Das Unbehagen in der Globalisierung

Die neoliberale Variante der Eigenverantwortung individualisiert das Scheitern.

05.07.2012   Lesezeit: 6 min

Der Titel unseres Symposiums „Das Unbehagen in der Globalisierung” nimmt Bezug auf Sigmund Freuds kulturkritische Schrift „Das Unbehagen in der Kultur“, die er 1930 verfasste. Kurz und prägnant stellte Freud darin fest, dass wir uns in unserer Kultur nicht wohlfühlen, weil Kultur immer auch mit Einschränkungen einhergeht: mit Triebversagen, der Unterdrückung von Sexualität und Aggression, mit Zwang. Der Mensch der Moderne, so Freud, müsse ein Stück seiner individuellen Glücksmöglichkeiten aufgeben, um ein Stück gesellschaftliche Sicherheit zu gewinnen. Freud betrachtete den Konflikt zwischen den Triebwünschen des Einzelnen und den Werten, die soziale Gemeinwesen für ihre Fortexistenz brauchen, als grundlegend für den Zivilisationsprozess. Das Unbehagen sei struktureller Bestandteil von Kultur - etwas, das das soziale Leben unvermeidbar begleite und deshalb unauflösbar sei.

Die Verhältnisse haben sich seit den Zeiten Freuds verändert. Das Maß an gesellschaftlich auferlegtem Triebverzicht ist geringer geworden. Nicht wenige Verhaltensweisen, die früher als Ausdruck eigennütziger Triebe, als Luxus und Aufsässigkeit unterdrückt wurden, gelten heute als normal. Wenn wir uns in der heutigen Kultur nicht mehr wohlfühlen, dann nicht aufgrund eines Übermaßes an Ordnung, sondern eher wegen des Gegenteils. Mit der Individualisierung und dem Verlust an sozialer Sicherheit ist das Pendel sozusagen in die andere Richtung ausgeschlagen, freilich ohne dass individuelles Glück und Freiheit für alle zugenommen hätten. Denn was sich unterdessen entwickelt hat, ist weniger individuelle Freiheit, als die voranschreitende Unterwerfung aller, auch der privaten Bereiche des Lebens, unter eine von Marktwirtschaft und Verwaltung vorgegebene Zweckrationalität. Jürgen Habermas hat diese Entwicklung völlig treffend als „Kolonisierung der Lebenswelt” beschrieben. Statt Glücksmöglichkeiten zurück gewonnen zu haben, hat der Mensch erfahren müssen, wie auch noch Familie, Bildung und Politik unter die Vorgaben des Marktes subsumiert wurden. Diese „Kolonisierung der Lebenswelt” ist Ursache für das wachsende Unbehagen in den heutigen Gesellschaften.

Wie dieser Prozess vorangeschritten ist, zeigt sich in der Ökonomisierung der menschlichen Existenz, besser: in deren „Verbetriebswirtschaftlichung“. Das heute allseits propagierte Ideal eines flexiblen „unternehmerischen Selbst” verlangt, möglichst „gut aufgestellt” zu sein. Man hält sich fit, um jederzeit ein Maximum an Leistung abrufen zu können, und pflegt Kontakte, in die man strategisch investiert, weil sie im gesellschaftlichen Wettbewerb nützlich sein könnten. Auf diese Weise gerät das Leben zu einer einzigen Verrechnung von In-und Output, wobei der eigentliche Effekt - nämlich möglichst synchron zu den Wirtschaftsabläufen zu funktionieren - kaum noch bewusst wird.

Die neoliberale Variante von Eigenverantwortung ist allerdings zutiefst fremdbestimmt - durchdrungen von wirtschaftlichen und politischen Zwecken, auf deren Gestaltung die Leute selbst kaum noch Einfluss haben. Obendrein ist sie höchst gefährlich. Denn mit der Propagierung einer Eigenverantwortung, der jeder „emotionale Anker“, wie Richard Sennett formulierte, abhanden gekommen ist, wächst das Risiko zu scheitern. Und zu denen, die scheitern, zählen alle, für die es keinen Platz zu geben scheint, die Bewohner der Armutssiedlungen am Rande der Metropolen ebenso wie die gut ausgebildeten jungen Menschen in aller Welt, die keinen Job finden. Sie fallen raus und werden aus Sicht des Systems nutzlos.

Um die Angst vor dem Scheitern, die Angst vor Nutzlosigkeit abzuwehren, bleibt nur eine schier endlose Suche. Die Suche nach einer Identität, für die freilich keine festen Bezugspunkte mehr vorhanden sind; das permanente Bemühen um Anschluss an Umstände, die so schnelllebig sind, dass sie kaum noch Planung zulassen. Was aus dieser hoch flüchtigen Suche resultiert, ist das, was Christoph Türcke ein „flackerndes Bewusstsein” genannt hat: ein Bewusstsein, dessen innerstes Gesetz die Unruhe ist. Und solche Unruhe ist hochgradig systemkonform. Auf perfekte Weise korrespondiert diese innere Getriebenheit mit der Allgegenwart eines Marktes, dessen hochflüchtige Bilderwelt zugleich eine permanente Bewegung erfordert. Mit Blick auf diese rastlose Suche, die eigentlich nie zum Ziel kommt, verwundert es nicht, dass sich Erschöpfung breit macht. Das unternehmerische Selbst mündet in einem „erschöpften Selbst“: in Depression.

Was hat das alles mit den Lebensrealitäten der Menschen im globalen Süden zu tun? Eine ganze Menge, denn mit der globalen Entfesselung des Kapitalismus sind die Vorgaben der Marktwirtschaft bis in die letzten Winkel der Erde vorgedrungen. Auch in den postkolonialen Gesellschaften nimmt das Unbehagen als Folge der Kolonisierung der Lebenswelt zu. Daran haben auch fehlgeleitete entwicklungspolitische Konzepte Anteil, die - zur Bekämpfung der Armut - auf sogenannte „Entrepreneurship“-Modelle gesetzt haben, eben auf das unternehmerische Selbst. Statt z.B. genossenschaftliche Gemeinwesen zu fördern oder den Aufbau von steuerfinanzierten sozialen Sicherungssystemen voranzutreiben, drehten sich in den zurückliegenden zwei Jahrzehnten auffallend viele Hilfsprogramme um die Frage, wie die Einzelnen z.B. via Mikrokrediten für den Wettbewerb unter- und gegeneinander fit gemacht werden. Nicht die Stärkung öffentlicher Gesundheitssysteme, sondern deren Privatisierung war das Ziel, wobei die von den Patienten abverlangten Eigenleistungen, sogenannte user fees, jährlich 100 Mio. Menschen in Armut und Verzweiflung trieben. Der Verlust an sozialer Sicherheit, aber hat auch in den Ländern des Südens psychische Leiden rapide ansteigen lassen. Laut WHO soll die Depression, die derzeit bereits die dritthäufigste Krankheit darstelle, im Jahr 2020 die häufigste sein.

Bei der Beschreibung des Elends der Welt aber ist Vorsicht geboten. Denn auf bemerkenswerte Weise haben wir es nicht nur mit einer Zunahme an psychischem Leiden zu tun, sondern auch mit einer Inflation psychopathologischer Diagnosen, die das Elend am Individuum festmachen. In der Zunahme von Diagnosen wie Depression, ADHS, Posttraumatisches Belastungssyndrom (PTSD) kommt nicht nur das wachsende Unbehagen in der Globalisierung zum Ausdruck, sondern auch eine höchst bedenkliche Individualisierung von gesellschaftlichen Missständen. Statt gesellschaftliche Erlebens- und Verhaltenformen zu pathologisieren, gilt es die Kolonisierung der Lebenswelt zurückzudrängen und das Eigensinnige der Menschen selbst zu verteidigen. Das Unbehagen in der Globalisierung verlangt so vor allem politische Antworten, zu denen auch die Klärung dessen zählt, was angemessene Formen psychosozialer Hilfe für diejenigen sind, die an den Verhältnissen erkranken.

Seit bald 30 Jahren zählt das Bemühen um eine solche psychosoziale Unterstützung zu den Schwerpunkten der Arbeit von medico. Hilfen, die nicht in der Zwangsjacke diagnostischer Kategorien daherkommen, sondern eingebunden sind in ein umfassendes Konzept sozialen Handelns, das auf die Schaffung menschenwürdiger Lebensumstände drängt. Übergreifendes Ziel ist die Förderung von Eigenständigkeit u n d Solidarität, die Schaffung einer anderen, einer solidarischen Welt, in der das Unbehagen in der Globalisierung auf ein Minimum reduziert ist. In unserem Engagement sind wir mit Sigmund Freud davon überzeugt, „dass eine Kultur, welche eine so große Zahl von Teilnehmern unbefriedigt lässt und zur Auflehnung treibt, weder Aussicht hat, sich dauernd zu erhalten, noch es verdient.“

Thomas Gebauer


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