Wenn sich der freundliche pakistanische Militärarzt im Flutgebiet beklagt, dass sich die Frauen nicht mit ihren wirklichen Gesundheitsproblemen an ihn wenden und wie mühsam es ist, mit einem Dolmetscher zu arbeiten, weil die Armen hier in der Provinz Sindh nicht die offizielle Landessprache Urdu sprechen, dann wird die Bedeutung der lokalen Ärztinnen und Gesundheitspromotorinnen klar. Die medico-Partnerorganisation HANDS (Health and Nutrition Development Society, Entwicklungsgesellschaft für Gesundheit und Ernährung) kann dies in ihren medizinischen Sprechstunden und Gesundheitsberatungen in den Zeltlagern der Flutopfer anbieten. Sie arbeitet seit Jahrzehnten in dieser Region mit lokalen Gesundheitspromotoren.
Wenn man die manchmal chaotischen Szenen bei spontanen Nahrungsmittelverteilungen beobachtet, in denen die Stärksten von ihrer Kraft rücksichtslos Gebrauch machen, und Soldaten mit Knüppeln versuchen für Ordnung zu sorgen, dann wird die Bedeutung von Selbstverwaltung in den HANDS-Flüchtlingslagern verständlich. In den Zeltlagern wählen die dort untergekommenen Familien Vertreter. Die verantwortlichen Betreuer von HANDS haben Ansprechpartner, mit denen sie die geregelte Verteilung der Hilfsgüter für alle Familien entsprechend ihrer Größe und ihres Bedarfs sicherstellen können.
Zu guter Letzt: Wenn man die Menschen mit ihrem wertvollsten Besitz, mit ihren Ziegen, Kühen und Büffeln, gerettet vor den Fluten auf den Deichen sieht, dann versteht man die Kostenposition für Tierfutter und eine grundlegende Veterinärmedizin im Nothilfeantrag von HANDS. In den Aufrufen des Welternährungsprogramms dagegen fehlen solche Posten. Das ist symptomatisch für eine viel zu enge Interpretation von „überlebenswichtiger Hilfe“.
Diese drei Beobachtungen während meiner Reise in die Katastrophenregion um die Städte Sukkur, Kandhkot und Kashmore in der pakistanischen Provinz Sindh mit unserem Projektpartner HANDS illustrieren die oft sperrigen und scheinbar abstrakten Stichworte „Gemeinde- Orientierung, Partizipation und Intersektoralität“. Das sind die Säulen der Primary Health Care (PHC), der Basisgesundheitsfürsorge. Sie bilden die Grundlage der Programme von HANDS und entfalten auch in einer solchen Nothilfesituation ihre Überzeugungskraft.
Gemeinde-Orientierung setzt bei den Realitäten, Fähigkeiten und Bedürfnissen der Menschen und ihrer Gemeinwesen an, entwickelt davon ausgehend gemeinsam mit ihnen Ideen zur Verbesserung der Situation, statt standardisierte Lösungen vorzugeben und zu „implementieren“. HANDS bietet ein umfangreiches Ausbildungsprogramm für Gemeindehebammen an. Es richtet sich an die traditionellen Hebammen der ländlichen Gebiete. Ziel ist es nicht, die Hebammen durch klinische Geburtshilfe zu ersetzen, sondern im Respekt vor dem Wissen und der Verantwortung des oftmals über Generationen vererbten Berufs ihr Wissen mit den Erkenntnissen der modernen Geburtshilfe zu erweitern und gemeinsam mit ihnen ein funktionierendes Referenzsystem aufzubauen. So eingebunden, bringen sie Frauen bei Geburtskomplikationen rasch und sicher zu qualifizierten Entbindungsstationen.
Durch ein solches langjähriges Programm sind die HANDS-Mitarbeiterinnen mit den Gesundheitsproblemen von Frauen und Kindern in den ländlichen Regionen der Provinz Sindh aufs Engste vertraut. Bei der medizinischen Betreuung der Flutopfer ist das ein unschätzbarer Vorteil auch gegenüber Helfern aus dem eigenen Land, denen als Teil der pakistanischen Mittel- und Oberklasse die Lebenswelten in Sindh nicht weniger fremd sind als einem Reisenden aus Frankfurt.
Partizipation verwirklicht HANDS ebenfalls in langjährigen Programmen zur gesundheitlichen und wirtschaftlichen Stärkung der ländlichen Gemeinden aus, entwickelt Kleinkreditprogramme, die den Armen Zugang zu Existenzgründerkapital verschafft und die ländliche Ernähungssicherung durch angepasste Anbaumethoden verbessert. Mitbestimmung in Gemeinden heißt aber auch, gezielt Frauenbildung und Frauenrechte in den patriarchalen Strukturen zu stärken, so dass tatsächlich alle, nicht nur die männliche Hälfte der Gemeinden und Familien mitbestimmen.
Eine solche langjährige Verankerung in vielen Regionen der Provinz ermöglichte HANDS unmittelbar mit dem Einsetzen der Flutkatastrophe, nicht nur mit einigen Angestellten sondern mit vielen Freiwilligen präsent zu sein. Sie waren bei den Evakuierungen für viele Stunden die einzigen, die handlungsfähig waren. So konnten 85.000 Menschen in den ersten Tagen gerettet werden. Partizipation erweist sich so auch als zentrales Mittel, um gemeinschaftliche Ressourcen zur Bewältigung der schlimmsten Katastrophe zu mobilisieren, die das moderne Pakistan in seiner Geschichte zu bewältigen hat.
Mit der Intersektoralität, also der Einbeziehung verschiedener Sektoren, nicht nur des Gesundheitssystems, in die Strategien zur Verbesserung von Gesundheit, tun sich die technischen Gesundheitsplaner häufig am schwersten, weil gerade die dabei notwendige Kooperation mit andern Fachleuten, Interessen und Arbeits- und Denktraditionen besonders mühsam ist. Auch hier hat HANDS schon vor der Katastrophe in seiner Programmarbeit den Grundstein gelegt: Die Gesundheitsprogramme, in denen nicht nur die bereits erwähnten Hebammen, sondern auch Gemeindegesundheitsarbeiterinnen ausgebildet werden, sind verbunden mit Bildungsarbeit, landwirtschaftlichen Programmen und der Verbesserung der ländlichen Infrastruktur. Intersektoralität setzt vor allem auch eine hartnäckige diplomatische Haltung zur Einbeziehung aller Beteiligten voraus, die oftmals mühsam und langwierig ist, aber der Dauerhaftigkeit von Veränderungen zugutekommt.
Der Erfolg solchen Handelns ließ sich für uns während der Reise in der hohen Wertschätzung von HANDS bei den lokalen politischen und militärischen Verantwortlichen in der Nothilfekoordination erkennen. Die Abstimmung der Hilfsakteure in der Region untereinander, die sich nach kurzer Zeit etabliert hatte, war maßgeblich von HANDS angestoßen worden.
Intersektorales Denken wird dann auch in der eigenen Nothilfearbeit sichtbar, wenn wie beschrieben nicht nur die menschliche, sondern auch die tierische Ernährung ihren Platz im Programm bekommt. Oder die rasche Wiederaufnahme von Schulunterricht für die Kinder eine nicht weniger wichtige Rolle spielt als die regelmäßigen medizinischen Sprechstunden und die Sicherung von sauberem Wasser und der Latrinenbau. Entscheidend für eine PHC-Orientierung ist aber darüber hinaus ein Verständnis für die strukturellen Bedingungen und die zugrunde liegenden Ursachen von Krankheit und Not. Auch hier tritt HANDS klar positioniert auf.
Die Kollegen von HANDS sehen die menschengemachten Faktoren der Katastrophe: Angefangen bei den Abholzungen in den Bergregionen im Norden des Landes, die die Wassermassen des Monsunregens immer weniger zurückhalten können bis zum vernachlässigten Deichschutz in der eigenen Provinz. Von Inkompetenz, fehlenden Ressourcen bis zu mangelndem Einsatz lokaler und regionaler Behörden und Politiker reichen die zahlreichen „hausgemachten“ Faktoren, die dem heftigsten Monsun der bekannten Geschichte zusätzliche Gewalt verliehen.
Genauso deutlich äußert HANDS aber auch Kritik an einer internationalen westlichen „Gebergemeinschaft“, die die Hilfe im Katastrophenfall nun als humanitäres Bollwerk gegen die Taliban instrumentalisieren will, wie sie schon 30 Jahre zuvor Pakistan zum strategischen Anker gegen die Sowjetunion im „Großen Spiel“ um Afghanistan machte.
Projektstichwort:
Nach Beginn der Flut in Pakistan erhielten wir durch unsere Kollegen von HANDS, mit denen wir im People’s Health Movement seit Jahren kooperieren, die Bitte um Unterstützung. Seither unterstützt medico neun große Zeltlager für Flutopfer in zwei Regionen der Provinz Sindh, in denen etwa 6.000 Menschen leben. Zum Projekt gehört die Versorgung mit Wasser, Nahrungsmitteln, sanitären Einrichtungen, aber auch Gesundheitsangebote für Menschen und Tiere, Schulunterricht für die Kinder und eine Rückkehrhilfe, wenn die Fluten zurückgegangen sind. Eine weitere Kooperation in der Wiederaufbauphase ist bereits vereinbart. Das Stichwort dafür lautet: Pakistan.