»Al-Anfal«, zu deutsch »die Beute«, ist der Name der achten Sure des Korans. Die Saddam-Regierung nutzte ihn als Losung, um ihren Vernichtungskrieg gegen die irakischen Kurden religiös zu rechtfertigen. Zur »Operation Anfal« gehörten nicht nur der berüchtigte Giftgasangriff auf die Stadt Halabja, sondern vier große Militärschläge in der ersten Hälfte des Jahres 1988, denen 180.000 Menschen zum Opfer fielen. Es wurden damals selbst die kurdischen Dörfer planmäßig dem Erdboden gleichgemacht, deren überlebende Bewohnerinnen und Bewohner längst geflohen waren. In einer Notiz des Generalstabs der 5. irakischen Armee hieß es: »Die Kämpfer der Nationalverteidigungstruppen erfüllten mit Begeisterung ihre Aufgabe, die Saboteure zu vernichten. Sie halfen, die Dörfer niederzureißen, und machten Beute.«
Da US-amerikanische Luftaufklärungssatelliten den Diktator zu dieser Zeit noch verlässlich über jede Bewegung im »Zielgebiet« unterrichteten, war schon 1988 bekannt, dass 4000 Dörfer vollständig vernichtet, ihre Häuser, Felder und Obstgärten niedergebrannt, ihre Brunnen zubetoniert, die Menschen getötet oder vertrieben worden waren. Doch sprach damals niemand davon, im Gegenteil: Das Außenministerium der USA riet dem Kurdenführer Talabani, er möge mit Saddam Hussein sein »Auskommen« suchen. Denn dieser war zu jener Zeit eben noch ein Verbündeter des Westens im Kampf gegen den Iran.
Wiederaufbau mit Unterstützung von medico
Nach dem kurdischen Aufstand im März 1991 entstand in einem Gebiet von etwa 40.000 Quadratkilometern die kurdische Schutzzone »Safe Haven«, etwa so groß wie Nordrhein-Westfalen. Zur Hinterlassenschaft zweier Golfkriege gehörten dort 20 Millionen Landminen, deren Sprengkraft jeden Schritt zurück in ein ziviles Leben bedrohte: den Gang zur Wasserstelle, die Arbeit auf dem Feld, das Spiel von Kindern. In diesem Jahr begann die langfristige Wiederaufbauhilfe medicos und seiner kurdischen Partnerinnen und Partner. Dazu gehörte natürlich die Ausbildung und Aufstellung von Entminungs-Teams und die Wiederherstellung von Bewässerungsanlagen als Voraussetzung einer Rückkehr zur Land- und Viehwirtschaft, dann der Bau von Gesundheitsstationen und Krankenhäusern, schließlich die gezielte Stärkung der örtlichen Verwaltung und der gesellschaftlichen Infrastruktur. Eine Hilfe, die heute noch fortgesetzt wird.
Unumgänglich für die schrittweise Sicherung und Ausgestaltung, auch die Neuerfindung der Möglichkeit eines zivilen Lebens war und ist aber auch das Gedenken derer, die der Gewalt zum Opfer fielen. Bald nach der Einrichtung der Schutzzone begannen forensische Teams der US-amerikanischen Physicians for Human Rights die Massengräber der Anfal-Toten zu öffnen. Die Überlebenden wurden befragt und aus zahlreichen Dokumenten, die die irakischen Truppen nach ihrer Flucht in den Süden hinterlassen hatten, die tödlichen Befehlsketten entschlüsselt. Die Verbrechen sollten erfasst und die Toten geborgen werden, um ein Begräbnis in Würde zu erhalten.
Erinnerung und Anklage
Doch mussten viele der 1988 geflohenen Kurdinnen und Kurden bis zum Jahr 2003 warten, ehe sie ihre damals verlassenen Dörfer in der Gegend von Mosul und Kirkuk besuchen konnten. So haben viele Überlebende der Anfal-Operationen erst jetzt die Möglichkeit, das Wort zu ergreifen, ihre Geschichte zu Gehör zu bringen. Sie warten auf Anerkennung und Gerechtigkeit, und sie verlangen Entschädigung, auch von den deutschen Firmen, die das technische Gerät für die Chemiewaffeneinsätze der irakischen Truppen lieferten.
Seit 2004 unterstützt medico zusammen mit der Hilfsorganisation Haukari die Arbeit von Beratungsstellen für die Opfer politischer Gewalt. Wenigstens die Überlebenden können ihrer Erfahrung Öffentlichkeit verschaffen und dadurch die historische, soziologische, politische und juristische Aufarbeitung der Verbrechen des Baath-Regimes durch ihre je eigene, individuelle Geschichte erweitern. Wir fördern die Aufzeichnung dieser Zeitzeugenberichte in Bild und Ton: für spätere Entschädigungsverfahren, aber auch um die Zivilgesellschaft zu stärken. In den Filmdokumenten verbindet sich die individuelle Erinnerung der einzelnen Leidens-, Verlust- und Überlebensgeschichten mit der Anlage eines kollektiven Archivs für den gesellschaftlichen Aufarbeitungsprozess, auch für eine spätere strafrechtliche Nutzung. Dies ist ein schmerzhafter, aber notwendiger Prozess angesichts der fortwährenden Gewaltverhältnisse in dem durch die langen Jahre der Diktatur und des Krieges zerrütteten Land. Ohne die Aufarbeitung der Vergangenheit, ohne die Entwicklung einer Kultur des Erinnerns und ohne materielle Entschädigung der Opfer kann es keine Versöhnung, mithin keine demokratische Zukunft aller im Irak lebenden Menschen geben. Das gilt gerade auch nach dem dritten Golfkrieg, der zwar zum Fall des Diktators, aber noch lange nicht zum Frieden geführt hat.