Von Miriam Saage-Maaß und Wolfgang Kaleck
Wie kam es dazu, dass pakistanische Betroffene eines Brandes in einer Textilfabrik in Karatschi 2012 inzwischen eine Zivilklage vor dem Landgericht Dortmund gegen die deutsche Discounter-Kette KiK erhoben haben? Es liegt nicht unbedingt auf der Hand, dass mit dem internationalen Recht nicht nur Kriegsverbrechen verfolgt, sondern auch gegen Exzesse der globalen Wirtschaft vorgegangen werden kann. Schließlich wurde das Recht immer wieder als Instrument der Herrschenden zur Absicherung des Status quo entlarvt. Aber das Recht und insbesondere die Menschenrechte formulieren eben auch Ansprüche auf eine gerechte Verteilung von Ressourcen, auf Arbeitnehmerrechte und echte Teilhabe in Gemeinwesen jenseits von Gewalt und Unterdrückung. Rechtliche Verfahren können daher Freiräume für demokratische Partizipation schaffen. Von dieser Prämisse ausgehend, haben wir vom ECCHR – einer unabhängigen Menschenrechtsorganisation mit Sitz in Berlin, die die Menschenrechte mit juristischen Mitteln zu schützen und durchzusetzen versucht – vor fast zehn Jahren mit der ebenfalls nicht selbstverständlichen Kooperation mit medico international angefangen.
Die Zusammenarbeit begann bei der juristischen und gesellschaftlichen Aufarbeitung der Kriegsverbrechen auf Sri Lanka. Fast 50.000 Menschen starben in der letzten Phase des Bürgerkrieges im Frühjahr 2009. Der Aufbau einer demokratischen Gesellschaft in Sri Lanka wird nicht zuletzt davon abhängen, ob es gelingt, die Kriegsverbrechen des Bürgerkrieges aufzuarbeiten. Gemeinsam mit Partnern aus Sri Lanka griffen medico und wir auf das Versprechen des Völkerstrafrechts zurück , wonach auch die politischen und militärischen Machthaber sich für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor unabhängigen Gerichten verantworten müssen. Hierbei verstehen wir dieses Sich-Verantworten-müssen nicht allein als einen rechtlichen Vorgang. Vielmehr geht es auch um Aufarbeitung des individuell wie auch gesellschaftlich erlittenen Unrechts. Inzwischen haben wir in Deutschland eine umfangreiche Strafanzeige eingereicht und die Generalbundesanwaltschaft aufgefordert, die Verbrechen aufzuklären und Überlebende des Bürgerkrieges als Zeuginnen und Zeugen zu hören.
Globalisierung von unten
Wie weit wir mit einer Globalisierung von unten mittlerweile gekommen sind, belegt die transnationale Kooperation im pakistanischen KiK-Fall: Als uns im September 2012 die Nachricht erreichte, dass in Karatschi die KiK-Zulieferfabrik Ali Enterprises Factory bis auf die Grundmauern abgebrannt war und 260 Menschen in den Flammen gestorben waren, fanden medico international und ECCHR schnell zusammen. Wir vom ECCHR hatten schon lange nach Möglichkeiten recherchiert, wie europäische Textilfirmen für ausbeuterische Arbeitsbedingungen in Zulieferfabriken verantwortlich gemacht werden können und in einem Fall – betreffend Lidl – bereits erfolgreich deutsches Verbraucherschutzrecht gegen die Zustände in Bangladesch mobilisiert. medico international hingegen förderte seit langem die Gewerkschaft National Trade Union Federation (NTUF) in Karatschi, die jetzt die Betroffenen des Brandes organisierte.
Wenige Wochen nach dem Brand trafen wir in Pakistan Gewerkschafter wie Nasir Mansoor von der NTUF, Betroffene, die zu dem Zeitpunkt noch nicht wirklich organisiert waren, und die pakistanischen Anwältinnen und Anwälte, die den Fall vor pakistanische Gerichte bringen. Seitdem sind wir mehrmals vor Ort gewesen und haben mit der Unterstützung von medico eine juristisch-politische Strategie entwickelt. Die Arbeit an einem solchen „Fall“ basiert auf enger Zusammenarbeit vieler: an erster Stelle die Betroffenen und eine Gewerkschaft, die sie unterstützt; die Anwälte in Pakistan, für deren Verfahren vor pakistanischen Gerichten wir Rechtsgutachten zum internationalen Recht geschrieben haben und ohne deren zahlreiche Gutachten und Hinweise zum pakistanischen Recht unsere Arbeit in Deutschland unmöglich wäre; Rechtsprofessorinnen und Menschenrechtsexperten, die die Klage mit Gutachten unterstützt haben; und etablierte Anwältinnen und Anwälte, die bereit sind, praktisch pro bono als Prozessanwälte aufzutreten.
Diese transnationale Zusammenarbeit verändert die Beteiligten. So hat sich die Gruppe verzweifelter Angehöriger verstorbener Arbeiterinnen und Arbeiter und traumatisierter Überlebender zu einer Organisation von Menschen entwickelt, die für ihre Rechte aufstehen. Die Mitglieder unterstützen sich praktisch bei den Herausforderungen des Alltags nach dem Verlust eines geliebten Menschen und Hauptverdieners der Familie. Und sie haben eine klare politische Agenda: Sie kämpfen dafür, dass der Brand aufgeklärt wird und die Mitschuldigen rechtlich zur Verantwortung gezogen werden. Sie sind in den Strafverfahren gegen die Fabrikbesitzer ebenso vertreten wie in den Verfahren gegen die Behörden für Arbeitssicherheit. Und: Sie wollen auch die Einkäufer wie in diesem Fall KiK, die am meisten Profit aus der Produktion in Pakistan schlagen, zur Verantwortung ziehen. Aus ihrer Sicht sorgen all diese Gerichtsverfahren dafür, dass sich solche schweren Fabrikbrände nicht wiederholen. Welch positive Kräfte der gemeinsame Prozess auch jenseits der juristischen Aussichten entfalten kann, zeigt das Beispiel von Saeda Khartoon. Sie verlor bei dem Fabrikbrand ihren einzigen Sohn. Anfangs war sie derart traumatisiert, dass sie nur schwer klare Gedanken formulieren konnte. Inzwischen ist sie einer der Kläger gegen KiK und Sprecherin der Betroffenenorganisation. Als solche spricht sie auf internationalen Konferenzen und erzählt traurig, aber auch selbstbewusst ihre Geschichte auf Rundreisen durch Deutschland. Vom vermeintlich hilflosen Opfer ist sie zur politischen Akteurin geworden.
Systeme der Unverantwortung
Der Prozess hat auch die NTUF, eine entschiedene linke Gewerkschaft, verändert. War sie in den Debatten in Pakistan eher marginalisiert, wird sie inzwischen als wichtiger Akteur wahrgenommen. Sie hat geschafft, was nach dem Zusammensturz von Rana Plaza in Bangladesch dortigen Akteuren nicht gelang: Die Betroffenen zu organisieren und gegenüber der pakistanischen Regierung und internationalen Institutionen wie der Internationalen Arbeitsorganisation der UN (ILO) eine mutige Position zu beziehen. Die KiK-Klage ist ein Beispiel dafür, wie es gelingen kann, transnationale Verbindungen aufzubauen und aufrechtzuerhalten. Und sie belegt, dass mittels des Rechts bestehende Machtverhältnisse und gesellschaftliche Ungerechtigkeiten angeprangert und in Frage gestellt werden können. Die universellen Menschenrechte dienen hierbei als Bezugsrahmen.
Globale Zulieferketten sind durch Recht organisierte Systeme der Unverantwortung und Ungerechtigkeit. Ein Unternehmen wie KiK muss auch für Mindeststandards in Zulieferbetrieben rechtlich geradestehen, zumal, wenn es so langfristig und eng mit der Fabrik zusammenarbeitet wie im Fall Ali Enterprises. Politisch sagen wir mit der Klage: Arbeiterinnen und Arbeiter geben sich nicht mit freiwilligen Coporate-Social-Responsability-Versprechen zufrieden. Sie werden immer wieder zum Hauptsitz des Mutterunternehmens gehen und ihre Rechte einfordern. Es wird immer wieder Strafanzeigen und Klagen gegen KiKs dieser Welt geben. Zwar ist weder gesichert, dass die pakistanischen Kläger vor dem Landgericht Dortmund gegen KiK gewinnen werden, noch sorgt ein Obsiegen automatisch dafür, dass sich die Arbeitsbedingungen verbessern. Die wirtschaftlichen und sozialen Menschenrechte mögen Ansprüche formulieren. Die Zustände in Südasien wird man jedoch nur politisch ändern können. Immerhin wird jetzt für dieses Ziel auch die Ressource Recht mobilisiert.
Wolfgang Kaleck ist Generalsekretär des ECCHR, Dr. Miriam Saage-Maaß stellvertretende Generalsekretärin.
Globale Verwertungskette
Auch wenn unsere Kampagne KiK mittlerweile dazu gebracht hat, den Überlebenden und Hinterbliebenen eine Entschädigung von über sechs Millionen Dollar zu zahlen – der Fall Ali Enterprise ist so wenig abgeschlossen wie der von Rana Plaza. Deshalb setzen wir die erfolgreiche transnationale Kooperation von medico, ECCHR, der pakistanischen Gewerkschaft NTUF und der Vereinigung der Betroffenen fort. Noch ist das Urteil des Landgerichts in Dortmund nicht gesprochen. Liegt es endlich vor, werden wir unsere Erfahrungen aus bald sechs Jahren enger Zusammenarbeit gemeinsam auswerten und eine zweite Runde eröffnen: Im Blick diesmal die ganze globale Verwertungskette, von den Baumwollfeldern Pakistans bis zu den Discountershops in deutschen Städten, von der Selbstorganisation vor Ort bis zum Kampf ums weltweit gleiche Menschenrecht.
Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 1/2018. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. <link verbinden abonnieren>Jetzt abonnieren!