico international), Corinna Genschel (Komitee für Grundrechte und Demokratie). Prof. Hans-Joachim Giegel (Jena), Günther Gloser (Staatsminister a.D, MdB, SPD), Prof. Frigga Haug (Berlin), Prof. Wolfgang Fritz Haug (Berlin), Kristin Helberg (Nahostexpertin, Berlin), Ranjith Henayaka (Schriftsteller, Berlin), Raif Hussein (Vorsitzender Deutsch-Palästinensische Gesellschaft und Palästinensische Gemeinde Deutschland, Hannover), Haydar Isik (Schriftsteller, München), Wolfgang Kaleck (Rechtsanwalt, Berlin), Navid Kermani (Schriftsteller, Köln), Michel Kilo (Syrischer Oppositioneller), Katja Kipping (Parteivorsitzende, MdB DIE LINKE ),Tom Koenigs (Vorsitzender Menschenrechtsausschuss, MdB Bündnis 90/Die Grünen), Prof. Ekkehart Krippendorff (Berlin), Shermin Langhoff (Theaterintendantin, Berlin), Prof. Stephan Lessenich (Jena), Dr. Hanno Loewy (Jüdisches Museum Hohenems), Ivesa Lübben (Politologin, Marburg) Dr. Michael Lüders (Islamwissenschaftler, Berlin), Prof. Birgit Mahnkopf (Berlin), Masasit Mati (KünstlerInnenkollektiv, Syrien), Aiman A. Mazyek (Vorsitzender Zentralrat der Muslime in Deutschland), Kerstin Müller (MdB Bündnis 90/Die Grünen, Außenpolitische Sprecherin), Andrea Nahles (MdB, Generalsekretärin der SPD), Dr. Rupert Neudeck (Grünhelme e.V.), Nahla Osman (Aktionsbündnis Freies Syrien), Thomas Ostermeier (künstlerischer Leiter der Schaubühne am Lehniner Platz, Berlin), Elias Perabo (Adopt a Revolution), Ruprecht Polenz (Vorsitzender Auswärtiger Ausschusses, MdB, CDU), Werner Rätz (Mitglied Attac-Koordinierungskreis, Bonn), Stefan Reinecke (Journalist und Publizist, Berlin), Claudia Roth (Bundesvorsitzende Bündnis 90/Grüne), Friedrich Schorlemmer (Theologe und Publizist, Wittenberg), Lutz Schulenburg (Verleger, Edition Nautilus), Peter Spuhler (Generalintendant Badisches Staatstheater, Karlsruhe), Prof. Udo Steinbach (Berlin), Christian Sterzing (Rechtsanwalt, ehemaliger außenpolitischer Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen), Jutta Sundermann (Mitglied Attac-Koordinierungskreis, Wolfenbüttel), Prof. Holm Tetens (Berlin), Ilija Trojanow (Schriftsteller, Wien), Sascha Vogt (Bundesvorsitzender Jusos in der SPD), Najem Wali (Schriftsteller, Berlin), Dr. Stefan Weber (Direktor Museum für Islamische Kunst im Pergamonmuseum, Berlin), Prof. Frieder Otto Wolf (MdEP a.D. Bündnis 90/Die Grünen, Berlin), Helga Wullweber (Rechtsanwältin, Berlin).