Es war kurz vor fünf Uhr morgens. Wegen des anhaltenden Granateneinschlags und der Schüsse des Heckenschützen, die von Zeit zu Zeit zu hören waren, hatten wir nicht geschlafen. Ich hatte insgesamt seit zwei Tagen nur etwa eine Stunde schlafen können. Die verängstigte Mutter betrat den Raum und zog ihre beiden Kinder mit sich fort. Ich hatte mir mit ihnen ein Bett geteilt und die beiden beobachtet. „Die Bombardierung wird stärker, wir müssen in den Keller.” In aller Eile stiegen wir hinunter, und sogleich waren auch noch andere Kinder, Frauen und einige Männer dort. Die Kinder können mittlerweile Raketen von Gewehrschüssen unterscheiden, sie erkennen, ob eine Granate von weitem oder von nahem abgefeuert wird und aus welcher Richtung sie kommt.
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Seit wir die Grenze überquert hatten, liefen vier junge Männer um mich herum, deren Aufgabe es war, mich zu beschützen. Vor lauter Angst, dass mir etwas zustoßen könne, übertrieben sie es sehr mit ihrem Schutz. An der türkischen Grenze hatten sie ein Loch in den Stacheldraht geschnitten, damit ich hindurchschlüpfen konnte. Als sie den Motor anließen, schlug in unserer Nähe eine Granate ein. Wir rasten los, und bis wir die Stadt Sarakib erreichten, gingen die ganze Zeit Granaten nieder. Nach der langen Reise über die türkische Grenze hätten wir eigentlich schlafen sollen. Wir waren weite Strecken im Niemandsland zu Fuß gegangen und waren erschöpft, aber die Familie des Gastgebers hatte uns erwartet. Bis Mitternacht saßen wir dort und sprachen über die Nachbarn, die getötet worden waren, über einen jungen Mann, den man auf dem Platz der Ortschaft umgebracht hatte.
{samaryazbekjpg class="rechts"} Sarakib war eine der ersten Ortschaften, die sich gegen das Regime erhoben hatte. Der Ort wurde hart bestraft, er wurde umzingelt, bombardiert, Menschen verhaftet und getötet. Jetzt beschützt die Freie Syrische Armee (FSA) die Bevölkerung mit fünf Bataillonen. Trotzdem gibt es Scharfschützen inmitten der Ortschaft, die sich auf dem Gebäude für Rundfunk und Fernsehen postiert haben. Neun Scharfschützen, jeder von ihnen hat vier Stunden Dienst. Das Gebäude ist von Panzern umstellt, die manchmal die Ortschaft beschießen. Die Scharfschützen machen laut Aussage der Bevölkerung Jagd auf Menschen und töten wahllos, ohne Unterschied. Die Nachbarin, die gerade in den Keller gekommen war, berichtete mir, dass ihr Haus dem Scharfschützen ungeschützt ausgeliefert sei, dass sie ihren Hof nicht betreten könne, weil der Schütze auf sie und die Kinder schieße, selbst wenn sie im Haus seien. Vor ein paar Tagen hat er auf ein vierjähriges Mädchen geschossen und es in den Rücken getroffen. Nun ist es querschnittgelähmt. Das Mädchen heißt Diana, es ist so zart und schmal, dass ich glaubte, ihr Körper werde unter dem Gewicht der Kugel zusammenbrechen. Dianas Lunge ist voller Blut, sie kann kaum atmen. Vor dem Vorfall mit Diana wurde eine schwangere Frau von einem Scharfschützen getötet.
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Rundschreiben-Podcast
Diesen Artikel als MP3 hören. Sprecher: Stephan Wolf-Schönburg
Ich begleitete eine Gruppe der FSA in die nahe gelegene Ortschaft Binnisch. Dort trafen wir auf eine Gruppe von Kämpfern, es waren mehr als zehn Männer, der Älteste von ihnen nicht einmal 35 Jahre alt. Sie sprühten vor Vitalität und Optimismus, aber sie waren auch erschöpft. Sie entsprachen ganz und gar nicht dem Bild von strengen Islamisten, das viele von der Freien Syrischen Armee haben. Ich begrüßte jeden einzeln mit Handschlag, nur ein Mann legte seine Hand auf die Brust und verbeugte sich respektvoll. Die Freie Syrische Armee besteht nicht aus Salafisten und radikalen Islamisten - zumindest kann ich das über jene Gruppierungen behaupten, die ich getroffen habe. Ich habe zwar einige wenige islamistische Gruppen gesehen, aber sie gehören nicht zu al-Kaida, und es sind keine Salafisten.
Wir saßen auf dem Balkon, blickten auf einen Olivenhain, und plötzlich fielen um uns herum die Bomben. Die nahegelegene Ortschaft Taftanas, die wir vom Balkon aus sehen konnten, wurde beschossen. Ich fragte den Anführer der Gruppe, der uns das Abendessen zubereitet hatte: „Habt ihr keine Angst, dass euch die Granaten auf die Köpfe fallen?” „Nein“, entgegnete er, „wir haben keine Angst, der Tod ist Teil unseres Lebens geworden. Aber wenn Sie das Gefühl haben, sich in Gefahr zu befinden, dann ist das etwas anderes!” Wir setzten das Abendessen fort und redeten weiter. Mich überraschte ihr unbedingter Glauben an die Gerechtigkeit ihrer Sache. Sie sprachen über interne Probleme, aber auch viel über Aleppo. Einige der Männer stammten aus dem Stadtviertel Salah al-Din in Aleppo und bereiteten sich darauf vor, dorthin zurückzukehren. Sie wollten mich nicht mitnehmen, aus Angst vor dem bevorstehenden Kampf. Ich war die einzige Frau unter ihnen, aber die Männer sprachen mit mir, als sei ich Teil der Gruppe.
Während dieser Zusammenkunft wurde mir klar, wie falsch es war, diese Rebellenarmee als einheitlichen Block zu betrachten. Sie besteht aus verschiedenen Bataillonen, und wie im richtigen Leben sind gute und schlechte Menschen dabei, Zivilisten, Islamisten und Gemäßigte, ganz normale Leute, die sich der Freien Syrischen Armee angeschlossen haben, um ihr eigenes Leben und das ihrer Familie zu verteidigen. Sie waren äußerst respektvoll und höflich mir gegenüber. Bevor wir schließlich nach Sarakib zum Haus unseres Gastgebers zurückkehrten, sagte mir ihr Anführer: „Wir gehören alle einem Volk an. Wir und die Alawiten sind Brüder. Wir haben früher nicht so gedacht, wie es das Regime uns jetzt glauben machen will.” Ich schwieg und wusste, auf was er anspielte, komme ich doch aus einer bekannten regimetreuen alawitischen Familie. Ich drückte ihm die Hand und sagte: „Ja, wir waren ein Volk und wir werden ein Volk sein, egal was der Tyrann tut.”
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Während ich diese Zeilen notierte, wurde die Bombardierung von Sarakib wieder intensiviert. Die Kinder hockten neben mir im Keller, beobachteten mich beim Schreiben. Die Frauen saßen beieinander und redeten über die Ereignisse vom Vorabend, welche der Verwandten getötet worden waren. Wegen des ununterbrochenen Bombardements lebten sie im Keller. Eine von ihnen sagte: „Es gibt Leute, die keinen Keller haben. Sie bleiben in ihren Wohnungen, trotz des Beschusses und der Granaten.” Die Menschen der Ortschaft erzählten mir, dass die FSA einmal einen Heckenschützen getötet habe. Daraufhin habe die reguläre Armee die Ortschaft bombardiert. Weil die Bewohner sich schützen wollten, wurden sie beschossen. Eine Frau, die zusammen mit ihren Kindern bei uns im Keller saß, sagte: „Was in Sarakib passiert, ist eine Besatzung, wir leben im Schatten einer Besatzung. Die Flugzeuge bombardieren uns, der Heckenschütze steigt auf unsere Dächer, und die Bomben fallen auf uns herunter. Ohne den Schutz durch die Freie Syrische Armee hätten sie die Stadt längst vernichtet.” Als ich später nachts durch die 25 Kilometer östlich von Aleppo gelegene Stadt Atareb fuhr, verstand ich, was das Wort „vernichten” bedeutet. Atareb ist eine vollkommen zerstörte Stadt. In den Straßen haben Raketen Krater hinterlassen, die Haustüren sind verbrannt, die Häuser zerstört, die Straßen leer, selbst Hundegebell ist in der Nacht nicht zu hören. Eine Geisterstadt ohne Leben.
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Das Bombardement ließ ein wenig nach. Aber stündlich kam eine Kolonne mit etwa 15 Panzern auf ihrem Weg nach Aleppo vorbei. Die bewaffneten Männer sagten, dass heute 80 Panzer vorbeifahren würden und dass die Bombardierung wieder zunehmen würde. Deshalb müssten wir im Keller bleiben. Aber ich musste unbedingt hinaus, ich musste zum Medienbüro, das etwas entfernt lag. Hier gab es kein Internet, keine einzige Möglichkeit zu kommunizieren, nicht einmal mit dem Mobiltelefon. Dann fiel der Strom aus, die Kinder um mich herum drängten sich noch näher an mich heran, die Luft wurde noch stickiger. Die etwas größeren Kinder hatten Angst, aber sie waren still, während die Kleinen zu schreien begannen.
Die Frauen suchten nach Gesprächsthemen. Nur die Männer der FSA waren draußen, aber sie hatten mich nicht mitnehmen wollen. Ich müsse mit den Frauen und Kindern im Keller bleiben, bis der Kampf vorüber sei, sagten sie. Die Leute der FSA, egal von welchem Bataillon, hatten die Panzerkolonnen nicht angegriffen. Im Gegenteil, es waren die Panzer der regulären syrischen Armee, die geschossen hatten, auch der Scharfschütze schoss. Einer der Männer sagte zu mir: „Wir wissen, dass sie bessere und stärkere Waffen besitzen, aber wir haben unseren Mut und unseren Glauben an unsere Revolution. Und wir werden es nicht zulassen, dass sie uns demütigen und beleidigen. Wir werden uns bis zum Tod verteidigen.” Die Frauen begannen zu singen, die Hitze im Keller nahm zu, die Kinder scharten sich um uns, sie spielten mit Granatsplittern. „He Leute, das ist Idlib“, sangen sie, „von hier wirst du dich abwenden. Wunder dich nicht, es ist die Zeit des Erwachens, die Zeit der Stärke und des Siegs. Stürzen, stürzen wirst du Baschar!” Und die Kinder hoben beim Refrain die Stimme: „Stürzen, stürzen wirst du Baschar!” Nach dem Ende des Liedes fügte eine der Frauen hinzu: „Sie drangen in die Häuser ein und raubten alles. Die mit Waffen bestückten Autos kehrten beladen mit unseren gestohlenen Möbeln zurück. Das Militär, die regimetreuen Schabbiha-Milizen und die Sicherheitskräfte haben sich in einigen der Häuser niedergelassen, die sie ausgeraubt hatten. Wir haben seit einem Jahr nicht mehr richtig geschlafen. Ununterbrochen wird geschossen, wie du siehst. So leben wir mit unseren Kindern. Diejenigen, die nicht im Bombardement oder in Haft gestorben sind, warten langsam auf den Tod. Und all das, nur weil wir gegen das Regime von Baschar al-Assad auf die Straße gegangen sind.”
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Kurz nach zwei Uhr. Die Panzerkolonnen, die nach Aleppo fuhren, hatten scheinbar ihre Strecke geändert. Das bedeutete, dass das Bombardement ein wenig nachlassen würde. Nur die Schüsse des Scharfschützen waren weiterhin vernehmbar. Trotzdem traf keine halbe Stunde später ein Trupp der FSA ein. Ich hatte darum gebeten, mich mit ihnen zu treffen. Es war die „Kompanie der Märtyrer von Sarakib“, eine Gruppe von jungen Männern, kaum älter als dreißig Jahre. Studenten, Angestellte, Ladenbesitzer und kleine Landbesitzer. Der Anführer der Truppe war ein junger Mann mit dem Abschluss eines Technikinstituts. Er hatte ein Kleidergeschäft in der Einkaufsstraße von Sarakib besessen, bevor die Armee es geplündert und angezündet hatte. Er hieß Amdschad. Er war ein schweigsamer Mensch mit sprühenden Augen, aber ein wenig traurig. Er begrüßte mich nicht mit Handschlag, verbeugte sich aber respektvoll. Während wir redeten, kehrten die Flugzeuge zurück und kreisten wieder über dem Himmel von Sarakib. Wir hörten eine Bombe, unterbrachen unser Gespräch aber nicht. Diese Einheit war sehr gut organisiert, die Männer waren gemäßigt und äußerst entschlossen. Aber sie hatten zahlreiche Probleme, besonders bezüglich der Finanzierung von Waffen. Doch dieses Problem haben die meisten Bataillone der Freien Syrischen Armee. Ihre Waffen können nicht mit denen der regulären Armee mithalten. Der Erfolg, den sie im Kampf mit der regulären Armee erringen, ist ihrem Mut geschuldet. Einer der Männer der Gruppe sagte: „Wir werden nicht zurückkehren, bis Baschar al-Assad gestürzt ist.” Der Führer der Gruppe griff erst spät ins Gespräch ein: „Was ist denn die Freie Syrische Armee?“, fragte er. „Wir sind unabhängig kämpfende Bataillone, wir unterwerfen uns keiner zentralen Kommandostruktur. Wir agieren hier allein, wir werden nicht unterstützt. Die meiste Unterstützung geht an die Islamisten. Wir haben das Gold unserer Schwestern und Ehefrauen verhökert, um Munition zu kaufen und den Ort zu verteidigen. Wir haben keinen Zusammenhalt, wir sind ein Volkswiderstand. Jede Stadt hat ihren eigenen bewaffneten Widerstand. Wie Sie sehen, haben wir nicht vor, die Scharia einzuführen. Neunzig Prozent der Revolutionäre hier sind wie ich. Wir sind gemäßigt, wir sind Muslime, die an Gott glauben. Aber wir lehnen jede Radikalität ab. Doch ich fürchte, dass sich die Leute, wenn wir allein gelassen werden und das Regime weiterhin Bestand hat, radikalisieren. Das syrische Volk ist verarmt, und nach eineinhalb Jahren denken die Leute an sich selbst, nachdem die Welt sie im Stich gelassen hat. Ich fürchte, dass sich die Dinge zum Schlechten wenden werden.“ Der Mann hörte auf zu sprechen. Wir vernahmen das Geräusch einer Granate, und ich musste zurück in den Keller.
Im Keller wartete eine neue Geschichte auf mich, die eine gerade eingetroffene Frau erzählte: „Der Apfelverkäufer, der heute nach Sarakib gekommen ist, wurde von dem Heckenschützen auf dem Fernsehgebäude umgebracht. Dann kamen die Soldaten, die im Gebäude stationiert sind, nahmen den Karren mit den Äpfeln an sich und fingen an, Äpfel zu essen, während die Leiche des Mannes auf dem Boden lag. Der Sohn des Apfelverkäufers schrie und weinte, dass man ihm zu Hilfe kommen möge, um seinen Vater fortzuschaffen und zu beerdigen. Aber einer der Soldaten hat dem Jungen nur mit einem Wink angedeutet, dass er die Nachbarn um Hilfe rufen soll.” Bevor wir wieder das Geräusch des Flugzeugs hörten, das über unseren Köpfen kreiste, sagte die Frau noch: „Der Ärmste, das war ein Fremder! Der wollte doch bloß seine Äpfel hier verkaufen.”
Aus dem Arabischen von Larissa Bender
Projektstichwort
Die seit 18 Monaten andauernde Rebellion in Syrien blickt in einen Abgrund aus Blut, Folter und Tod. Was als gewaltloser Aufstand begann, verwandelte das Assad-Regime in einen unerbittlichen Entscheidungskrieg. Hinzukommen außersyrische Machtinteressen und Berichte über die zunehmende Präsenz dschihadistischer Freischärler. Seit Beginn der Proteste unterstützt medico unbewaffnete lokale Bürgerkomitees, die weiterhin für eine demokratische Zukunft eines freien Syrien einstehen, Nachbarschaftshilfe für Flüchtlinge aus zerstörten Dörfern oder umkämpften Stadtvierteln leisten und durch ein geheimes Ärztenetzwerk verletzte Oppositionelle versorgen. Im Libanon hilft der medico-Partner AMEL, eine säkulare Hilfsorganisation, syrischen Flüchtlingsfamilien. Das Spendenstichwort lautet: Syrien.