Flüchtlinge und MigrantInnen sind die ZeugInnen unserer Zeit. Die Bewegungen der Flucht und Migration innerhalb des afrikanischen Kontinents und entlang der südlichen Grenzregionen der Europäischen Union sind der menschliche Preis einer Globalisierung, die an den Ressourcen und Märkten des afrikanischen Kontinents, nicht aber an seiner Bevölkerung interessiert ist.
Längst ist zum Gemeinplatz geworden, dass das Mittelmeer sowie der Atlantik vor den Kanarischen Inseln dabei zur tödlichen Falle für all jene Lebenshungrigen geworden sind, die von den afrikanischen Küsten - oft ohne Navigation, Wasser und Nahrung - auf dem Seeweg den Sprung nach Europa wagen. Möglich sind die Verfolgung und Ausgrenzung der afrikanischen Opfer europäischer Freihandelspolitik auch deshalb, weil sich die überwältigende Mehrheit der EuropäerInnen für ihr Schicksal nicht interessiert. Wenn in den südlichen Meeren ein marodes Boot mit hunderten Flüchtlingen kentert, erfährt die Öffentlichkeit nichts über die Toten. Anders als bei jedem Flugzeugabsturz mit EuropäerInnen an Bord werden die „stranded people“ entpersonalisiert: Die Opfer haben kein Gesicht, tragen keine Namen, sind ohne Geschichte. Öffentliches Bedauern über das große Sterben regt sich erst, wenn der Scirocco an den Pelagischen Inseln zwischen Frühjahr und Herbst die Wellen auftürmt und die Leichen der Ertrunkenen an die Strände der südlichsten Inselgruppe Italiens spült. Der Tod im eigenen Meer verlangt schnelle Abhilfe – schließlich ist Europa nach der Formulierung Bernard-Henri Lévys „kein Ort, sondern eine Idee der Humanität.“ Doch sind jenseits solch’ tröstlicher Versicherung die Ertrunkenen im Mittelmeer nur die dunkle Konsequenz des europäischen Zusammenschlusses und eines Globalisierungsversprechens, das auf der radikalen Freiheit des Waren- und Güterverkehrs beruht.
In den Fernseh- und Zeitungsberichten über die Bootsflüchtlinge erscheint Afrika als ein von Barbarei und Wildheit zerrissener Kontinent, der in weiten Teilen außerhalb der Zivilisation steht und unfähig ist, seiner Bevölkerung eine Lebensperspektive zu bieten. Zum Symbol der Bedrohung aber wird dieser Kontinent, weil seine wachsende Bevölkerung versucht, dem Hunger durch Abwanderung zu entkommen. Dabei wirkt die unkontrollierte inner- und zwischenstaatliche Gewalt als eine Warnung vor den Gefahren einer Welt von Besitzenden und Besitzlosen - wenn es nicht gelingt letztere auf irgendeine Weise an ihrem Herkunftsort zu binden, sie zu beruhigen und zu beherrschen. Das ideologisch motivierte Szenario imaginärer barfüssiger und zerlumpter Massen, die an den Toren des Westens rütteln, produziert einen ambivalenten Effekt: Indem es in Zeiten einer weltweiten Finanzkrise die erwünschte Akzeptanz für ein tödliches Grenzregime weckt, trägt es zur umfassenden Entsicherung der europäischen Gesellschaften bei, zusätzlich verstärkt das Bild eines Kontinents mit unkontrolliertem Bevölkerungswachstum und unproduktiven Wirtschaftssystemen die Idee, nach der die Menschheit quasi „natürlich“ in unterschiedliche, sich zwangsläufig feindlich gegenüberstehe Kulturen oder Zivilisationen gespalten sei.
Fakten statt Ideologie
Dabei legen alle gesicherten Zahlen über Flucht- und Migrationsbewegungen in Afrika zunächst einen völlig anderen Schluss nahe: Die Mehrheit aller AfrikanerInnen, selbst diejenigen, die nicht in ihrem Heimatland leben, haben gar nicht die Absicht, ihren Kontinent zu verlassen. Insgesamt leben überhaupt nur drei Prozent aller AfrikanerInnen als MigrantInnen außerhalb ihres Geburtslands. Im ganzen subsaharischen Afrika ist dabei geschätzt von 17 Millionen Menschen die Rede, von denen 7,5 Millionen in Westafrika und 7 Millionen als papierlose „Illegale“ in Südafrika leben. Die wenigsten von ihnen wollen nach Europa. Dem entspricht, dass das Hamburger WeltWirtschaftsinstitut (HWWI) die Zahl der Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus in der gesamten Europäische Union (EU) auf gerade mal 2,8 bis 6 Millionen Menschen schätzt – während die EU-Kommission politisch interessiert von von 4,5 bis 8 Millionen Menschen spricht. Südafrika hat 50 Millionen Einwohner, die EU 500 Millionen. Das deutsche Hilfswerk Caritas belegte durch eine Befragung unter 3000 MigrantInnen in Westafrika, dass die Mehrheit der Auswanderungswilligen den Kontinent nur für eine begrenzte Zeit verlassen wollen: 91 Prozent der Befragten wollen später wieder in ihre Herkunftsländer zurückkehren. Die angebliche Fluchtbewegung der afrikanischen „Massen“ nach Europa ist eine ideologische Behauptung, die dem Zweck dient, ganze Bevölkerungsgruppen in materieller Unsicherheit zu belassen, indem ihre bloße Existenz, ihre Menge und ihre virtuellen Forderungen nach Rechten als Bedrohung begriffen werden.
Tatsächlich ist Migration für viele Menschen in Westafrika eine traditionelle Lebensweise, die mit den Rhythmen saisonaler Arbeit, mit dem Handel und mit Pilgerfahrten zusammenhängt. Sofern sie immer wieder neue Handlungshorizonte eröffnet, ist sie zugleich eine Strategie, in der Mobilität gegen Zwang eingesetzt wird. Dabei nutzen die Menschen in Westafrika die Ressource der gesellschaftlichen Mobilität und die sie ermöglichende Stärke und Flexibilität der verwandtschaftlichen Netzwerke nicht allein, um unmittelbaren Gewaltverhältnissen (Bürgerkriegen, ethnischen Säuberungen, Putschen) zu entkommen, sondern auch, um sich durch Abwanderung und Neuansiedelung Alternativen zur vollständigen Abhängigkeit von transnationalen Konzernen und lokalen Produzenten zu schaffen. Die vorwiegend subsaharischen MigrantInnen flukturieren seit jeher in dem Raum der Maghreb-Sahara-Sahelzone, in dem die Staaten schon immer kulturelle, religiöse und kommerzielle Beziehungen gepflegt haben und in dem die offiziellen Staatsgrenzen immer auch Ausdruck des kolonialen Erbes sind. Begünstigt wird diese permanente Fluktuation durch den Umstand, dass die Bevölkerungen der Staaten der 1975 gegründeten Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft (Ecowas) bis heute für unbestimmte Dauer ohne Visumspflicht und Arbeitslimitierungen zirkulieren können. Sie folgen dabei einer informellen Kartographie der Migration, die sich aus Berichten und Hinweisen von Verwandten und bereits emigrierter Wanderarbeiter ständig aktualisiert. Es ist nicht anzunehmen, dass die gegenwärtige Finanzkrise diese Bewegung nachhaltig beeinflussen kann.
Immer weitere Wege
Natürlich halten viele MigrantInnen an dem Wunsch von einem Leben auf „der anderen Seite der Welt“ fest, solange dieses Leben weniger Gewalt verspricht und so viel reicher ist. Für diese neuen Verdammten der Erde, die seit Jahren im Transitraum der Sahara ein Leben zwischen Traum und blanker Existenz führen, ist und bleibt die Migration auch nach Europa weiter auch eine letzte Hoffnung. Ursprünglich wollten die meisten dieser harragas („die ihre Vergangenheit verbrennen“), wie die zumeist papierlosen Flüchtlinge im arabischen Maghreb genannt werden, aus dem subsahrarischen Afrika von Agadez über Nordwestalgerien nach Nordmarokko, um dann die Straße von Gibraltar zu überqueren, die Meerenge am westlichen Ausgang des Mittelmeers. Weil hier das „Weiße Meer“, wie es im Arabischen genannt wird, nur 14 bis 44 Kilometer breit ist, kann die spanische Küstenlinie von der marokkanischen Seite aus bei klarem Wetter mit dem bloßern Auge gesehen werden. Aber seitdem die spanische Küstenwache ab circa dem Jahr 2000 diesen Weg blockierte, fassten die Flüchtlinge den Weg weiter östlich über die spanischen Exklaven Ceuta und Melilla ins Auge, jene einzigartige Hinterlassenschaft einer Epoche, in der die Bevölkerungsströme noch umgekehrt, also in Nord-Süd-Richtung, über das westliche Mittelmeer drängten. An jenem historischen Ort, an dem Anfang des 17. Jahrhunderts die letzten Morisken, die überlebenden iberischen Mauren, nach dem Sieg des Katholizismus in Spanien zu Hunderttausenden auf Schiffen deportiert worden waren, starben im September 2005 jene 14 afrikanische Flüchtlinge, die in einem kollektiven Akt mit tausenden Anderen versucht hatten, die Grenzzäune nach Europa zu überwinden. Danach wurden Ceuta und Melilla in nahezu uneinnehmbare Festungen verwandelt.
Nachdem Europa seine Außengrenze an den Rand der Sahara exportierte, verlagerten sich die Migrationsrouten im ersten Zug an die marokkanische Atlantikküste, von wo die MigrantInnen jetzt verstärkt auf die Kanarischen Inseln übergesetzten. Seit die Patrouillen-Boote des europäischen Grenzschutzes deshalb auch vor der mauretanischen Küste kreuzen, beginnt die Fahrt in der Casamance, dem südlichen Senegal, und die Motorboote der Küstenfischer starten selbst aus Guinea-Bissau.
Geostrategische Interessen
Trotz der sich vollziehenden Externalisierung des EU-Grenzregimes ist es auszuschließen, dass Europa tatsächlich diese mannigfaltige und hunderttausendfache Migrationsbewegung wird „steuern“ können. Innerhalb von weiten Teilen des subsaharischen Afrikas sind die Grenzen der Nationalstaaten noch immer porös und die Menschen-, Güter-, Ressourcen- und Waffenströme kaum eingeschränkt. Dabei ist der westafrikanische Raum nicht nur für das Projekt einer forcierten EU-„Migrationskontrolle“ von Interesse, haben der Maghreb und der Raum der Ecowas-Staaten längst eine geostrategische Bedeutung gewonnen. Ressourcen wie Erdöl, Uran und Erdgas spielen eine zunehmend wichtige Rolle. Die Bedeutungen der Potenziale von erneuerbarer Energie, wie etwa das Solarstromprojekt Desertec, machen den geographischen Raum auch interessant für historisch weniger präsente Akteure wie Deutschland. Zugleich hat Frankreich in der erweiterten Sahel-Zone traditionell gewichtige Interessen. So investierte die staatliche französische Atomgruppe Areva in Niger mehr als 1,2 Milliarden Euro, um bis zum Ende des Jahres 2013 mit der Mine von Imouranen das zweitgrößte Uranbergwerk der Welt in Betrieb zu nehmen, dass jährlich 5000 Tonnen Uran fördern soll.
Am 4. April 2010 enthüllte der senegalesische Präsident Abdoulaye Wade in der Landeshauptstadt Dakar - von hier aus wurden einst Hunderttausende von Sklaven in die Neue Welt verschleppt - eine gigantische, halbnackte und mit Lendenschurzen bekleidete Figurengruppe. Es war der 50. Jahrestag des Abzugs der französischen Kolonialarmee aus dem Senegal und der künstlerische Koloss, der den Namen „African Renaissance“ trägt und größer als die New Yorker Freiheitsstaue ist, soll die Vitalität des afrikanischen Kontinents symbolisieren, der endgültig die Ketten des Neokolonialismus sprengt. Nach Angaben der senegalesischen Tageszeitung Le Quotidien lagen die Kosten der mit 49 Metern Höhe größten Bronzestatue außerhalb Asiens und der früheren Sowjetunion bei mindestens 30 Millionen US-Dollar. Eine Summe, die nicht nur etwa 0,2 Prozent des gesamten Landeseinkommens ausmacht, sondern auch dem Schuldendefizit der maroden öffentlichen Krankhäuser der Hauptstadt entspricht, die aufgrund knapper Ressourcen bedürftige Patienten regelmäßig abweisen müssen.
Die „Afrikanische Wiedergeburt“ aus Bronze wurde von einer nordkoreanischen Baubrigade errichtet, die Baukosten bezahlte der Staatspräsident durch die Überschreibung von ca. 40 Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche an eine nordkoreanische Staatsfirma, die diese sofort wieder veräußerte. Wade beantragte bei der Afrikanische Union (AU), den Tag der Denkmalsenthüllung zum kontinentalen „Gedenktag der Afrikanischen Wiedergeburt“ erklären zu lassen, sicherte sich alle „geistigen Eigentumsrechte“ an dem Koloss und beansprucht 35 Prozent aller künftigen Eintrittsgelder. Selbst für internationale Lizenzverkäufe besitzt er ein persönliches U.S.-Patent, so als würde er glauben, dass Millionen Menschen auf der Welt eine kleine Kopie der Statue als Andenken besitzen wollen.
Der Nepotismus eines alternden, 84-jährigen Präsidenten, der vor seiner Wahl noch als Hoffnungsträger zur Veränderung der klientelistischen Demokratie im Senegal gehandelt wurde, bestätigt nicht nur die bekannten kulturellen Stereotypisierungen über afrikanische Politiker, sondern weist auch auf das viel grundlegendere Problem hin, dass die von IWF und der Weltbank diktierte Privatisierung der afrikanischen Ökonomien nicht nur zu mehr Markt, sondern auch zur Umformulierung und Ausweitung der Macht des Staates und, im Falle von Wades Denkmal, zur Transformation staatlicher Souveränität in persönliches Privateigentum geführt hat. Dabei wenden die heutigen postkolonialen afrikanischen Eliten die globale Tendenz, in der große transnationale Konzerne faktisch die Rechtsprechung und Autorität von nationalen Staaten hinter sich lassen (Negri/Hardt), in radikaler Offenheit zu ihren Gunsten: Viele westafrikanische Regierungschefs verstehen sich längst nicht mehr als Wahrer allgemeiner Interessen, sondern handeln als Aufsichtsratvorsitzende in eigener Sache – ob es nun um Fischereirechte, Explorationskonzessionen für Rohstoffe oder die Umverteilung aus Privatisierungsgewinnen geht.
Die erweiterte Banlieue
Im Senegal hängen ein Drittel aller Haushalte maßgeblich von den Rücküberweisungen migrierter Familienangehöriger ab. Weil deren Höhe infolge der globalen Finanzkrise drastisch abnahm, drohen diese Menschen nun unter die Armutsgrenze abzurutschen. Doch zeigt der Senegal nicht nur, dass weniger Migration zu einem sprunghaften Anstieg der Armut führt: hier lässt sich auch sehen, dass und wie die Migration in eine Verarmungsdynamik eingebettet ist, die ihr begründend vorausliegt. So haben die jahrelangen ökonomischen Schockprogramme der westlichen Geberländer die Lebensqualität nicht verbessert, sondern nachhaltig verschlechtert. Um die Gehälter ihrer Staatsangestellten für das Jahr 2009 bezahlen zu können, musste die senegalische Regierung zuvor beim IWF im Rahmen eines Hilfsprogramms für die von der Finanzkrise betroffenen Länder einen Kredit von 56 Millionen Euro beantragen. Noch immer leidet fast die Hälfte der Bevölkerung an Malaria. Unter der Präsidentschaft von Wade wurde nahezu die komplette existierende öffentliche Infrastruktur privatisiert: die staatliche Fluggesellschaft, der neue Flughafen, die im Bau befindliche Stadtautobahn, das öffentliche Stromnetz. Nichts davon hat sich für die Bevölkerung rentiert: die Flugreisen sind teurer geworden, die Elektrizitätsversorgung ist weiterhin so marode, dass es selbst in Dakar zu Stromausfällen kommt. „Die Ineffizienz des Strombetriebs ist ebenso sattsam bekannt wie all die Probleme, die daraus für die Preise, die Finanzierung und die ungleiche Stromversorgung resultieren“, heißt es in einem Bericht von Assises Nationales du Senegal, einem senegalesischen Bündnis von Nichtregierungsorganisationen.
Drastische Konsequenzen haben die Direktiven der internationalen Kreditgeber auch auf dem Land: die geplante Privatisierung staatlichen Strukturen der Weiterverarbeitung und Vermarktung landwirtschaftlicher Produkte wird die Armut auf dem Lande, wo 60 Prozent der Gesamtbevölkerung leben, zusätzlich zuspitzen und die Flucht in die Großstadtslums beschleunigen. Dabei haben zumindest diese Strukturen jahrzehntelang die Ernährungssicherheit der Bevölkerung erfolgreich garantiert.
Am Atlantik gelegen und traditionell mit einer starken ökonomischen Ausrichtung auf den Fischfang, verloren senegalesische Fischer in den vergangenen Jahren durch internationale Fischereiabkommen und die industrielle Fischerei zunehmend ihre ökonomischen Grundlagen. Es ist in erster Linie die EU, die die Existenz westafrikanischer Fischer mit industriellen Fangmethoden ruiniert hat. Zuerst wurden den Regierungen der Küstenländer – oftmals unter Druck – die Fischereirechte abgekauft. Dann holten hochtechnisierte, steuersubventionierte Fischereiflotten in kürzester Zeit mehr Fisch aus dem Wasser als die Einheimischen dies in Jahrzehnten vermocht hätten. Fisch aber ist besonders in Westafrika als lebenswichtiger Eiweißlieferant von zentraler Bedeutung. Im Senegal wird 75 Prozent des Eiweiß durch Fisch aufgenommen, in der lokalen Fischwirtschaft direkt oder indirekt 600.000 Menschen beschäftigt. Viele der um ihre Verdienstmöglichkeiten gebrachten Fischer haben kaum eine andere Wahl, als ihre Boote an Flüchtlinge zu vermieten oder zu verkaufen oder gar selbst die gefährliche Fahrt in Richtung kanarische Inseln anzutreten. So sorgt die EU indirekt selbst für seeerfahrene „Reiseunternehmer“ und Bootsflüchtlinge.
Die Regierung Wade kooperiert eng mit der EU, um die massenhafte Flucht seiner StaatsbürgerInnen zu kontrollieren, gelten doch geschätzte 50% aller Boatpeople in Richtung Kanarische Inseln als Senegalesen. Die EU finanziert darüber hinaus den Ausbau der Polizei- und Überwachungskapazitäten und mit Frankreich und Spanien geschlossene Abkommen erleichtern die Abschiebung „illegaler“ SenegalesInnen aus Europa. Sie finanzieren im Gegenzug landwirtschaftliche Entwicklungsprojekte, die auch zur Reintegration abgeschobener MigrantInnen dienen.
Dass es paradoxerweise nicht allein die Armut, sondern gerade der vorhandene Ressourcenreichtum ist, die die Abwanderung innerhalb Afrikas oder ins europäische Ausland begründen, verdeutlicht auch ein Blick ins Nachbarland Mali - der drittgrößte Goldproduzent Afrikas und zugleich eines der ärmsten Länder der Welt. Der Mindestverdienst (Salaire Minimum) eines ungelernten Arbeiters beträgt ca. 23.000 CFA-Franc (35 Euro), der eines Facharbeiters ca. 50.000 CFA-Franc monatlich. Mali besitzt eine sehr lange Tradition der Migration innerhalb Afrikas und in arabische Länder, die sowohl aus der schwachen Wirtschaft, als auch aus den gesellschaftlichen Traditionen einer nicht an den Nationalstaat gekoppelten Kultur der Mobilität resultiert. Zudem sind MigrantInnen ein Alltagsphänomen in Mali, da in den westafrikanischen Ecowas-Staaten eine allgemeine Reisefreiheit praktiziert wird und Staatsgrenzen oder Reisepässe seit der postkolonialen Unabhängigkeit kaum Bedeutung hatten. Geschätzte 4 Millionen MalierInnen, mehr als ein Drittel der Gesamtbevölkerung von 11,7 Millionen Menschen, leben im Ausland, davon eine halbe Million in Europa und den USA.
Mali ist ein Schlüsselland der Transsahara-MigrantInnen. In der Region des Sahel im Nordosten von Mali liegen am großen Niger die Orte, die fast jeder passiert, der sich aufmacht, den afrikanischen Kontinent zu verlassen: Gao und Kidal. Auch wenn die Wüsten-Route nur einer der Wege ist, den Kontinent zu verlassen, ist sie doch der Ameisenpfad für das Proletariat der MigrantInnen - für diejenigen, die sich weder eine Bootspassage an der senegalesischen Küste noch ein Schengen-Visum, noch nicht einmal ein schlecht gefälschtes, leisten können. Von dort aus starten die klandestinen Flüchtlingstrecks auf Kleintransportern durch die menschenfeindliche Sahara, um die versteckten Häfen an der libyschen Küste zu erreichen. Bis zu dem jüngsten bilateralen Abkommen mit Italien im Jahr 2010, seitdem sich Libyen die Verfolgung und Abschiebung subsaharischer MigrantInnen im Auftrag der EU mit 4,3 Milliarden Euro vergüten lässt, setzten von hier ungezählte kleine Fischerboote auf die italienische Insel Lampedusa über. Ein großer Teil derer, die ihren Weg nach Europa über Marokko oder Libyen suchen, kommen aus Mali.
Weil Mali zugleich Transitland für viele MigrantInnen aus den südlichen Teilen Westafrikas ist, hat die europäische Außenpolitik das Land als Laboratorium ihres Migrationsmanagements ausgewählt. Dabei hat die alte Kolonialmacht Frankreich das frankophone Westafrika und besonders Mali immer schon als historische Sonderwirtschaftszone betrachtet. Doch seitdem das Reservoir der billigen afrikanischen Arbeitskräfte nicht mehr benötigt wird und das Schengener Abkommens im Jahre 1990 die Visumsfreiheit für Frankreich beendete, dient Mali nur noch als erweiterte Banlieue, in die die überflüssigen „Papierlosen“ aus Europa abgeschoben werden. Unter dem aktuellen Präsidenten Amadou Toumani Touré treffen Frankreich und die EU auf eine weitgehend willige Regierung. Finanzielle Versprechungen im Rahmen von Kooperationsversprechungen und Entwicklungszusammenarbeit (EZ), sowie in Aussicht gestellte Kontingente im Kontext der zirkulären Migration, sollen Anreize für Rücknahmeabkommen auf bilateraler Ebene schaffen.
Ein Leben „wie in der Hölle“
Das in der Landeshauptstadt Bamako angesiedelte Büro für Migrationsmanagement (CIGEM – Centre d’Information et de Gestion des Migrations au Mali) soll Modelle für ein effizientes und selektives Migrationsregime auf afrikanischem Boden entwickeln, die das Gros der Abwanderungsbereiten in Afrika halten und ausgesuchte und für den EU-Arbeitsmarkt qualifizierte MigrantInnenen zeitlich befristet nach Europa holen sollen. Dabei setzt die EU gezielt auch auf vorhandene Selbsthilfevereinen von ehemaligen Abgeschobenen, um deren lokale und regionale Unterstützungsnetze in das moderne Containment gegenüber der Bewegung der Migration einzubinden. Diesen Versuchen der Inkorporation, die durch finanzielle Anreize selektive und nur punktuell ansetzende Projekte zur „Förderung des Hierbleibens“ („Promotion du mieux être ici“) lancieren, widerstehen bis heute Solidaritätsnetzwerke wie die Organisation ehemaliger Abgeschobener AME (Association Malienne des Expulsés), Partner von medico international, die nicht nur Abgeschobenen direkte Hilfe zukommen lassen. Sie konnten zudem auch im Vorfeld von Staatsbesuchen und EU-Verhandlungen bislang erfolgreich verhindern (Stand: 2010), dass die malische Regierung nicht-öffentliche Rückführungsabkommen abschließt.
Ousmane Diarra, Präsident der AME, beschrieb im malischen Parlament die migrantische Odyssee des 21. Jahrhunderts und das hunderttausendfache Ausgeliefertsein zwischen struktureller Armut und der erzwungener Immobilität wie folgt: „Mit der Ankunft in unserem Heimatland und nach der Registrierung durch die Grenzpolizei, werden wir vollkommen auf uns selbst zurückgeworfen. Nach den vielen Jahren, die wir an anderen Orten verbrachten, lässt man die Abgeschobenen völlig allein. Die Mehrheit von uns musste Frauen, Kinder und materielles Eigentum zurücklassen. Die Not ist Bestandteil unseres Lebens geworden. Wir finden uns in Mali wieder und denken an unser Leben, das anderswo zertrümmert wurde. Die Landflucht, gefolgt von der Emigration, hat schon so viele unserer jungen Brüder und Schwestern auf die Wüstenstraßen geführt. Wenn sie nicht im Meer ertranken, kommen diese MigrantInnen, nachdem sie lange Haft, Schikanen, Schläge und Hunger erlitten haben, als Abgeschobene zurück. Sie werden von Grenze zu Grenze geschoben, nur um schließlich im Norden Malis ausgesetzt zu werden. Alleingelassen, leben sie während des Abenteuers in der Wildnis wie in der Hölle.“
Die anhaltende Landflucht ist auch in Mali ein Beweis dafür, dass in der Realität die Kreditauflagen und vom IWF aufgezwungenen Strukturanpassungsprogramme längst die Herrschaft übernommen haben und von einer eigenständigen staatlichen Wirtschafts- und Sozialpolitik nicht mehr die Rede sein kann. Hinzu kommen die bilateralen Wirtschaftspartnerabkommen (Economic Partnership Agreements, EPAs) zwischen der EU und 77 AKP-Staaten (Afrika, Karibik, Pazifik), die die betroffenen Länder zwingen, die Rahmenbedingungen für Investitionen zu liberalisieren und europäischen Unternehmen den Zugang zu den lokalen Märkten eröffnen.
Das liberale Handelscredo aufgehobener Exportrestriktionen schafft in Mali und der gesamten westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft nicht „mehr Markt“, sondern verknappt die ohnehin beschränkten regionalen Handlungsspielräume weiter und trifft besonders die Agrarwirtschaft. Geht es nach der EU, sollen weder Steuern auf Importe erhoben noch die lokale Landwirtschaft subventioniert werden. Weil dabei allerdings von den EU-Agrarsubventionen nicht die Rede ist, werden die Märkte Malis und anderer Länder Westafrikas mit Gütern aus dem selbst hochsubventionierten europäischen agrar-industriellen Komplex überschwemmt: Billiggemüse, Milchpulver, Tomaten, Eier und Fleisch, sogar tiefgekühlte Hühnerflügel werden gehandelt.
Extraktion der Ressourcen
Das Akkumulationsregime des Freihandels entzieht dem Land aber auch den Zugriff auf seine Ressourcen: Gold und Baumwolle. Die Goldminen in der Region Kayes und die fruchtbaren Ebenen entlang des Nigerflusses, Zentrum der zweitgrößten Baumwollproduktion im subsaharischen Afrika, sind trotz ihres Reichtums zwei der traditionellen Herkunftsregionen malischer EmigrantInnen. Das Privatisierungsdiktat, dem sich die malische Regierung zur Tilgung seiner Auslandschulden bereits seit den 1990er Jahren unterwerfen musste, setzte nicht nur die Liberalisierung des Marktes für Saatgut und die Öffnung des Agrarsektors für ausländische Investoren durch. Im August 2008 entzog das malische Parlament seinen Baumwollproduzenten den letzten Schutzschirm und privatisierte die halbstaatliche Gesellschaft für die Entwicklung der Textilindustrie (CMDT - Compagnie Malienne pour le Développement des Fibres Textiles). Diese hatte bis dahin den Baumwollsektor zentralistisch gesteuert und durch eine garantierte Preisstabilität den lokalen Baumwollproduzenten ein bestimmtes Grundeinkommen unabhängig von den schwankenden Weltmarktpreisen garantiert. Bis zu ihrer Privatisierung kontrollierte die CMDT 95% der Baumwollwirtschaft im Land. Heute sind die malischen Baumwollbauern auf dem Weltmarkt nicht mehr konkurrenzfähig. Ohne die hohen Agrarsubventionen der USA, China und der EU, würde nach Schätzungen des Overseas Development Institute (ODI) das Einkommen der westafrikanischen Baumwollproduzenten um 250 Millionen US-Dollar pro Jahr steigen.
Der Zusammenhang zwischen der Ausbeutung der Ressourcen und der Migration zeigt sich auch in der Struktur der malischen Goldexploration. Die Goldexporte machen zwar 75 Prozent der gesamten Exporte aus, der Goldhandel trägt aber nur zu 8 Prozent des malischen Bruttoinlandproduktes bei. Die Gründe für diese vermeintlichen Paradoxie liegen im Wesen des neoliberalen Marktes: weitgehende Öffnung des Goldsektors für ausländische Investoren bei gleichzeitiger Ausweitung der industriellen Goldproduktion, dazu extrem rentable Produktionskosten durch Niedrigstlöhne und maximale Steuer- und Handlungsfreiheit für private Unternehmer. Sondergesetze auf Druck der Weltbank begrenzen die staatliche Beteiligung an den Minen auf 20% und machen so das malische Gold zum profitabelsten in ganz Afrika.
Viele Malier verlassen aufgrund der schlechten Arbeitsbedingungen und der Umweltverschmutzung in den Minengebieten die rohstoffreichen Regionen. Im Herbst 2010 wies Samba Tembely, Sprecher der kritischen Coalition des Alternatives Dette et Dévelopement Mali (CAD-Mali) auf einer Versammlung der malischen Zivilgesellschaft zum Thema „Entwicklung und Migration – 50 Jahre nach der Unabhängigkeit“ auf diesen eklatanten Widerspruch hin: „Mali konsumiert, was es nicht produziert und produziert, was es selber nicht konsumiert. Dies führt zur Verarmung unserer Bevölkerung, zu der Plünderung unserer Ressourcen und verunmöglicht alle Perspektiven einer wirklich demokratischen Veränderung. So wird unser Land in Abhängigkeit und Unterdrückung gehalten.“
Die internationale Finanzkrise verstärkt diesen Trend, da unterbrochenes Wachstum bekanntlich die Investitionen stocken und in Wirtschaftsystemen ohne staatliche Regulationsmechanismen den Hunger zusätzlich anwachsen lässt. Zum Zeitpunkt des Ausbruchs der Bankenkrise versuchte Philippe Labon vom französischen Konzern Bolloré Africa Logistics noch die afrikanischen Märkte zu beruhigen: „Afrika hat keine spekulative Ökonomie. Der Tsunami der globalen Krise wird hier in sehr abgemilderter Form ankommen.“ Die Finanzkrise führte dennoch dazu, dass die afrikanischen Rohstoffpreise kurzfristig um bis zu 70% absanken: der Kupferpreis fiel von 9000 US-Dollar je Tonne auf rund 3000 US-Dollar, nähert sich jetzt aber wieder der 10.000 US-Dollar-Marke (Dezember 2010). Nach jüngsten Schätzungen von Weltbank und IWF kann in der Region die Armutsrate im Jahr 2015 bis zu 38 Prozent betragen. Das entspräche zusätzlichen 20 Millionen Menschen, die täglich weniger als einen Dollar zum Überleben haben.
Offshore-Farming
Nahezu unbeachtet und im Schatten der Finanzkrise haben sich die Getreideimporte nach Angaben der FAO, der Ernährungsorganisation der UN, in den letzten Jahren um bis zu 50 Prozent verteuert: Weizen, Reis und Mais sind zum neuen Öl geworden. Die weltweiten Getreidereserven sanken Anfang 2008 auf einen historischen Tiefstand, die folgende Preisexplosion war eine Zäsur wie die Ölkrise in den 1970ern Jahren. Die Gründe für diese Nahrungsmittelkrise liegen in einer von den USA und der EU jahrzehntelang durchgesetzten Politik, in der internationale Institutionen wie Weltbank und IWF die afrikanischen Länder zwangen, die staatlichen Subventionen für die Landwirtschaft zu streichen und die lokale Agrikultur in die globale Wirtschaft zu integrieren. Als Resultat dieser „Strukturanpassungen“ wird Getreide exportiert, die regionalen Märkte zerfallen, die Landflucht verstärkt sich. Die Farmer verlassen ihr Land und verdingen sich in den Schwitzbuden der Elendsgürtel um die wuchernden Metropolen. Die hohe Weltmarktpreise führten auch dazu, dass nicht nur Länder mit knappem Ackerboden und Wasser versuchen, Land im Ausland zu kaufen - etwa Libyen, das 100.000 Hektar besten Boden in Mali zum Reisanbau auf 50 Jahre pachtete. Der hohe Anstieg der Weltmarktpreise für Lebensmittel im Jahr 2008 war zum Teil auch Spekulationskäufen geschuldet, die EU und USA mit ihren neuen Biosprit-Richtlinien ausgelöst hatten.
„Offshore Farming“ wird diese neue Art der Landnahme genannt, in der sich reiche Länder im Ausland riesige Anbauflächen für die Nahrungsmittel- oder Agrartreibstoffproduktion sichern. Die FAO bezeichnet dieses von Finanzinvestoren und transnationalen Konzernen betriebene „Landgrabbing“ als neue Form des Kolonialismus. Statt sich um eine bedarfsorientierte landwirtschaftliche Entwicklung zu bemühen, baut das internationale Agrarbusiness im vom Bürgerkrieg zerrütteten Sierra Leone auf 15.000 Hektar Land mit europäischen Fördermitteln Zuckerrohr zur Gewinnung erneuerbarer Treibstoffe an. Diese Form der Plantagenwirtschaft ist ungefähr das Gegenteil der Anbaumethoden, wie sie in Westafrika 80 Prozent der Bauern betreiben. Nach dem Verlust ihrer kleinbäuerlichen Landwirtschaft wird damit ein wachsender Bevölkerungsanteil der globalen Nahrungsmittelkrise ausgesetzt.
Das Ergebnis sind nicht nur Boden- und Wasserkonflikte, sondern auch eine verstärkte Migration in den städtischen Raum. Die ärmsten Länder, wie Mali oder auch Niger, sind auf den Import von Nahrungsmitteln angewiesen und bleiben den Preisschwankungen des globalen Marktes schutzlos ausgeliefert. Die enormen Preissteigerungen der Lebensmittel im letzten Jahrzehnt drückten vor allem in Afrikas Städten fast 150 Millionen Menschen unter die Armutsgrenze.
Drohende Hungerumstürze
Der wachsende Hunger erzeugt aber nicht nur neues Elend. Diejenigen, die nur noch ihr „nacktes Leben“ (Agamben) haben, werden zunehmend als eine Gefahr betrachtet für die Unversehrtheit des Welthandels und der Wohlhabenden in den USA und Europa. Das Bild des Hungernden hat sich gewandelt – vom apathischen Flüchtling in der Sahelzone zum rebellischen Plünderer in einem Slum der afrikanischen Großstädte. In der Studie „Die künftigen Hungerumstürze“ (Washington Quarterly, Januar 2009) beschrieben bereits vor zwei Jahren die Sicherheitspolitiker Andrew Natsios und Kelley Doley, wie die in Europa und den USA hoch subventionierte Biotreibstoffe die weltweiten Getreidepreise zwischen 2000-2007 um bis zu 30 Prozent steigen ließen. Sie schließen: „Wenn die globale Wirtschaftslage sich nicht wesentlich verbessert und in armen Ländern ohne soziale Sicherheitsnetze die Arbeitslosigkeit steigt, dann könnte das gleichzeitige Zusammenwirken von hohen Urbanisierungsraten, hohen Nahrungsmittelpreisen und verbreiteter Arbeitslosigkeit fatale Folgen haben.“
Die meisten Hungerrevolten der letzten Jahre fanden in den urbanen Zonen Afrikas statt, in den die Nahrungsmittelpreise von den dramatischen Steigerungen auf dem Weltmarkt bestimmt waren. Die größte Gruppe der Versorgungsempfänger des UN-Welternährungsprogramm (WFP) lebt in Afrika, nach Angaben des WFP liegen dort 14 von den 30 Ländern, die von der Nahrungsmittelkrise am schwersten getroffenen wurden. Allein südlich der Sahara leben bereits heute geschätzte 40% der Menschen in Städten, im Jahr 2030 wird es die Hälfte der Bevölkerung sein.
Im Jahr 2009 unterstützte das WFP 35 Millionen AfrikanerInnen, 4,5 Prozent der regionalen Bevölkerung, bei der Sicherstellung ihrer Grundversorgung mit Nahrungsmitteln, im Jahr 1997 waren es noch 3,5 Prozent. Wenn aber der internationale Handel Grundnahrungsmittel wie Getreide nicht als existenzielles Recht der Armen, sondern lediglich als eine Handelsware wie viele andere betrachtet, wenn also die bezahlbare Nahrung knapp wird, revoltieren nicht nur die Betroffenen. Vor allem die jungen Männer emigrieren, werden zu Milizionären oder fordern als Piraten im Golf von Aden die internationale Handelsschiffe heraus.
Beraubt und destabilisiert: aber auch im Aufbruch
Westafrika und der Sahel sind daher nicht nur ein geographischer Raum der ökonomischen Extraktion, sondern auch zunehmend eine Zone von potenziellen „Destabilisierungen“, die deshalb auch bereits in die strategischen Szenarien des „Kriegs gegen den Terror“ Eingang gefunden haben. Durch Kooperationsabkommen mit den regionalen Militärs wird im Rahmen der US-amerikanischen „Initiative Pan-Sahel“ versucht, die Region zu kontrollieren und die vermeintlichen Rückzugsräume „terroristischer“ Gruppen – darunter auch Al Quaida im Maghreb – einzuschränken. Auch die Bundeswehr ist z. B. in Mali mit Militär- und Polizeiausbildern präsent, die USA rüsten Tuareg-Rebellen gegen „islamische Kämpfer“ mit modernen Waffen aus.
In Westafrika hat der Staat als politisch unabhängige Einheit längst begonnen zu verschwinden und die in den 1960er Jahren erlangte formale Unabhängigkeit droht, nicht mehr als ein Abstraktum zu bleiben. Für den Traum des 2001 verstorbenen Dichterpräsidenten und Gründers der senegalesischen Demokratie, Léopold Sédar Senghor, von einem „Eurafrique“ brachte das alte koloniale Europa schon in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts keinerlei Verständnis auf. Afrikanische Freiheitskämpfer wie etwa Amilcar Cabral aus Kap Verden oder auch Thomas Sankara aus Burkina Faso warfen dem Begründer der poetischen „Négritude“ nicht zu Unrecht eine „unterwürfige Affinität“ gegenüber der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich vor.
Aber in den heutigen Zeiten, in denen die Ecowas-Staaten die Privatisierungsdiktate des IWF und der Weltbank durchlitten und multinationale Konzerne zunehmend die noch vorhandenen öffentlichen Güter aufkaufen, wäre Senghors Traum von „gleichberechtigten Partnern“ ein geradezu revolutionäres Vorhaben.
Die Freihandelsglobalisierung im subsaharischen Afrika verwischt die bisher geltenden Grenzen, löst die bestehenden territorialen Einheiten auf und schafft so einen geschlossenen Raum für „überflüssige“ Bevölkerungsgruppen. An der Peripherie der großen technologischen Veränderungen bildet sich dabei eine Zwangsherrschaft heraus, deren einziger Zweck in der Verwaltung von Ausschussbevölkerungen und der Ausbeutung von Rohstoffen liegt. Hier zeigt sich die totalitäre Seite der Globalisierung, die unterschiedliche Formen extremer Gewalt und damit eine Teilung der Welt in Regionen des Lebens und Regionen des Todes hervorbringt.
Doch weil in den individuellen Massenfluchten aus diesen Elendszonen der hunderttausendfache Wunsch nach Sicherheit, Rechten und Glück wirkt und in den Bewegungen der MigrantInnen zugleich eine erste Spur zurückeroberter Autonomie aufscheint, drückt sich in der weltweiten Migration nicht nur Ungleichheit und die Vernichtung von Lebensgrundlagen aus, sondern auch der Anspruch auf Überleben, auf eine „Globalisierung von unten“, die auch als autonome Ausdrucksform einer nicht-repräsentativen Demokratie fernab aller staatlichen Kontrolle und Verwaltung verstanden werden kann. Es sind solidarische Formen der Hilfe und des gegenseitigen Schutzes, die jene Menschen praktizieren, die unmittelbar gezwungen sind, sie zu erfinden: die MigrantInnen aus Afrika oder anderen Kontinenten.
Laut dem jüngsten „Bericht zur menschlichen Entwicklung“ der UN aus dem Jahr 2009 gibt es für die Menschen in den armen Ländern des Südens noch immer keinen besseren Weg aus der Misere als zu emigrieren. Spätestens mit der Einführung einer gesamteuropäischen Grenzpolizei hat sich die EU dagegen eine Bürokratie der Selektion geschaffen, die die eigene Sphäre des ökonomischen Wohlstands vor dem Begehren der globalen Armen „schützen“ soll. Darin zeigt sich die Wahrheit der europäischen Gegenwart: Der Bau eines neuen eisernen Vorhangs zwischen denjenigen, die in den Gegenden relativer Sicherheit dazu gehören, und jenen Millionen von Ausgegrenzten, die der letzte Zyklus der Globalisierung zu Landlosen und Vagabunden machte. Diese neue Mauer zu überwinden und schlussendlich einzureißen muss deshalb als Widerstandsrecht und direkter Vorgriff auf jene solidarische Zukunft verstanden werden, die die altermondiale Bewegung meint, wenn sie sagt: „Eine andere Welt ist möglich“.
Martin Glasenapp
Danke für Hilfe an Judith Kopp