Irak

Tabubruch: Aktivismus von Frauen

25.01.2021   Lesezeit: 10 min

Ein Gespräch mit Nadia Mahmood über die Realitäten von Frauen im Irak, feministische Bewegungen und die Gründung von Aman.

medico: Liebe Nadia, kannst du, bevor wir auf Amanund die im letzten Jahr entstandenen feministischen Kämpfe zu sprechen kommen, beschreiben wie die Situation von Frauen in der irakischen Gesellschaft momentan aussieht?

Nadia Mahmood: Auch wenn es in den letzten Jahren viele positive Entwicklungen gab, leiden Frauen oft noch unter verschiedenen Formen von Gewalt, ein großes Thema ist immer noch häusliche Gewalt. Frauen stehen leider noch zu oft in Abhängigkeitsverhältnissen und es kommt zum Beispiel noch häufig vor, dass Frauen ohne die Erlaubnis eines männlichen Familienmitglieds nicht einkaufen gehen oder einen Arzt aufsuchen können. Sie sind nicht frei in ihrer sozialen Interaktion mit Menschen, um Freund:innen zu sehen, oder mit insbesondere männlichen Freunden, Kontakte zu knüpfen.

Wir beschäftigen uns viel mit der Situation von Frauen und ihren Arbeitsverhältnissen. Prekäre Arbeitsbedingung, ungleiche Chancen bei Bewerbungen oder in der Entlohnung sind dabei nur einige Themen. Nur 15 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung sind Frauen. Oft sind Frauen – besonders in der Privatwirtschaft – mit sexueller Erpressung und Belästigung am Arbeitsplatz konfrontiert. Es gibt inzwischen zwar einen Artikel im Arbeitsgesetz 37, der diese Verstöße kriminalisiert. Es kommt aber nur selten zu einer wirklichen Strafverfolgung, die "Schuldzuweisung an das Opfer" ist noch sehr weit verbreitet. Viele Frauen nehmen deshalb nur noch im Notfall eine Arbeit im Privatsektor an.

Oft sind Frauen, die kein Einkommen haben oder arbeitslos sind, abhängig von ihren Männern. Es fehlt an Unabhängigkeit. Und nicht selten erfahren Frauen zu Hause Misshandlungen und Gewalt. Wir glauben, dass die Verbesserung der wirtschaftlichen Situation von Frauen dazu beitragen kann, ihre soziale Stellung in der Gesellschaft zu verändern, sich an Aktivitäten zu beteiligen und sich aktiv in Politik einzumischen.

Eine Folge von Frauenarmut ist, dass Frauen aus wirtschaftlichen Gründen eine Ehe eingehen. Damit wird die Ehe zu einer Art "sozialen Absicherung", über die eine Wohnung und ihre Lebenshaltungskosten gezahlt werden können. Dies fördert natürlich die Abhängigkeit und Verwundbarkeit von Frauen, wenn es zu häuslicher Gewalt und Belästigung durch männliche Familienmitglieder kommt. Der Staat bietet Frauen, die Gewalt oder Armut ausgesetzt sind, leider wenig Unterstützung oder Schutzräume an.

Hat sich mit der Covid-19-Pandemie die Situation der Frauen im Irak verändert?

Natürlich ist – wie überall – mit dem Lockdown die häusliche Gewalt an Frauen gestiegen. Was aber auch passiert, ist, dass in bestimmten Kreisen die Debatte über geschlechtsspezifische Gewalt, Online-Erpressung und die Ehe von Minderjährigen zugenommen hat. Ich führe dies auf die Politisierung der Frauen durch die Aufstände zurück. Es wurden viele Online-Kanäle genutzt, in denen sich Frauengruppen Raum nehmen können und sich schneller trauen, ihre Stimme zu erheben.

Eure Organisation Aman hat im September einjähriges Bestehen gefeiert. Du bist schon seit Jahren als Feministin im Irak aktiv. Warum haben du und deine Mitstreiterinnen Amanim September 2019 gegründet? Was ist die Idee von Aman?

Wir sind eine Gruppe von Aktivistinnen, die sich ausdrücklich säkular verstehen. Das ist für uns im irakischen Kontext sehr wichtig. Wir alle setzen uns für die Gleichberechtigung der Frauen im Irak ein. Wir haben Aman im September 2019 gegründet, um eine aktive Rolle in einer sich neu entwickelnden feministischen Bewegung im Irak einnehmen zu können. Diese zeichnete sich schon im September ab, mit den ersten Streiks von Universitätsabsolventinnen. Für diese Frauen wollen wir eine Plattform bieten und ihnen die Möglichkeit geben, sich auch jenseits der Platzbesetzungen zu organisieren.

Wir haben unsere Organisation mit dem Ziel gegründet, uns für Sicherheit und Schutz von Frauen einzusetzen. Aman bedeutet so viel wie Sicherheit. Wir streben wirtschaftliche, soziale und politische Rechte (eben Sicherheit) für Frauen in unserer Gesellschaft an. Als Aktivistinnen sind wir leider oft mit schweren Formen von Gewalt wie Tötungen und Einschüchterungen konfrontiert, die uns davon abhalten sollen, aktiv zu werden. Auch deshalb fordern wir Sicherheit für Frauen. So ist beispielsweise Sara Talib, die bei Aman mitgemacht hat, in den ersten Tagen des Aufstandes von bewaffneten Männern getötet worden, die in ihr Haus eindringen. Das zeigt uns, wie unverzichtbar unser Aktivismus ist.

Bei Aman organisieren wir uns basisdemokratisch. Es gibt kein zentrales Büro oder Angestellte, jede leistet so viel wie ihr möglich ist, Entscheidungen werden kollektiv getroffen. Im Gegensatz zu oftmals auf spezifische Ziele gerichteten Einzelprojekten der Frauenrechtsbewegung ist es Aman wichtig, sich für verschiedene Aspekte im Kampf um Frauenrechte einzusetzen und Diskriminierungsverhältnisse zusammen zu denken. So gibt es beispielsweise die Idee, ein Netzwerk arbeitsloser Frauen zu bilden. Außerdem gibt es Juristinnen bei Aman, die sich zum Ziel gesetzt haben, reaktionäre Gesetze anzufechten, die Frauen benachteiligen. Die jungen Juristinnen beteiligen sich auch an der Strafverfolgung von Gewalt an Frauen.

Wir vernetzen uns außerdem mit Aktivistinnen aus anderen Ländern, wie Sudan oder Tunesien, denn auch dort nehmen Frauen eine immer zentralere Rolle in den aktuellen Protesten ein und wir denken, dass wir von ihnen lernen können.

Ihr wart bei den Aufständen dabei und du sagst, dass die Beteiligung der Frauen diesmal besonders war. Wieso war das so?

Ich denke, inspiriert durch die Präsenz von Frauen in der Libanon-Revolution, die am 17. Oktober 2019 begonnen hatte, haben sich auch Frauen im Irak ab dem 25. Oktober in beispielloser Weise an den Protesten beteiligt. Die Beteiligung der Frauen an diesem Aufstand war besonders, weil sie mit sozialen und politischen Tabus brach. Ich glaube, sie hat dazu beigetragen, dass besonders junge Frauen eine Vision für sich selbst und für eine Gesellschaft in der sie leben wollen entwickelt haben.

Frauen nahmen einen klaren Standpunkt gegen das politisch-sektiererische System ein. Viele organisierten die Proteste mit und besetzten wichtige zentrale Plätze in Bagdad und anderen Städten im zentralen und südlichen Teil des Landes. Junge Frauen standen in den vordersten Reihen der Bereitschaftspolizei gegenüber und schützten die Protestierenden auf dem Tahrir-Platz vor der Polizei und anderen Kräften.

Studentinnen widersetzten sich den Anordnungen ihrer Universitätsverwaltungen, um sich den Aktionen anzuschließen. Sie sammelten Spenden, einige verkauften sogar ihr Gold (eine finanzielle Absicherung für viele Frauen im Irak, besonders wenn sie noch kein eigenes Einkommen haben) um die Protestbewegung finanziell zu unterstützen. Ärztinnen, Krankenschwestern und Medizinstudentinnen pflegten die Verletzten auf den Plätzen. Andere kochten zusammen mit ihren männlichen Mitstreitern, betreuten die Zelte oder beteiligten sich an verschiedenen Kunstformen wie Musik und Graffiti. Frauen organisierten Lesungen und Ausstellungen, sie schrieben Artikel und wurden in den (sozialen) Medien aktiv, um mit der Welt in Verbindung zu stehen und das täglichen Geschehen aus den aufständischen Städten nach draußen zu tragen. Sie verteidigten ihr Recht, auf den Plätzen gleichberechtigt mit den Männern zu kämpfen. Als Moqtada al-Sadr am 8. Februar 2020 twitterte, dass Frauen auf den Protestplätzen von den Männern getrennt werden sollten, organisierten Frauen als Antwort einige Tage später den Marsch der "eine Million Frauen", um deutlich zu machen, dass sie sich nicht spalten lassen würden.

Die Sit-Ins der arbeitslosen Absolventinnen in Bagdad und anderen Städten im Irak waren einer der Auslöser für den Oktoberaufstand. Jetzt habt ihr mit Amandie Idee, ein Netzwerk für arbeitslose Frauen aufzubauen. Warum ist das so wichtig?

Auch die Frauen wollen eigenständig ihre Lebensgrundlage sichern. Um dieses Ziel zu erreichen, haben arbeitslose Universitätsabsolvent:innen begonnen, Sitzstreiks vor den Ministerien in Bagdad oder bei einigen Unternehmen in den übrigen südlichen Teilen des Irak zu organisieren. Nachdem das ohne Folgen blieb, weiteten sich die Proteste aus.

Ausgebildete Frauen, die ohne Arbeit sind, gibt es in allen Städten und Branchen. Jugendarbeitslosigkeit ist generell ein großes Problem im Irak, viele leiden unter der unglaublichen Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt. Für Frauen ist es besonders schwer, sich hier durchzusetzen. Arbeitslosigkeit ist bei Frauen oft nicht anerkannt, gesellschaftlich ist es zum Beispiel üblich als Frau nach der Hochzeit zu Hause zu  bleiben, trotz Berufsausbildung oder Studium. Deshalb versuchen wir, den Begriff der "Frauenarbeitslosigkeit" zu politisieren. Noch dazu werden Arbeitsplätze oft im Rahmen des klientelistischen Systems vergeben – Qualifizierung ist zweitranging. Das gilt besonders für staatliche Arbeitsplätze.

Es gibt bisher keine Plattform im Irak, auf der sich arbeitslose Frauen organisieren und kollektive Forderungen aus ihrer Situation entstehen lassen können. Jenseits der Sitzstreiks gab es keine klare Koordinierung zwischen ihnen, keine Leitung und auch keine Idee für kommende Aktionen. Diese Rolle können wir natürlich auch nicht übernehmen, aber wir können Orte und Möglichkeiten zur Vernetzung und weiteren Planung zu Verfügung stellen, zum Beispiel im Rahmen der „Feminist School“. Sollte daraus ein arbeitsfähiges Netzwerk oder sogar ein gewerkschaftlicher Zusammenhang entstehen, wäre dies großartig. Wir unterstützen, wo immer es möglich ist.

Wir haben jetzt viel über Feminismus und die Frauenrechtsbewegung im Irak gesprochen. Wie würdest du den aktuellen Zustand der Bewegung beschreiben?

Die feministische Bewegung im Irak ist, wie in allen anderen Teilen der Welt, sehr heterogen. Ich würde aber sagen, es gibt innerhalb der Frauenrechtsbewegung im Irak zwei Tendenzen: Es gibt zivilgesellschaftliche Organisationen und NGOs, die eng mit staatlichen Institutionen zusammenarbeiten und Verantwortung dort übernehmen, wo der Staat nicht mehr handelt. Sie sind betraut mit der Förderung von Demokratie und Menschenrechten, eben auch Frauenrechten, sie schließen staatliche Lücken, zum Beispiel mit der Bereitstellung von Dienstleistungen in Wohlfahrtseinrichtungen oder leisten humanitäre Hilfe und Entwicklungsarbeit. Viele von ihnen arbeiten mit internationalen Akteuren zusammen oder erhalten Unterstützung von der Regierung. Die Mitarbeiter:innen werden bezahlt, es gibt offizielle Büros mit Öffnungszeiten und Adressen. Die meisten von ihnen sind nach 2003 entstanden. Da sie offiziell beim Staat registriert sind, sind ihre Handlungsmöglichkeiten oft auf weniger radikale Methoden beschränkt. Außerdem sind sie einer gewissen Form von Überwachung ausgesetzt.

Wir haben uns für einen anderen Weg entschieden und arbeiten unabhängig. Unsere Arbeit begründet sich zunächst in einem politischen und gesellschaftlichen Verständnis von Feminismus und Frauenrechten. Wir glauben, dass die gesellschaftliche Position von Frauen im Irak, wie auch in anderen Teilen Westasiens und Nordafrikas, von unterschiedlichen Diskriminierungsverhältnissen beeinflusst wird. Wie zuvor schon beschrieben sind viele Frauen im Arbeitssektor schlechter gestellt, haben aufgrund ihrer Geschlechterzugehörigkeit schlechtere Positionen inne oder keine gleichberechtigten Chancen auf dem Arbeitsmarkt.

Außerdem wird die Haus- und Betreuungsarbeit von Frauen weder geschätzt noch berücksichtigt, obwohl diese reproduktive Arbeit einen enormen Beitrag für die Gesellschaft leistet. Der zweite Faktor, der die Frauen im Irak beeinflusst, ist der politische Islam als eine Ideologie, die den Staat beherrscht, in dem der patriarchale, männliche Chauvinismus und die Diskriminierung von Frauen die eigentliche Grundlage bilden. Es gibt viele Gesetze, die zum Beispiel Gewalt gegen Frauen, sexuelle Vergewaltigung von minderjährigen Mädchen ("Minderjährigenehe") und Eingriffe in die Persönlichkeitsrechte erlauben oder zumindest nicht verhindern. Hinzu kommen viele ungeschriebene Gesetze, die tagtäglich praktiziert werden und die Rechte und Würde von Frauen verletzen. 

Für uns sind der Kapitalismus und der politische Islam die strukturellen Verhältnisse, die wir überwinden müssen. Frauen im Irak leiden nicht unter mangelnder Bildung, fehlenden akademischen Abschlüssen oder Fähigkeiten, die sie daran hindern, eine Arbeit zu finden. Frauen haben ein Problem mit der klassen- und männerdominierten Struktur, die für sie nicht funktioniert. Deshalb haben wir eine kritische Haltung gegenüber den Organisationen, die ihre Bemühungen auf die Organisation von Workshops zur Verbesserung der "Beschäftigungsfähigkeit von Frauen" konzentrieren. Frauen haben Doktortitel und Master-Abschlüsse in verschiedenen akademischen Bereichen, finden keine Arbeit und haben kein Arbeitslosengeld. Was sollten Frauen noch tun, um ihren Lebensunterhalt zu sichern? Die Arbeitslosigkeit von Frauen kann weder auf mangelnde Fähigkeiten oder Qualifikationen noch auf ihre sozialen Bedingungen zurückgeführt werden.

Das Interview führte Anita Starosta.


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