Gerechtigkeit ist Glück

Die psychosozialen Folgen globaler Ausgrenzung und Gewalt

14.06.2013   Lesezeit: 8 min

Wie arbeitet man in Gemeinden, in denen die Grenzen zwischen sozialer Ausgrenzung, Gewalt, psychischer und physischer Vernachlässigung und Traumatisierung fließend sind? Die Frage stellt sich nicht nur in Guatemala. Im südafrikanischen KwaZulu Natal unterstützt medico beispielsweise die psychosoziale Arbeit von SINANI mit durch Aids verwaisten Kindern und den sie betreuenden Familien sowie Gesundheitshelferinnen. Eins von mehr als 20 medico-Projekten im Bereich "Psychosoziale Arbeit".

Weltweit nimmt die Summe der psychischen Erkrankungen und Belastungen zu – insbesondere Depressionen, Angststörungen und Sucht. Dies betrifft zunehmend die armen und ärmsten Länder dieser Erde, in denen es gleichzeitig am wenigsten Hilfsangebote gibt. Faktoren wie Unsicherheit und Hoffnungslosigkeit, rapide soziale Umbrüche, gefährliche und stressreiche Lebensbedingungen sowie das Risiko der Gewalt erhöhen nachweislich die Anfälligkeit, psychisch zu erkranken. Dies gilt besonders in Gesellschaften mit einem hohen Grad an Ungleichheit. Gleichzeitig verschärfen sich durch psychische Erkrankungen Armut, Ungleichheit und Ausgrenzung.

Ungleichheit macht krank

Zugleich gibt es ein neues Phänomen. Der Zusammenhang zwischen struktureller und direkter Gewalt ist enger geworden, aber gleichzeitig unsichtbarer. Der Politikwissenschaftler Peter Lock spricht von der Veralltäglichung kriegerischer Gewalt als Regulativ neoliberaler Globalisierung, die auf der einen Seite extreme Einkommenskonzentrationen und auf der anderen Seite sich ausbreitenden Strukturen sozialer Apartheid produziert hat. In dieser Schattenökonomie entwickelt sich für die Verliererinnen der Globalisierung eine soziale Realität, die durch Überlebenskonkurrenz des ‚Survival of the Fittest’, soziale und sexualisierte Gewalt, Straflosigkeit, Entsolidarisierung und Empathieverlust sowie durch soziale Kälte geprägt ist. Diese subjektive Lebenswirklichkeit bedeutet für viele Menschen, die soziale Realität als privates Scheitern zu erfahren. Sie erleben sich isoliert als Versagerinnen, erleben familiäre Gewalt und Konflikte als persönliche Unfähigkeit, sind mit psychischer Krankheit, Drogen- und Alkoholmissbrauch konfrontiert und haben Vertrauen in sich und die Welt verloren.

Was bedeutet Hilfe in solchen Kontexten? Und was ist hilfreich und was nicht? Der Begriff von psychischen Krankheiten wie z.B. Trauma oder Depression ist von den gesellschaftlichen Bedingungen und den jeweiligen kulturellen Deutungsmustern, unter denen er geprägt wird, nicht zu trennen. Die Globalisierung von biomedizinischen Kategorien wie PTSD (Posttraumatische Belastungsstörung) oder Depression, die Sprache und Erklärungsmodell des Westens durchsetzt, geht einher mit der Privilegierung von Expert_innenwissen und den Vermarktungsinteressen von Psychopharmaka und anderen Therapieprodukten. Medikalisierte Störungsdiagnosen individualisieren das Leiden, sie verhindern die Diskussion über Ursachen, Zusammenhänge und politische Verantwortung und verstärken das Gefühl des privaten Scheiterns.

Rückeroberung von Handlungsfähigkeit

Seit mehr als 20 Jahren beschäftigt medico die Frage, wie den individuellen, sozialen und politischen Auswirkungen massiver Ausgrenzungs- und Gewalterfahrungen begegnet werden kann, wie Gewaltüberlebende und psychisch Kranke ihre Würde und Handlungsfähigkeit zurückgewinnen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden können.

Unsere Arbeit begann mit der Arbeit mit aus der Haft entlassenen Folteropfern in Chile, mit den Versuchen engagierter chilenischer Therapeut_innen der Organisation ILAS, den Folterüberlebenden psychosoziale Hilfe zukommen zu lassen. Schon bald wurde klar, dass es zentral ist, die Betroffenen nicht zu pathologisieren, sie nicht als krank zu betrachten, auch wenn die Folter massive gesundheitliche Störungen zur Folge hatte. Denn krank ist die Folter – die Störungen sind eine normale menschliche Reaktion auf nicht normale unmenschliche Erfahrungen. Für die Überlebenden war die Anerkennung des unermesslichen Leids und die Entprivatisierung der traumatischen Folgen eine Voraussetzung, um wirkliche Hilfe annehmen zu können.

medico unterstützte diese Ansätze und begann eine Auseinandersetzung mit psychosozialer Arbeit, die immer beides im Blick hat: die Entprivatisierung krankmachender Erfahrungen durch die Schaffung von öffentlicher Diskussion über soziale und politische Ursachen und den Respekt vor dem konkreten Leid der Betroffenen, denen Hilfe gebührt. medico mischte sich ein in die Debatte um die psychiatrische Diagnose der posttraumatischen Belastungsstörungen, die genau diesen Zusammenhang ausblendet, kritisiert Therapieangebote, die den politischen, sozialen und kulturellen Kontext ignorieren und die lokale Professionalität entmündigen und sucht den Austausch mit Projektpartnern, die eigene, engagierte Konzepte entwickeln.

Rekonstruktion des Sozialen

Dabei hat sich psychosoziale Hilfe weit über Therapie hinaus entwickelt. Traumatische Erfahrungen in Kontexten extremer Armut und Ausgrenzung erfordern Hilfe für Veränderungsprozesse, die alle Bedürfnisse wahrnimmt und ganzheitlich organisiert ist: Die südafrikanische Organisation Sinani, die mit marginalisierten, gewaltgeprägten Gemeinden arbeitet, begann die Auswirkungen von Armut und Gewalt auf das Gemeinwesen systemisch zu betrachten, die sowohl die Individuen als auch die sozialen Beziehungen und Selbsthilfekräfte massiv beeinflussten: ‚Disempowerment’ - Ohnmacht, Fragmentierung - Spaltung von sozialen Beziehungen, Problemkreisläufe und ethische Korrumpierung von sozialen Werten sind dabei Stichworte. Ausgehend davon entwickelte Sinani Unterstützungsangebote, die solche Dynamiken verändern können. Im Zentrum steht der Aufbau und die Weiterbildung von gemeindeorientierten Strukturen, um der Fragmentierung und Zerstörung von Gemeinschaft entgegenzuwirken und Selbsthilfesysteme zu stärken, aber auch um sichere, stabile Orte zu schaffen, in denen Heilung stattfinden kann. Das können Frauengruppen, junge Männer, Gemeindeführerinnen oder Gesundheitsarbeiterinnen sein. Statt mit Individuen wird mit Strukturen und Multiplikatoren auf verschiedenen Systemebenen gearbeitet, die nach dem Kaskadenprinzip die eigenen Erkenntnisse und Fähigkeiten an andere weitergeben.

Das Thema 'Trauma' wird dann bearbeitet, wenn es auftaucht: Oft in Form von Gruppenkonflikten, extremen emotionalen Reaktionen von Mitgliedern, plötzlichem Misstrauen und Aggressionen unter den Teilnehmenden, Gruppendynamiken des Missbrauchs und der Ausgrenzung. Dann versuchen die Sinani-Kolleg_innen einen Dialog über die Hintergründe zu initiieren und über psychische Folgen von Gewalterfahrungen aufzuklären, der individuelles Verständnis und Wertschätzung untereinander fördert. Je nach Situation gibt es weitere Einzelgespräche, Gruppentreffen und Therapieangebote.

Die medico Projektpraxis zeigt, dass psychosoziale Arbeit hilfreich sein kann, wenn es ihr gelingt, geschützte Räume zu schaffen und zu verteidigen. Hier erfahren Menschen Empathie und Solidarität, hier können sie reflektieren und Heilungsprozesse ausprobieren. Ziel solcher Arbeit ist es, Menschen zu ermöglichen, sich an persönlichen und sozialen Veränderungsprozessen wieder beteiligen zu können.

Solche Orte des Heilens sind im Wesentlichen von Beziehungen geprägt, die eine psychosoziale Haltung ausdrücken: Empathie, Würde, Vertrauen, Respekt und Solidarität. Eine Haltung, die auch die Anerkennung der Komplexität und Verantwortung bedeutet, die Hilfe mit sich bringt.

Usche Merk

Trauma zwischen Projektion und Markt

Die WHO schätzt, dass 75-85% der Menschen mit psychischen Gesundheitsproblemen in Entwicklungsländern keinen Zugang zu öffentlichen Versorgungsstrukturen haben. Die meisten werden, wenn überhaupt, von traditionellen Heilern behandelt.

Wie allerdings sinnvolle Hilfe aussehen kann, ist Gegenstand von heftigen Debatten. Psychisches Leid ist nicht nur von sozialen und politischen Faktoren beeinflusst, sondern als Krankheitsbild von den jeweiligen kulturellen Deutungsmustern und Vorstellungen abhängig.

Hier hat die US amerikanische Psychiatric Association mit dem diagnostischen Manual (DSM)– auch manchmal die Bibel der Psychiatrie genannt - die Deutungshoheit. Biomedizinische und medikalisierte Krankheitsbilder und Hilfsangebote widersprechen jedoch nicht nur häufig den Vorstellungen und Erwartungen der Betroffenen. Sie individualisieren das Leiden durch einen engen Symptomkatalog und definieren es in Pathologien, die manchmal mehr den Marktinteressen von Psychopharmaka und anderer Therapieprodukte zu entsprechen scheinen, als der Sorge um angemessene Hilfe. Manche Zahlen sprechen Bände: In Pakistan und Indien hat der Umsatz von Antidepressiva in den letzten Jahren massiv zugenommen, die meisten davon werden in privaten Apotheken und Arztpraxen verkauft, die sich besonders an die Armen und Marginalisierten richten.

Auch Gewaltopfer in Krisenregionen und Überlebende von Naturkatastrophen wecken immer häufiger das Interesse von Experten aus dem Ausland. Immer wieder werden sie Versuchsobjekt von neuen Therapiemethoden und neurobiologischen Studien. Die Frage, welche Hilfe sich die Betroffenen wünschen würden, rückt in den Hintergrund. Das Thema Trauma scheint, kombiniert mit der Idee schneller traumatherapeutischer Hilfe, geradezu eine Entlastungsstrategie für die mitleidenden Beobachter_innen in gesicherten Lebensverhältnissen zu sein.

Nach dem Tsunami 2005 erlebten die betroffenen Länder was der Autor Ethan Watters als die größte, internationale psychologische Intervention aller Zeiten bezeichnete. Schon zwei Wochen nach dem Unglück beschrieb ein WHO Beobachter irritiert, dass Hunderte von Therapeuten vor Ort seien, die nichts taten und nur im Weg waren, weil sie die Sprache nicht sprachen und nicht wussten, was sie tun sollten. Trotzdem schien es, als ob jeder, der irgendetwas mit Trauma zu tun hat, vor Ort sein wollte und überall wurden Zahlen publiziert, dass mindestens 15% - manche sprachen gar von 90% - der Überlebenden posttraumatische Störungen entwickeln würden. Darunter auch die Pharmafirma Pfizer, die einen Monat später ein Symposium über psychosoziale Hilfe organisierte, auf dem sie das neue Antidepressiva Zoloft anpries, das schon nach wenigen Wochen Wut und „emotionalen Aufruhr“ beseitigen würde. Mit der Volksarmee von Traumatherapeuten kamen auch die Forscher, wie z.B. die Neuropsychologen der Konstanzer Universität, die kurz nach dem Unglück eine Studie über posttraumatische Störungen (PTSD) bei Kindern präsentierten, obwohl selbst das DSM Manual erst von PTSD spricht, wenn Symptome länger als vier Wochen anhalten. All diese Studien und Interventionen waren vollkommen abgetrennt von lokalen Narrativen über die Bedeutung und Auswirkungen des Tsunami. Der Medizinanthropologe Arthur Kleinman nennt das Dehumanisierung. "Die meisten Katastrophen dieser Welt passieren nicht in der westlichen Welt. Und dennoch mischen wir uns ein. Wir nehmen ihnen ihr kulturelles Narrativ weg und zwingen ihnen unseres auf. Das ist ein drastisches Beispiel dafür wie Menschen entmenschlicht werden."

Vielleicht ist es die eigene postmoderne Verunsicherung des Westens durch die Auflösung vormals bindender Sozialbeziehungen und Überzeugungen, deren Projektionen die psychosoziale Hilfswelle seit den 1990er Jahren zur Folge hat, wie die Politologin Vanessa Pupavac vermutet. Ganz im ergebnisorientierten Sinne neoliberalen Denkens wird dabei nach der Kraft sozialer Beziehungen und ihren unberechenbaren, manchmal auch befreienden Wirkungen nicht mehr gefragt.

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