Von Thomas Seibert
Um ein Haar wäre es im Februar dieses Jahres zum fünften Krieg zwischen Indien und Pakistan gekommen. Am 14. Februar 2019 tötete ein Selbstmordattentäter einer von Pakistan geförderten Terrororganisation über 40 indische Soldaten. Es kam zu wechselseitigem Artilleriebeschuss mit zivilen Opfern, zu indischen Luftangriffen auf Terroristenlager in Pakistan, am 27. Februar schließlich zum Abschuss indischer Kampfflugzeuge. Mit der Freilassung eines indischen Piloten beruhigte sich die Auseinandersetzung. Vorerst.
Die indisch-pakistanischen Beziehungen befinden sich auf einem Tiefpunkt. Der Dauerkonflikt ist ein Erbe europäischer Kolonialherrschaft. Lange Zeit hatte der von Hindus und Muslimen gemeinsam gegründete Indian National Congress für einen multiethnischen, multilingualen und multireligiösen Staat in den Grenzen des ganzen britischen „Kaiserreichs Indien“ gekämpft. Obwohl stetig wachsende Spannungen 1906 zur Spaltung der Kongresspartei führten, hielten Hindus und Muslime zunächst weiter an der Idee eines Einheitsstaates fest. Doch band die britische Kolonialmacht ihren Rückzug schließlich an die Gründung zweier Staaten: der formell säkularen, aber von Hindus dominierten Indischen Union und der zunächst westlich und östlich der Union gelegenen Islamischen Republik Pakistan. 1948 kam es auf beiden Seiten zu blutigen Pogromen, in deren Verlauf zehn Millionen Hindus aus Pakistan und sieben Millionen Muslime aus Indien vertrieben wurden, eine Million Menschen verloren ihr Leben. 1971 löste sich die Osthälfte Pakistans aus der Islamischen Republik und wurde als Bangladesch unabhängig; die militärische Unterstützung Bangladeschs durch Delhi feuerte den Konflikt weiter an. Brennpunkt blieb die indische Provinz Kaschmir: Weil dort viele Muslime leben, fordert Islamabad ihren Anschluss an Pakistan. Da beide Länder Atommächte sind, könnte ein weiterer Krieg zu einem Ende der Welt werden.
Die Verantwortung für die aktuelle Krise hängt zu gleichen Teilen an Delhi und Islamabad. Indien wird seit 2014 von einer extrem hindu-nationalistischen Regierung beherrscht, die unter dem Druck baldiger Neuwahlen steht. Für Pakistan ist die immer neue Eskalation des Konflikts geradezu Staatsräson: Der Kampf um Kaschmir legitimiert die Hochrüstung der Armee und ihre Vorherrschaft im Staat. Dabei teilen sich die Generäle die Macht mit der aufgeblähten Bürokratie und den Großgrundbesitzern.
Als übriggebliebener Frontstaat des längst verblichenen West-Ost-Konflikts hat Pakistan die Teilhabe am ökonomischen „Tigersprung“ der anderen Länder Asiens verpasst. Die Islamische Republik ist bankrott und hängt am Tropf chinesischer, russischer und amerikanischer Kredite, hängt damit aber auch an den Verwerfungen zwischen ihren Geldgebern. Aktuell hat China die Nase vorn, für das Pakistan eine Bastion seiner „neue Seidenstraße“ werden soll: ein geopolitisches Großprojekt, in dem China sechzig Staaten Asiens, Afrikas und Europas wirtschaftlich vernetzen will.
Es könnte aber gut sein, dass der Staatsbankrott Pakistans von niemandem mehr abgewendet werden kann. Das aber liegt auch an den aktuell 185 Millionen Menschen, die zwar zur Armut verdammt und von der Macht ausgeschlossen sind, selbst aber trotzdem in ganz eigensinniger, unberechenbarer, auch unkontrollierbarer Weise agieren. Tatsächlich waren die Armen nie einfach die passive Verfügungsmasse der Generäle, der Bürokratie und der Großgrundbesitzer. Seit rund fünfzig Jahren schon verlassen sie in täglich wachsender Zahl ihre Dörfer und folgen den 1948 aus Indien vertriebenen Muslimen („Mohajirs“) in immer neuen Einwanderungswellen in die auswuchernden Städte. Das beste Beispiel ist Karatschi, Pakistans größte Stadt: In den 1950er Jahren lebten hier gerade einmal 600.000 Menschen. Heute schätzt man die Einwohnerzahl der Großregion auf 20 Millionen, flächenmäßig ist Karatschi so groß wie das Saarland.
Zählen mittlerweile auch die anderen Großstädte Pakistans nach Millionen, verdichtet sich die Dynamik der Verstädterung heute in den Kleinstädten, die in rasendem Tempo zu mittleren und schließlich zu weiteren Großstädten auswachsen. Das aber liegt nicht nur an der ungebrochenen Binnenmigration, sondern auch am Wachstum der Bevölkerung: Möglichst viele Kinder zu haben, trägt oftmals materiell, vor allem aber symbolisch zum Kampf der Armen um Selbstbehauptung bei. Übereinstimmenden Schätzungen zufolge wird Pakistan schon in den nächsten dreißig Jahren mindestens 335 Millionen Menschen ernähren, kleiden und beherbergen müssen, die Hälfte von ihnen wird dann in den noch einmal viel größeren Städten wohnen. Lebt heute schon über ein Drittel der Pakistani, 70 Millionen, unterhalb der Armutsgrenze, wird ihre Menge 2050 unermesslich geworden sein. Dabei trifft die absolute Zahl noch gar nicht den Kern der politischen, ökonomischen und sozialen Krise. Denn schon jetzt liegt das Durchschnittsalter der Pakistani bei knapp über 20 Jahren, 2050 wird die Mehrheit nicht nur ärmer, sie wird noch einmal jünger sein.
Seit 2012, als der Großbrand bei der Textilfabrik Ali Enterprises weltweit Aufsehen erregte, gehört der Anwalt Faisal Sidiqqi zu den Partnern medicos in Pakistan. In seinem Haus in Karatschi treffen wir den Journalisten und ausgewiesenen Karatschi-Kenner Fahim Khan. Als die später ermordete Premierministerin Benazir Bhutto in den 1990er Jahren den Ausnahmezustand verhängte, übertrug sie ihm die Verwaltung der Megastadt. „Der Ausnahmezustand schien mir die letzte Chance einer Wende zum Besseren zu sein. Diese Chance ging verloren. Seither verfolge ich das Schicksal dieser Stadt, weil sie uns Zugang zur Welt von morgen gewährt – wenn man morgen noch von einer Welt sprechen kann.“ Khan kommt direkt auf die Verstädterung und das Bevölkerungswachstum zu sprechen: „Wenn die 20 Millionen Einwohner Karatschis eine ungeheure Menge bilden, liegt das nicht nur an ihrer Zahl. Ungeheuer ist diese Menge, weil sie aus lauter Einzelnen besteht: aus Einzelnen, die aber nicht bloß vereinzelt, sondern jeder für sich verlassen sind. Verlassen von jedem geteilten Herkommen, jeder Bindung, von jedem Gemeinsamen. Auf sich allein gestellt in einem Überlebenskampf, der von jedem an jedem Tag neu gewonnen werden muss, gegen alle andern.“ Sidiqqi ergänzt: „Deshalb gab es zum Brand bei Ali Enterprise auch keine nennenswerte Solidaritätsbewegung. In Karatschi lebt und stirbt man für sich allein.“
Natürlich ist der tägliche Kampf ums Überleben, so Khan weiter, in den Dörfern nicht einfacher. Doch sind ihm dort jederzeit Grenzen gesteckt, Regeln vorgegeben. Diese tragenden Übereinkünfte – „So wird das gemacht!“, „Das gehört sich nicht!“ – werden von den Älteren an die Jüngeren weitergegeben, vom Großvater und der Großmutter auf den Vater, die Mutter und die Enkel. „Ich bin nicht konservativ, mir geht es nicht um die Wahrung des Überkommenen. Mir geht es um den Unterschied, der in Karatschi gelebt wird. Einfluss gewinnt hier nur, wer den Kampf aller gegen alle zumindest eine Zeitlang siegreich besteht. Das gelingt oft nur bis ins dreißigste Jahr, dann fallen die meisten in das Heer der namenlosen Verlierer zurück. Karatschi ist eine der gefährlichsten Städte der Welt, hier werden täglich so viele Menschen ermordet wie anderswo in Kriegszeiten.“
Wie das geändert werden kann, weiß Khan so wenig wie der Anwalt Siddiqi, so wenig wie die anderen medico-Partner: Nasir Mansoor und Zehra Khan von der Gewerkschaft NTUF, der Politveteran Karamat Ali, der in den 1970er Jahren der Führer von Karatschis damals linken Studierenden war. Sie wissen es so wenig wie der frühere Kricketstar Imran Khan, von Gnaden der Generäle aktuell Premierminister Pakistans. So wenig übrigens wie die Generäle selbst: Ihr Zugriff auf die Atombombe ist so gefährlich, weil sie ein Ende im Schrecken einem Schrecken ohne Ende vorziehen könnten.
Genau deshalb aber starten unsere Partner jetzt eine weitgespannte Befragung der Armen. Befragt werden Textilarbeiterinnen und Textilarbeiter in Karatschi, die Weber von Faisalabad, Hafenarbeiter und Schiffsabwracker in Gadani, aber auch die Baumwollpflücker der verlorenen Dörfer auf dem Land. Dabei soll es nicht nur um ihre Arbeitsbedingungen, sondern auch um die Verhältnisse der Generationen und der Geschlechter gehen, um die mit ihnen verbundene Gewalt, die Aussichtslosigkeit. Zur Sprache kommen sollen aber auch ihre Wünsche, auch ihre Träume. Denn so verlassen sie alle auch sein mögen: Auch sie folgen Wünschen und Träumen.
Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 1/2019. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!