Gerechtigkeit für Syrien

Ein Schritt nach vorn

01.06.2021   Lesezeit: 6 min

Interview mit Noor Hamadeh vom Podcast Branch 251, der den Koblenzer Prozess gegen syrische Geheimdienstler begleitet.

medico: Liebe Noor, schön dass du die Zeit gefunden hast mit uns über das Podcast-Projekt „Branch 251“ zu sprechen. Wie bist du zu dem Team dazu gestoßen, das den Prozess in Koblenz gegen zwei Mitarbeiter des syrischen Geheimdienstes begleitet?

Noor Hamadeh: Zunächst höre ich sehr gerne Podcast und finde es ein interessantes Medium, über das man viele Leute – auch mit schwierigeren Themen – erreichen kann. Podcasts geben die Gelegenheit, komplexe Hintergründe zu erklären. Aber überwogen hat natürlich meine Perspektive als internationale Menschenrechtsanwältin – ich habe mich auf Syrien spezialisiert und beschäftige mich mit Fragen rund Gerechtigkeit und Aufarbeitung von Menschenrechts- und Kriegsverbrechen im syrischen Kontext.

An der Podcast-Idee hat mir besonders gefallen, dass das Wissen zu diesen Themen nicht nur in juristischen Expertenkreisen geteilt wird, sondern es der breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird. Besonders weil wir auch arabische Podcast-Folgen produzieren, erreichen wir viele Betroffene und interessierte Leute. Ansonsten gibt es kaum arabischsprachige Berichterstattung über den Koblenz-Prozess, dabei sind das sind doch die Hörer:innen, die es am meisten interessieren sollte.

Ihr verfolgt den Prozess in Koblenz von Beginn an, wie macht ihr das und was ist das Ziel?

Eine Person nimmt wöchentlich am Prozess teil und verfolgt Abläufe, Aussagen usw. Als das Urteil gegen Eyad A. – einen ehemaligen Funktionäre des Allgemeinen Geheimdienstdirektorats Syriens – gesprochen wurde, waren mehrere Personen von uns anwesend und haben die Urteilsverkündung verfolgt. Für die arabische Version machen wir jede Woche ein Update zu den Neuigkeiten und zentralen Fortschritte des Prozesses. Die arabischen Zuhörerinnen bekommen von uns also wirklich sehr detaillierte Updates zum Verlauf des Prozesses.

Wer ist denn das arabischsprachige Publikum? Hören auch Menschen in Syrien den Podcast?

Wir haben versucht, das herauszufinden und Umfragen gemacht. Es sind nicht sehr viele Leute in Syrien, die den Podcast hören – denn es ist viel zu gefährlich, ihn auf dem Handy oder dem Computer zu haben, da wir ja eine eindeutig kritische Berichterstattung über das Assad-Regime machen.

Außerdem hat der Prozess keine unmittelbaren Folgen für die Menschen in Syrien, die weiterhin Angehörige vermissen oder selber in permanenter Angst vor den Geheimdiensten leben. In Syrien geht es momentan darum, zu überleben und genug Geld zu beschaffen, um irgendwie weiter zu machen und sicher zu leben.

Die größere Hörerschaft findet sich in der syrischen Diaspora: im Libanon, Türkei, Jordanien oder Ägypten. Hier ist der Prozess ein größeres Thema. Viele haben davon gehört, aber sich nicht eingehender mit dem Verfahren beschäftigt. Andere verfolgen den Prozess sehr eng, für sie ist es ein wichtiger Schritt. Aber Gerechtigkeit bedeutet für jeden etwas anderes. Für einige ist der aktuelle Prozess in Koblenz eng damit verbunden, andere fühlen diese Gerechtigkeit nicht, auch der Prozess stellt für sie diese Verbindung nicht her. Denn für sie persönlich macht es keinen Unterschied, was in Koblenz verhandelt wird. Sie spüren keine persönlichen Auswirkungen nach einer Verurteilung, dabei ist dies oft zentral, wenn es um eine persönliche Bearbeitung von Gräueltaten und Verbrechen geht, die selber erlebt wurden. Und dennoch ist für sie der Podcast ein sehr wichtiges Medium, um die Prozessereignisse in verständlicher und zugänglicher Sprache zu verfolgen.

Das ist verständlich, dennoch bleibt die Frage, welche Fortschritte der Koblenzer Prozess für Gerechtigkeit, Aufarbeitung und Verantwortungsübernahme im syrischen Kontext bringen kann?

Prozesse im syrischen Kontext, die wie der Koblenzer Prozess nach dem Weltrechtsprinzip geführt werden können, sind definitiv wichtig und tragen dazu bei, Gerechtigkeit und Rechenschaftspflicht für in Syrien begangene Verbrechen zu schaffen. Aber sie sind sicher nicht das erste Mittel, wenn wir uns in dem Kontext bewegen. Ich bin mir sicher, viele Syrer:innen würden da zustimmen und sagen, es ist nicht das, worauf sie gehofft haben. Aber in der aktuellen Situation ist es natürlich so etwas wie der einzig gangbare Weg. Für viele Syrer:innen wäre es wichtig, dass solche Prozesse auf syrischen Boden stattfinden – irgendwann einmal. Wir geben die Hoffnung nicht auf.

Ich habe aber auch mit Syrer:innen gesprochen, für die der Prozess in Koblenz sehr bedeutend ist, nicht weil Täter dort zur Verantwortung gezogen werden, sondern weil in einem öffentlichen und rechtlichen Rahmen die Verbrechen des syrischen Regimes thematisiert werden. Gerechtigkeit und Rechenschaftspflicht sind also sehr umfassend. Und alles was zurzeit stattfindet – auch das Koblenzer Gerichtsverfahren – muss Teil einer breiten und ganzheitlichen Strategie werden. Und da sollten wir uns fragen, was wollen die Opfer von Menschenrechts- und Kriegsverbrechen im syrischen Kontext? Was bedeutet für sie Gerechtigkeit? Wie kann für sie Wiedergutmachung überhaupt aussehen? Für einige kann dies die juristische Aufarbeitung sein, für andere geht es eher um Reparationszahlungen und für andere wiederum um Wahrheitsfindung.

Was sind denn andere Optionen?

Viele Menschen zählen auch auf die Prozesse, die außerhalb eines Gerichtssaals stattfinden, wie zum Beispiel beim UN-Menschenrechtsrat und in UN-Sonderverfahren. All das sind Methoden, mit denen Rechenschaft eingefordert werden kann. Solche Prozesse sind oft symbolisch und es werden keine rechtskräftigen Urteile gesprochen. Und trotzdem setzen all diese Bemühungen der Straflosigkeit, die in Syrien herrscht, etwas entgegen. Sie schaden dem Image, dass das syrische Regime zu schaffen versucht. Auf der anderen Seite sehen viele Menschen Gerechtigkeit als eine Art Versuch, ihnen so viel wie möglich von dem zurückzugeben, was sie durch die Verbrechen, die gegen sie verübt wurden, verloren haben. Ein Beispiel wären Reparationen, oder Aufklärung von Verbrechen. Meiner Meinung nach ist es wichtig, dass all dies gleichzeitig passieren kann.

Der Koblenz-Fall hat auf jeden Fall einen Stein ins Rollen gebracht und eröffnet hoffentlich die Möglichkeit weitere Fälle zu verfolgen, auch in anderen europäischen Ländern, die nun ebenfalls Möglichkeiten zur Strafverfolgung prüfen können.

Gibt es Errungenschaften, die aus der syrischen Revolution resultieren, auf denen die Prozesse für Gerechtigkeit und Rechenschaftspflicht fußen können?

Ich glaube, für die Syrer:innen innerhalb Syriens ist es so, dass sie überhaupt nicht an Rechenschaftspflicht denken. Sie konzentrieren sich aufs Überleben. Es scheint nicht so, als ob sie in absehbarer Zeit Gerechtigkeit erfahren könnten. Aber im Moment gibt es eine Gruppe von Syrer:innen, Überlebenden-Organisationen und Familienverbänden, die sich zusammengetan haben und eine Gerechtigkeitscharta entwickelt haben. Es ist eine Charta, die umreißt, was Gerechtigkeit für sie bedeutet. Es gab noch keine Fortschritte bei der Umsetzung, weil sie erst vor ein paar Monaten veröffentlicht wurde, aber für mich ist es ein sehr bedeutendes Dokument, weil es dem Rest der Welt mitteilt, was Gerechtigkeit für Syrer:innen bedeutet, die Überlebende von Verbrechen auf syrischem Boden sind. Ich hoffe also, dass dieses Dokument der Ausgangspunkt für eine Menge von Gerechtigkeitsprozessen sein wird.

Das Interview führte Anita Starosta.

Noor Hamadeh

Die syrisch-amerikanische Menschenrechtsanwältin Noor Hamadeh lebt in Chicago und ist seit November 2020 Teil des Podcast-Teams von Branch 251.


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