Die Menschen in Ägypten überraschen die Welt erneut. Viele Monate nachdem sie den autoritären Herrscher Mubarak aus dem Amt gejagt haben, gehen sie erneut auf die Straße, um ihre Revolution zu verteidigen.
Gerade angesichts der ungeheuren Gewalt im Zentrum Kairos ist das Durchhaltevermögen der Demonstranten erstaunlich. Die Gewalt erzeugt jedoch auch Angst vor einem instabilen Ägypten, in dem reaktionäre Kräfte die Oberhand gewinnen. Die Antwort darauf darf aber nicht weniger Demokratie lauten. Zwar kann niemand voraussehen, ob sich emanzipatorische oder religiös verbrämte, reaktionäre Konzepte durchsetzen. Doch, wo immer die Revolution auch hingeht, die Rückeroberung des öffentlichen Raums ist ein demokratisches Moment der Partizipation und die Vorbedingung für echte Veränderung mit verbrieften individuellen wie sozialen Rechten.
„Es ist enorm, was hier geschieht“, sagt Dr. Alla Shukrallah von der medico-Partnerorganisation Association for Health and Enviromental Development (AHED): „Es ist die zweite Welle der Revolution. Die Menschen, allen voran die Jugend, lassen sich nicht abspeisen mit der Absetzung einiger Köpfe. Sie ziehen sich auch nicht enttäuscht ins Private zurück wie früher, sondern erobern den öffentlichen Raum mit klaren politischen Forderungen. Hunderttausende demonstrieren im ganzen Land dafür, dass ein ziviles, demokratisch gewähltes Parlament über die Geschicke des Landes uneingeschränkt bestimmt. Das Militär versucht, einem künftigen Parlament vorzuschreiben, dass es nicht einer parlamentarischen Kontrolle unterliegt. Eine solche autoritäre Struktur akzeptieren die Menschen nicht mehr.“
„Es sind nicht nur die Versuche des Obersten Militärrats, sich über ein zu wählendes Parlament zu stellen“, sagt Abdo Abu El Ella von der Al Shehab Foundation, mit der medico im Kairoer Slum Ezzbet Al Haggana für das Recht auf angemessenes Wohnen kämpft. „Es gibt auch andere Zeichen, dass das Volk zermürbt werden sollte, um einen radikalen Schnitt mit der autoritären Vergangenheit zu umgehen.“ Als er letzte Woche auf dem Tahrir-Platz war, demonstrierten wenige Hundert Menschen, deren Familienangehörige während des Aufstands gegen Mubarak ums Leben gekommen sind oder die selbst verletzt wurden. „Sie protestierten gegen die Verschleppung der Prozesse gegen die Täter und für finanzielle Kompensationen. Sie wurden mit brutal zusammengeschlagen, die Sicherheitskräfte nutzten ein ungeheuer starkes Tränengas sowie Gummigeschosse. Das erzürnte Millionen, die in immer größeren Mengen auf die Straße gingen. Es ist ein klarer Machtkampf zwischen den Menschen und der Armee. Die Armee hat versagt. Wir kennen ihre genauen Motive nicht, und begnügen uns nicht mit dem Glauben, alles wird gut. Jetzt fordern die Demonstranten die sofortige Übergabe der Macht an zivile Kräfte, die das Land auf eine demokratische Zukunft vorbereiten sollten. Wir lassen uns unsere Revolution nicht stehlen.“
Projektstichwort:
medico international unterstützte AHED in 2011 bereits mit 10.000 Euro für die medizinische, psychosoziale und juristische Betreuung von verletzten Demonstranten und ihren Angehörigen. Das Spenden-Stichwort lautet: Ägypten.