Im Herbst 2019 schien es, als gehe eine neue Welle des Protests durch die arabische Welt. In Ägypten brachen im September Proteste gegen Machthaber al-Sisi aus, im Libanon kam es zu den größten Aufständen in der Geschichte des Landes und fast zeitgleich fanden sich im Irak immer mehr Menschen zusammen, die soziale Forderungen erhoben. Nachdem sich die Proteste anfangs vor allem gegen Korruption, anhaltende Stromausfälle und die hohe Arbeitslosigkeit richteten, wurde im Irak bald darauf nicht weniger als der Sturz des gesamten auf die Konfession ausgerichteten politischen Systems verlangt, gegen die Teilung in Sunniten, Schiiten, Christen, Kurden und Araber. Auch wenn die Proteste zu ihrem Höhepunkt in vielen der größeren Städte stattfanden, ist der Tahrir-Platz in Bagdad zum symbolträchtigsten Ort der Protestbewegung geworden. Doch auch hier schränkt die Corona-Pandemie die Menschen zunehmend ein.
Der Tahrir-Platz ist neben seinem symbolischen Gehalt auch von hoher strategischer Bedeutung, weil von dort aus alle wichtigen Verkehrsadern der Hauptstadt, insbesondere auch die Brücken in die sogenannte „grüne Zone“, in der die internationalen Akteure residieren, blockiert werden können. Trotz immer wieder stattfindender Angriffe der Sicherheitskräfte und verschiedener Milizen, die viele Hundert Todesopfer forderten, hat sich die Protestbewegung bisher nicht aufgelöst und auch die militärische Eskalation zwischen dem Iran und den USA nach der Tötung des iranischen Generals Soleimani überdauert.
Die irakische Bevölkerung blickt auf einen jahrzehntelangen Zyklus der Gewalt zurück. Unter der Herrschaft der Baath-Partei waren Massenhinrichtungen, willkürliche Verhaftungen und massive Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung. Durch Saddam Husseins Arabisierungspolitik wurden die Minderheiten im Land brutal vertrieben, unterdrückt und umgesiedelt. Mit seinem Angriffskrieg gegen den Iran in den 1980er Jahren stürzte Hussein das Land dann in eine Zeit nicht enden wollender militärischer Katastrophen. Nach dem Golfkrieg von 1991 hat die irakische Zivilbevölkerung einen hohen Preis für die Invasion und Besetzung ihres Landes durch die USA im Jahr 2003 bezahlt, von der Zerstörung des irakischen Staates – der bereits durch ein Jahrzehnt UNO-Sanktionen geschwächt war – bis hin zur Auferlegung eines kommunalen politischen Systems, das das Land in einen sektiererischen Krieg stürzte, der mit zum Aufstieg des IS führte.
Umkehrung der Gewaltdynamik
Die Körper und Psyche viele Menschen im Irak, und auch die kollektiven Erinnerungen, sind von diesen traumatischen Erfahrungen geprägt. Die Gesellschaft wird lange brauchen, um sich von dieser gewaltsamen Geschichte erholen zu können. Umso bedeutsamer ist der Aufstand vom Oktober letzten Jahres, denn er ist nicht weniger als ein historischer Versuch der Iraker*innen, diese verheerende politische Dynamik umzukehren: Statt Gewalt und Gegengewalt fordern die zumeist jungen Leuten unter dem Slogan „Wir wollen ein Heimatland“ die Einheit und Souveränität des Landes. Sie wollen einen funktionierenden Staat, der öffentliche Dienstleistungen und gleiche Rechte für alle Bürger*innen gewährleistet und sie fordern ein Ende von Korruption, Sektierertum und Vetternwirtschaft. Wenn sie auf dem Tahrir-Platz Graffiti mit der Keilschrift der alten sumerischen Zivilisation malen, schreiben sie aktiv ihre eigene Geschichte um und prangern das Sektierertum an, das den Irak zum Wohle der Herrschenden gespalten hat.
Nach einer aufgrund von Covid-19 im März verhängten Ausgangssperre haben die Aktivist*innen sich dazu entschlossen die Platzbesetzungen zu verkleinern, aber weiter aufrecht zu erhalten. Zur Prävention der Ausbreitung des Virus wurde die Anzahl der Personen in allen Zelten auf ca. 3-4 Personen reduziert. Derzeit gibt es noch etwa 150 Zelte auf dem Platz.
Um ihren konfessionsübergreifenden Charakter zu wahren und etwaigen Instrumentalisierungsversuchen vorzubeugen lehnt die Protestbewegung Zuwendungen von religiösen Gruppierungen und politischen Parteien ab. Vor dem Hintergrund einer anfangs breiten Unterstützung aus der eigenen Bevölkerung ist es daher nur nachvollziehbar, dass auch Hilfe aus dem Ausland grundsätzlich skeptisch betrachtet wird - die Unabhängigkeit hat oberste Priorität. Doch wegen der verheerenden Auswirkungen der Corona-Pandemie im Irak haben die Aktivist*innen in Bagdad sich dazu entschlossen medico um direkte Unterstützung bei der Beschaffung von Präventionsmitteln zu bitten.
medico-Hilfe zur Aufrechterhaltung der Proteste
Zwei Drittel der irakischen Arbeiter*innen sind im informellen Sektor beschäftigt, der fast die gesamte Privatwirtschaft umfasst. Sie haben keine sicheren Löhne oder sozialen Sicherheitsnetze, die im Falle von Lohnausfällen das Überleben sicherstellen. Durch die Ausgangssperre können viele ihrer Arbeit nicht mehr nachgehen, in der ohnehin schlechten ökonomische Situation im Land führt dies zu größeren Problemen, mit denen auch die Protestbewegung nun zu kämpfen hat. Zudem kam es zu einem heftigen Preisanstieg von essenziellen medizinischen Artikeln, die für die Versorgung der Protestierenden notwendig sind.
medico unterstützt daher nun ein unabhängiges und unparteiliches Koordinationsteam, das auf dem Tahrir-Platz Sachspenden verteilt. Die hauptsächlich aus Bagdad kommenden Aktivist*innen konzentrieren sich auf die Zubereitung von Nahrungsmitteln, das Aufbewahren und Verteilen medizinischer Güter, die Sortierung und Ausgabe von Kleiderspenden und ähnlichen Dingen wie Decken. Durch die Besorgung von Handschuhen, Masken und Desinfektionsmittel soll die Ausbreitung von Covid-19 verlangsamt werden. Zudem werden von Aktivist*innen Lebensmittel für Platzbesetzer*innen angeschafft und die allgemeine Hygiene dadurch verbessert, dass die Matratzen und Decken in den Protestzelten ausgewechselt werden. Dabei funktioniert der Tahrir-Platz in Bagdad wie eine Miniaturgesellschaft. Durch ihr kollektives und inklusives Handeln haben die Demonstrant*innen eine seltene Einheit geschaffen. Indem sie mit der Gewalt brechen und im gelebten Miteinander kreative Strategien fördern, schaffen die Protestierenden etwas, das über einen rein politischen Aufstand hinausgeht, der sich vor allem an Fragen der Repräsentation ausrichtet.
Die Fortführung der Platzbesetzungen ist für die Aktivist*innen derzeit besonders wichtig, weil nur ihre Präsenz verhindern kann, dass Anhänger des einflussreichen radikalen Schiiten as-Sadr den Platz übernehmen. Außerdem geht es den Menschen darum, eine Protestplattform zu erhalten, die auf die Politik der Regierung kollektiv reagieren kann. Nur so kann sichergestellt werden, dass die Aktivist*innen auch nach Corona weiter für ihre Forderungen kämpfen können und diese beispiellose Bewegung, die Arme und Arbeitende, Teile der gebildeten Mittelschicht, Universitätsstudent*innen, Arbeitergewerkschaften und junge Aktivist*innen der Zivilgesellschaft vereint, Bestand hat.
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