Die eigene Geschichte zurückgewinnen

Die Khulumani Support Group

01.06.2010   Lesezeit: 10 min

Die Rückgewinnung der eigenen Geschichte, die die Apartheid zwischen 1948 und 1994 durch Rassentrennung und blanken Terror systematisch zu zerstören versuchte, ist ein wesentlicher Faktor, um ein neues Südafrika mit einer selbstbewussten schwarzen Mehrheit aufzubauen. Wie schwierig und komplex dieser Prozess ist, zeigt die Arbeit von Khulumani, dem größten Zusammenschluss von Apartheid-Opfern in Südafrika. »Frei aussprechen« – das bedeutet Khulumani im südafrikanischen Zulu. Die Mitglieder der Selbsthilfegruppen haben sich diesen Namen als Zeichen gegen den Zwang zum Schweigen, wie er unter der Apartheid verhängt wurde, gegeben.

»Sie nahmen euch euer Land und eure Arbeitskraft. Sie nahmen euch eure Regierung und eure Naturschätze. Sie nahmen eure Häuser und eure Bildung. Sie nahmen eure Freiheit und eure Identität. Sie nahmen eure Würde. Hunderte Gesetze wurden während der Apartheidzeit erlassen, um die schwarzen Südafrikaner von der Wiege bis ans Grab zu kontrollieren und zu benachteiligen. Die Apartheid drückte allen Lebensbereichen rassisch festgeschriebene Ungleichheiten auf. Selbst dies aber genügte noch nicht. Unterdrückung wurde durch Misshandlungen aller Formen ergänzt, darunter systematischer und organisierter Mord, Vergewaltigungen, Entführungen und Folter.«

(Michael Hausfeld, Rechtsanwalt der Khulumani-Klagen gegen 21 internationale Banken und Konzerne).

Umfassende Unterstützung

»Bevor wir uns in Südafrika eine gemeinsame Zukunft für alle Südafrikaner vorstellen können, müssen wir unsere Vergangenheit kennen und annehmen. Wir müssen die Wahrheit über Verschwinden lassen, Töten, Folter und andere Menschenrechtsverletzungen, die unter der Apartheid begangen wurden, öffentlich machen und die Täter beim Namen nennen.«
(aus den Grundsätzen von Khulumani)

Khulumani wurde 1995 in Johannesburg gegründet. Mittlerweile gibt es über 30 Lokalgruppen in fünf Provinzen des Landes, in denen sich Apartheid-Opfer und Angehörige von Opfern regelmäßig treffen. Die Gruppen befinden sich überwiegend in den schwarzen Townships und werden zu über 90 Prozent von Frauen aus den ärmsten Schichten der Bevölkerung besucht. Nach der Gründung haben die Khulumani-Gruppen Menschen, die vor der Wahrheits- und Versöhnungskommission aussagen wollten, Kontakte vermittelt und den oft schmerzhaften Prozess des Erinnerns begleitet.

Die Wahrheits- und Versöhnungskommission

Im Oktober 1998 übergab Erzbischof Demond Tutu dem damaligen Präsidenten Nelson Mandela den 3500 Seiten umfassenden Bericht der Wahrheits- und Versöhnungskommission (Truth and Reconciliation Commission, TRC). Darin werden die Verbrechen der Apartheidära bis zu den ersten freien Wahlen 1994 dokumentiert.

Die TRC hatte das Ziel, den Überlebenden Raum zu geben, öffentlich Zeugnis von der Gewalt abzulegen, die sie erfahren mussten. Die Kommission gewährte denjenigen Tätern Amnestie, die vollständig über von ihnen verübte politische Gewalttaten berichteten. Der »Tausch« Wahrheit für Straffreiheit sollte helfen, die Wahrheit über die Vergangenheit an den Tag bringen und den Opfern Klarheit verschaffen über bisher ungeklärte Fälle. Die TRC hat Vorschläge erarbeitet zur Wiedergutmachung für diejenigen Menschen und ihre Angehörigen, die zwischen März 1960 und Mai 1995 Opfer von Mord, Mordversuchen, Folter oder schwerer Misshandlung geworden waren. Mehr als 20.000 Menschen berichteten vor der TRC über die Gewalt, die ihnen angetan wurde.1800 Personen traten öffentlich als Zeugen auf, die übrigen machten interne Aussagen gegenüber der Kommission.

Im Oktober 1998 übergab die Wahrheitskommission ihren Abschlussbericht der Regierung von Präsident Mandela. In dem Bericht enthalten sind eine Reihe von Empfehlungen, die vermeiden sollen, dass sich die Gräuel der Apartheid wiederholen sowie Vorschläge für die Entschädigung der Opfer. Die Wiedergutmachungsvorschläge umfassen sowohl finanzielle wie symbolische Entschädigungen. Eine endgültige Ausarbeitung und Umsetzung der TRC-Vorschläge bleibt allerdings Aufgabe der Regierung.

Zum Gruppenalltag gehört das Erzählen der eigenen Verfolgungsgeschichte, aber auch die praktische Bewältigung des Alltags. Khulumani besorgt psychologische Einzelbetreuung dort, wo Menschen an der Traumatisierung durch die eigene Unterdrückung oder durch den Verlust eines Angehörigen zu zerbrechen drohen und unterstützt seine Mitglieder mit juristischen Beistand, wenn es um die Durchsetzung von Entschädigungsforderungen geht.

Ähnlich wie die Mütter vom Plaza de Mayo in Argentinien sind die Khulumani-Gruppen zu einer Instanz in Südafrika geworden, wenn es um den Umgang mit den Opfern des Apartheid-Regimes geht. Verkörpert wird sie durch Frauen wie der Begründerin von Khulumani, Sylvia Dlomo-Jele, die im März 1999 ums Leben gekommen ist. Frauen wie sie sind Autoritäten in den Townships. Mit ihrem unnachgiebigem Beharren darauf, dass die vollständige Wahrheit über das Schicksal ihrer Angehörigen ans Tageslicht gebracht werden muss, bevor von Versöhnung die Rede sein kann, legen sie die Grundlagen für eine Kultur der Menschenrechte. Denn erst die Verarbeitung des geschehenen Unrechts schafft die Voraussetzung für Versöhnung. So ist es der Blick zurück, der eine neue Zukunft ermöglicht.

Die Spuren der Vergangenheit

Die Menschen in Südafrika sind wütend. Sie haben jahrzehntelang unter dem Apartheidregime gelitten und gegen die Unterdrückung der schwarzen Bevölkerungsmehrheit gekämpft. Aber bis heute hat das Ende der Apartheid für die Mehrheit der schwarzen Bevölkerung keine entscheidende Veränderung gebracht; der soziale Status macht sich noch immer an der Hautfarbe fest. Die Namen für die alte und neue Apartheid: Armut, Ungleichheit, Arbeitslosigkeit, AIDS... Die Opfer des Regimes sind oft traumatisiert und leiden daher in besonderem Maße unter den Folgen ihrer Unterdrückung.

Daher nimmt Khulumani die Interessen der Apartheid-Opfer und ihrer Angehörigen auch nach dem Ende der Wahrheitskommission weiter wahr. Zentrales Thema ist die Entschädigung der Opfer. »Unser Ziel besteht nicht nur in finanziellen Reparationszahlungen. Aber die Menschen brauchen Renten. Sie brauchen medizinische Versorgung. Andere müssen ihre Kinder auf die Schule schicken können. Und etwas sehr Wichtiges: Die Angehörigen brauchen Gräber, sie brauchen Grabsteine« (Sylvia Dlomo-Jele).

Im Abschlussbericht der Wahrheits- und Versöhnungskommission wurden Entschädigungszahlungen in Aussicht gestellt. Doch viele Jahre passierte gar nichts. Versuche der Regierung, die Entschädigung generell zu verweigern, sind u.a. durch den Protest von Khulumani vereitelt worden. 2003 war die südafrikanische Regierung bereit, eine Summe in Höhe von umgerechnet 3600 Euro an diejenigen Opfer zu zahlen, die vor der Kommission ausgesagt hatten. »Die Beiträge wurden einheitlich festgelegt, ohne ein System, dass die Menschen nach ihren individuellen Bedürfnissen einstuft«, kritisiert Ntombi Mosikare, Geschäftsführerin von Khulumani. Die Organisation fordert

  • ein Reparationsbüro auf höchster Ebene
  • die Einbeziehung von Opfergruppen in alle Planungen des Gedenkprozesses
  • die öffentliche Thematisierung der Vergangenheit in Funk und Fernsehen
  • einen Fond für die langfristige Sicherstellung der Opferrehabilitation.

Die Stimme von Khulumani ist in Südafrika nicht mehr zu überhören. Am Freedom Day, kamen die Opfer aus vielen Teilen des Landes zu einer Demonstration in die Hauptstadt. Die Regierung hatte zwar keine Demonstrationserlaubnis am Ort des Festaktes gegeben, aber sie kamen dennoch: »Wir schmuggelten uns ins Union Building. Wir gingen einfach rein wie alle anderen, die Plakate hatten wir unter unseren Kleidern versteckt. Sobald sich alle - darunter Politiker aus mehreren Ländern und bekannte Persönlichkeiten - versammelt hatten, zogen wir unsere Plakate raus und fingen an zu singen. ‚Ich will meine Würde wieder herstellen und die Zahlung einer Entschädigungssumme ist Teil dieses Prozesses‘, so ein Demonstrationsteilnehmer. Wir übergaben das Memorandum zur Entschädigung der Opfer; die Leute waren schockiert, beschämt - man werde sich drum kümmern, hieß es. Aber bis heute ist immer noch nichts geschehen.« (Bericht von Ntombi Mosikare) Das verhängte Bußgeld von 20.000 Rand mussten Khulumani übrigens nicht bezahlen.

Mittlerweile gehört Khulumani zu den wichtigsten Organisationen, die die Interessen der Apartheid-Opfer und ihrer Angehörigen wahrnehmen. Zu diesem Zweck organisiert Khulumani zahlreiche Aktivitäten: Khulumani

  • bietet einen umfangreichen Beratungsdienst an
  • koordiniert die Gruppen und unterstützt Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die die Gruppen vor Ort betreuen
  • bietet psychologische Beratung und Hilfe für Folteropfer
  • organisiert kollektive Rituale zur Erinnerung und Aufarbeitung der Vergangenheit. Dazu gehören Kerzenlicht-Gottesdienste und gemeinsame Gebete
  • setzt sich für die Errichtung von Gedenkstätten ein
  • entwickelt Theaterstücke, in denen die eigenen Erfahrungen reflektiert werden, die in den Gemeinden aufgeführt werden
  • initiiert einkommensschaffende Projekte
  • organisiert Lobby- und Öffentlichkeitsarbeit zum Beispiel zu Entschädigungsfragung und Strafverfolgung von Tätern.

Keine Geschäfte mit dem Unrecht

Eine der Ursachen für die Ablehnung der Regierung, den Opfern Entschädigung zu zahlen, ist die hohe Verschuldung Südafrikas. Die Politiker des alten Regimes hinterließen dem demokratischen Südafrika eine Schuldenlast, die die soziale Zukunft des Landes ernsthaft gefährdet – eine Verschuldung, die vor allem durch die großzügige Kreditvergabe deutscher und Schweizer Banken entstehen konnte.

So ungerechtfertigt es ist, dass die Menschen im südlichen Afrika doppelt für die durch Apartheid verursachten Schulden zahlen müssen, so berechtigt ist es, nach den zweifelhaften Profiten aus den Apartheidgeschäften zu fragen. Die Internationale Kampagne für Entschuldung und Entschädigung im südlichen Afrika, die in Südafrika von Khulumani und in Deutschland von medico unterstützt wird, fordert, dass die durch die Apartheid verursachten Schulden im südlichen Afrika gestrichen und die Opfer der Apartheid entschädigt werden. Damit sollen sich Banken und Konzerne zu dem von ihnen begangenen Unrecht bekennen.

Diese Forderungen wurden jahrelang von den betroffenen Unternehmen ignoriert. Daher hat Khulumani mit Unterstützung südafrikanischer und US-amerikanischer Anwälte 2002 Klage gegen zahlreiche Firmen, darunter auch fünf deutsche Banken und Unternehmen eingereicht, die in den 80er Jahren das international geächtete Apartheid-Regime stützten und damit Verantwortung für das fortgesetzte Leid der Menschen tragen.

Die Anklageschrift beinhaltet die Mitverantwortung von Akteuren, die zwar nicht die unmittelbaren Täter sind, aber als Helfershelfer dieser Täter eine sekundäre Mitverantwortung für die begangenen Verbrechen haben. Die Schrift macht deutlich, dass die 22 beklagten internationalen Firmen, welche alle in der Unterstützung des Sicherheitsapparates der Apartheid involviert waren, durch die Erklärungen und Abkommen der Vereinten Nationen bestens über den verbrecherischen Charakter des Apartheidregimes informiert waren. Als Unterstützer in strategischen Bereichen des Unterdrückungsapparats der Apartheid waren sie somit mitverantwortlich für die an den Apartheidopfern von Mitgliedern der Polizei, des Geheimdienstes und der Armee verübten Verbrechen.

Die 91 KlägerInnen stehen symbolisch für die 32.000 Mitglieder von Khulumani; diese wiederum verstehen sich als StellvertreterInnen weiterer Kreise von Apartheidopfern in der schwarzen Bevölkerung in Südafrika und der betroffenen Nachbarländer. Die Kurzbiographien der 91 KlägerInnen erzählen von einem furchtbaren Schicksal der Betroffenen und ihrer Familien; ihre Geschichten belegen die mörderische Brutalität des Systems und ihrer Vollstrecker in den Sicherheitsapparaten, besonders in der Polizei, dem Geheimdienst und der Armee; das Ganze ein Kaleidoskop der Wahrheit eines menschenverachtenden Regimes.

Eine angemessene Wiedergutmachung für die Apartheid müsste umfangreiche soziale Programme für den Wiederaufbau und die Entwicklung von ganzen Gemeinschaften beinhalten. Beim Versuch, dies zu verwirklichen, ist das neue Südafrika wegen des Apartheid-Erbes eingeschränkt. Dazu gehören die 25,6 Milliarden geerbten und daher illegitimen (odious) Auslandschulden. Mit dieser Summe hätte das anfänglich vorgesehene Wiederaufbau- und Entwicklungsprogramm finanziert werden können, welches wegen Finanzmangel aufgegeben werden musste.

Die Opfer verlangen den gesellschaftlichen Respekt und vor allem, dass künftig alle Kreditgeber von Diktaturen wissen, dass am Ende das Gericht steht und sich Geschäfte mit dem Unrecht nicht lohnen. In diesem Sinne sollten gerade auch die deutschen Unterstützer der Apartheid, ob sie von den gegenwärtigen Klagen betroffen sind oder nicht, den Rat von Bischof Desmond Tutu beherzigen: »Sie sagten: Geschäft ist Geschäft. Redet mit uns nicht über Moral. Sie hätten wohl auch Geschäfte mit dem Teufel gemacht. Alle Unternehmen, die mit dem Apartheidregime Geschäfte gemacht haben, müssen wissen, dass sie in der Schusslinie stehen. Sie müssen zahlen, sie können sich das leisten. Und sie sollten es mit Würde tun. Dies wird Konzernen einen Anreiz bieten, künftig Geschäftspartner in Ländern vorzuziehen, die eine bessere human rights record haben«. (Desmond Tutu)

Neben der juristischen Aufarbeitung der Apartheid-Verbrechen können die Klagen ein Präzedenzfall zur Durchsetzung von menschenrechtlichen Standards gegenüber internationalen Unternehmen sein.

Projektstichwort

Ohne die Aufdeckung der Wahrheit über das Apartheidregime und ohne die Entschädigung der Opfer kann es im Südlichen Afrika keine tragfähige Versöhnung geben; für eine weitere demokratische Entwicklung ist eine tiefgreifende Veränderung der ökonomischen und sozialen Machtverhältnisse unerlässlich. Das ist Zukunftsarbeit für Südafrika. medico international unterstützt Khulumani seit 1997. Spendenstichwort "Südafrika".


Jetzt spenden!