Pakistan

Große Verwirrung

Die pakistanische Provinz Sindh in Tagen des Terrors

10.04.2017   Lesezeit: 9 min

Strukturelle Gewalt und religiöse Radikalisierung: Eine Reise durch Pakistan und Begegnungen mit medico-Partnern. Von Ilija Trojanow

Der Schriftsteller Ilija Trojanow, Kuratoriumsmitglied der stiftung medico international, ist im Februar 2017 gemeinsam mit medico-Geschäftsführer Thomas Gebauer durch Pakistan gereist.

Drei Tage vor dem grausigen Anschlag in Sehwan Sharif am 16. Februar 2017 saß ich im Schneidersitz auf dem Boden in der hinteren Ecke eines Schreins und schloss die Augen. Eine Frau schluchzte leise, einige Männerstimmen murmelten Gebete, von draußen strömte das Lied einiger Musiker wie eine akustische Kalligraphie herein. Meine Gedanken atmeten aus. Ein tiefes Gefühl von Frieden senkte sich über mich. Kurz davor war mir die Ehre zuteil geworden, ein rotes Tuch auf das Grabmal von Shah Abdul Latif zu legen, dem Nationaldichter des Sindh. An Orten wie diesem ist jeder Besucher ein willkommener Pilger, frei, auf seine persönliche Weise seinen Respekt zu bezeugen, Trost zu suchen und Ermutigung zu finden. Bhit Shah, das Zentrum seines Wirkens, liegt etwa 130 Kilometer südlich von Sehwan Sharif, wo täglich und am Donnerstag besonders intensiv des Eremiten Lal Shahbaz Qalander gedacht wird. Dessen Schrein gilt als „wilder“, weil er eine höhere Dichte an Ekstase aufweist, aber die Gleichung bleibt gleich: Heilige sind Dichter, Dichter sind Heilige.

Die Gedichte von Lal Shahbaz Qalander enthalten neben mystischen Einsichten auch rebellische Ausrufe gegen das feudale Establishment, gegen die herrschende Ordnung. Er stand auf der Seite der Armen, er erhob seine Stimme zu ihrem Wohle, weswegen er als Schutzheiliger aller Marginalisierten gilt. Weil die Lehren des Sufismus von der Einheit allen Seins ausgehen und im kleinsten Brosamen der Existenz die Anwesenheit des Göttlichen erkennen, sind Schreine wie jene von Abdul Latif Shah und Lal Shabaz Qalander höchst inklusive Versammlungsorte in einem zerrissenen Pakistan voller brutaler und seit einigen Jahrzehnten zunehmend gewalttätiger Konfrontationen. Hier, und nur hier, kommen Menschen aller Ethnien und Klassen, aller religiösen Prägungen und geistigen Neigungen zusammen. Jeder erhält zum Abschied jene zuckrigen Kugeln, die im Mund den Geschmack individueller Hingabe entfalten.

Netzwerk feudaler Abhängigkeiten

Wer dies für eine verklärende Romantisierung vermeintlich rückständiger Traditionen hält, sollte einige Tage durch die Sindh-Provinz reisen, wo einem auf Schritt und Tritt die überwältigende Realität struktureller Gewalt und wachsender religiöser Radikalisierung entgegenschlägt. Die Dörfer sind gefangen in einem Netzwerk feudaler Abhängigkeiten, in dem die Gnade des Großgrundbesitzers einziges Recht ist. In den Schulen sind selbst fünfjährige Mädchen verschleiert. Aber auf die Frage, ob jemand ein Gedicht von Shah Abdul Latif aufsagen kann, springt sofort ein Junge, ein Mädchen auf, und trägt einige Strophen vor, von dem Singsang zur Würde getragen.

In Karatschi, mit über zwanzig Millionen Einwohnern größte Stadt des Landes, sind die Arbeiter (mehrheitlich in der Textilindustrie) der Ausbeutung durch allmächtige lokale Unternehmer und globale neoliberale Strukturen völlig ausgeliefert. Gewerkschafter kämpfen auf verlorenem Posten um Zahlung des staatlich vorgeschriebenen Mindestlohns von etwa 140 Euro im Monat. Nur zehn Prozent der Arbeitstätigen erhalten überhaupt einen Arbeitsvertrag. Ergo existieren sie von Tag zu Tag unter Vorbehalt einer ökonomischen Logik , die sie jederzeit in die Überflüssigkeit zu stoßen droht.

Die klaren Richtlinien einer gottgerechten Ordnung erscheinen angesichts einer derart ungesicherten Existenz als Zuflucht. Doch die sozialen Verhältnisse sind keineswegs der einzige Grund für die Zunahme religiöser Orthodoxie. „Inzwischen erleben wir,“ sagt Dr. Riaz Ahmed Shaikh, Politologe an der SZABIST-Universität, „eine Radikalisierung der Mittelklasse, wie sie vor einer Generation noch undenkbar gewesen wäre.“ Die jüngeren Terrororganisationen, etwa die Pashtun Taliban, seien noch fanatischer und gefährlicher. Die Terroristen wollten beweisen, dass sie überall zuschlagen und den Sufismus empfindlich treffen können. Die Fanatiker hätten sich im ganzen Land ausgebreitet, seien in die Städte gezogen. Der Anschlag in Lahore neulich sei ein Beispiel hierfür: Der Attentäter stamme zwar aus dem Stammesgebiet Waziristan, sein „handler“ (der Fadenzieher) sei aber ein gebildeter Bourgeois aus Lahore, dem kulturellen Zentrum des Landes.
 

„Unsere gesamte Umwelt ist religiös dominiert“, klagt ein Mitarbeiter der landesweit tätigen Nichtregierungsorganisation HANDS, die seit vielen Jahren mit medico zusammenarbeitet. „Es ist tausendmal leichter, Geld für religiöse als für soziale Projekte zu sammeln.“ Gemeinsam fahren wir an einem Dorf in der Nähe der alten Hauptstadt Thatta vorbei, das von einer Überschwemmung im Jahre 2012 völlig zerstört wurde. Religiöse Gruppen errichteten rasch eine prächtige Moschee, doch niemand kümmerte sich um den Wiederaufbau des Dorfes, bis HANDS sich dieser Aufgabe annahm.

Der öffentliche Raum ist okkupiert. Usman Baluch, ein verschmitzter älterer Herr und legendärer Veteran vieler politischer Kämpfe, erzählt wie er neulich von einem Soldaten auf der Straße mit gezogener Waffe bedroht wurde, weil er seine abgenutzte „miswak“ (eine botanische Zahnbürste) weggeworfen habe. Der Soldat habe ihn angeschrien: „Wie kannst du es wagen, etwas wegzuwerfen, dass der Prophet benutzt hat.“ Es gibt kein Menschenrecht auf Atheismus, wie auch ein Gewerkschafter traurig gesteht: „Ich kann nicht laut sagen, dass ich nicht an Gott glaube, nicht aus Angst um mich selbst, sondern weil es der Organisation schwer schaden würde. Also muss ich schweigen.“

Deep Terrorism

Der wachsende Einfluss der Medresas verdankt sich der Ausbreitung tribaler Haltungen und dem Import saudi-arabischer Ideologie, vor allem aber, darin sind sich alle Vertreter der Zivilgesellschaft einig, dem dämonischen Doppelspiel der Armee, eine Million Mann stark und wohl die professionellste Institution des Landes. Seit Jahrzehnten fördert und instrumentalisiert sie terroristische Gruppen, um Afghanistan, Indien und Iran zu destabilisieren. Inzwischen wendet sich der Terror gegen Pakistan selbst. Gelegentlich wird hierfür der Begriff „deep terrorism“ verwendet, angelehnt an „deep state“ (dem Geheimstaat innerhalb des Staates), um die tiefe und undurchschaubare Verwicklung der Armee zu benennen. Gegenwärtig – so wird immer wieder kolportiert – gebe es einen Konflikt innerhalb der Armee zwischen Ewiggestrigen und Erneuerern, die einen klaren Strich unter die doppelte Buchführung der Vergangenheit ziehen wollen.

Nach jedem großen Anschlag schwört die Armeeführung, den Terrorismus auszurotten, Pakistan zu retten. Doch die lancierten Operationen verpuffen nach einer kurzen Phase des Aktionismus. Zudem werde bei solchen Rundumschlägen auch die Zivilgesellschaft angegriffen. Nach dem grauenvollen Anschlag auf die Armenschule in Peshawar im Dezember 2014 seien, so der insgeheim atheistische Gewerkschafter, auch die NGOs strenger kontrolliert und drangsaliert worden. Zudem verschwinden seit Jahren Menschen spurlos, nicht nur vermeintliche Terroristen, sondern etwa auch liberale Blogger. Nur durch massive Proteste der Zivilgesellschaft gelingt es manchmal, diese Menschen zu retten.

Widersprüchliche Hilflosigkeit

Auch dieses Mal reagierte die Armee schnell und scheinbar resolut. In der Nacht des Anschlags im Februar selbst wurden angeblich über hundert Terroristen getötet und eine Reihe von Waffenlager ausgehoben, was die Frage aufwirft, wieso die Armee nicht früher zugeschlagen hat, wenn sie über die Verstecke der Extremisten so genau Bescheid wusste. Ob die Getöteten tatsächlich Terroristen waren, wird in den Medien kaum hinterfragt. Es hat den Anschein, als sei der Armee mehr daran gelegen, die herrschenden Verhältnisse und die eigene, auch ökonomische Vormacht, zu verteidigen, als die fanatische Gewalt zu unterbinden.
 

Angesichts dieser komplexen, entmutigenden Zustände ist es kein Wunder, dass bei Diskussionen mit Gewerkschaftern, Anwälten, Künstlern und Aktivisten eine widersprüchliche Hilflosigkeit vorherrscht. Einerseits hört man, die Menschen hätten die Nase voll vom Fundamentalismus, im nächsten Satz aber auch, dass sie machtlos seien. Die widerständigen Kräfte organisieren sich in bewundernswerten kleinen Projekten, wie etwa die Frauen des Kulturhauses „Khana Badosh“ („Das Haus auf dem Rücken“) in Hyderabad. Sie haben ihr Zentrum als offenen Raum eingerichtet, gemäß der Tradition des „otaq“, eines „Palaverraums“, in dem Dichtung und Gastfreundschaft gepflegt wurde, der aber traditionell den Männern vorbehalten war.

Bei meiner Lesung dort versammelt sich eine beachtliche Vielfalt an kritischen Geistern, ehemalige politische Häftlinge ebenso wie Studenten der Philosophie (Nietzsche-Anhänger!), Autorinnen von Kurzgeschichten auf Sindhi sowie eingefleischte Marxisten. Unter ihnen aber auch jene Männer mit Bärten, Käppis und wallenden Gewändern, die aufgrund ihres dem Propheten nachgeahmten Aussehens als Rechtgläubige zu erkennen sind. Was sie alle eint, das wird am Vorabend des schrecklichen Anschlags in Sehwan Sharif immer wieder betont, ist die sufistische Tradition des Sindh, die als über-islamisch empfunden wird, als eine tiefverwurzelte Haltung, die Grenzen, Kategorien, Identitäten und Zuschreibungen weniger Bedeutung beimisst als dem gemeinsamen menschlichen Gesang. „Es spielte keine Rolle, wer aus welcher Sekte stammt,“ erklärt eine der Gründerinnen, „wir wussten nicht einmal, wer Schiit und wer Sunnit war. Ohne den Geist von Shah Abdul Latif und Lal Sabas Qalandar würde dieses Land zerfallen.“ Die Frau ist keine Schwärmerin, sondern eine besonnene Professorin für Chemie an der nahegelegenen Universität von Jamshoro.

Koalition wider den Fanatismus

Usman Baluch schlägt in dieselbe Kerbe: „Wir können nicht gegen alle gleichzeitig kämpfen, wir müssen eine Koalition mit anderen Kräften schmieden, mit den Sufis und den Schiiten (20 Prozent der Bevölkerung), das wird schwierig, aber was für eine andere Möglichkeit haben wir denn?“ Ähnlich argumentiert auch der führende Menschenrechtsanwalt Faisal Siddiqi, der als junger Jurist maßgeblich an der zivilgesellschaftlichen Bewegung beteiligt war, die 2008 den Militärdiktator Pervez Musharraf stürzte: „Wir müssen umdenken. Wir brauchen einen Zusammenschluss aller progressiven Kräfte. Solche finden sich auch unter den Beamten, in der Armee und innerhalb einflussreicher professioneller Gruppen. Nur gemeinsam können wir die Allmacht der korrupten Elite brechen.“ Hierfür ist die integrative Kraft des Sufismus nötig, des Erzfeinds des islamischen Radikalismus. So merkwürdig es klingen mag, die Situation im heutigen Pakistan ist derart verworren, dass die althergebrachten Zentren des Mystizismus als wichtige Zufluchtsorte der geistigen Gesundheit gelten müssen.
 

In dem von Armut, feudalen Strukturen und eskalierender Gewalt zerrissenen Land ist eine Gesundheitsversorgung weder in den Slums der Ballungsräume noch auf dem Land gewährleistet. Pakistanische medico-Partner engagieren sich im Wiederaufbau der Dörfer, unterstützen die Selbstorganisation von Frauen in Slums von Karatschi und wehren sich gegen die Ausbeutung in der Textilindustrie. Sie eint der Kampf für Demokratie und Gerechtigkeit.

Spendenstichwort: Pakistan


Dieser Beitrag ist am 21. Februar 2017 in der FAZ erschienen und wurde im medico-Rundschreiben 1/2017 nachgedruckt. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. <link material rundschreiben rundschreiben-bestellen>Jetzt abonnieren!


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