Eingeschlossen

Über das Leben derer, die sich eine Flucht nicht leisten können.

25.11.2013   Lesezeit: 7 min

Seit Monaten sind zehn Wohnviertel im Süden der syrischen Hauptstadt einer kompletten Belagerung durch das Regime ausgesetzt, das diese Taktik ganz offen „Hunger oder Kapitulation“ nennt. Die Menschen in den betroffenen Vierteln, darunter das palästinensische Camp Yarmouk, leben unter Dauerbeschuss und ohne Strom in ständiger Gefahr. Nahrung und Medikamente sind fast aufgebraucht. Trotz der humanitären Katastrophe und obwohl den Menschen dort fast nichts, nicht einmal Anlass für Hoffnung geblieben ist, hält sich in dem Viertel ein Mikrokosmos an zivilen Initiativen, die solidarisch versuchen, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu bewahren und einander zu helfen. Das zeigt auch das via Skype geführte Interview mit Abdallah al-Khatib (26), der in Yarmouk Gemeindearbeit leistet.

Wie hat sich die Belagerung eures Stadtviertels in den vergangenen Monaten entwickelt?

Die erste Phase hat sieben Monate angehalten und war eine „Teilbelagerung“. Es gab Kontrollposten an den Aus- und Eingängen von Yarmouk, um die Einfuhren zu überwachen. Alles wurde extrem limitiert. Jede Familie durfte nur eine Tüte Brot, ein Kilo Tomaten oder ein Kilo Reis hineinbringen, Medikamente und Verbandstoffe waren grundsätzlich untersagt. Seit vier Monaten leben wir in der zweiten Phase, einer kompletten Belagerung. Nun ist es gänzlich verboten, Nahrungsmittel einzuführen. Niemand darf mehr in unseren Stadtteil kommen oder ihn verlassen. Wenn jemand hier zum Beispiel operiert werden muss, gibt es keine Möglichkeit ihm zu helfen. Man kann nur hoffen, dass er in Ruhe sterben kann. Früher hatte das Camp Yarmouk rund 150.000 Bewohner. Im Sommer 2012 kamen zusätzlich aus umkämpften syrischen Nachbarvierteln flüchtige Menschen. Sind diese Menschen noch da? Heute leben hier nur noch 20.000 Personen, darunter 4.000 Kinder. Alle, die jetzt noch da sind, stammen aus Yarmouk. Es sind all jene, die keine andere Wahl haben, außer hier zu bleiben. Ein Teil von ihnen sind Nachkommen jener Palästinenser, die 1948 das damalige Palästina verlassen mussten. Unter ihnen herrscht große Angst, dass sie ihre Häuser verlassen müssen und nicht zurückkehren können. Einige sind auf die eine oder andere Weise in die Revolution verstrickt: Zivilisten, aber auch Mitglieder von bewaffneten Rebellengruppen. Außerhalb des Camps würden sie sofort festgenommen werden. Dann gibt es noch eine Gruppe von Menschen, die einfach zu arm ist, um gehen zu können.

Wie wirkt sich die dauerhafte Belagerung aus?

Faktisch ist der gesamte Süden von Damaskus belagert. Wir können also nicht erwarten, dass jemand aus benachbarten Wohnvierteln kommt und uns Infusionen oder etwas Reis bringt. Wir müssen diese Situation alleine bewältigen. Der Alltag im Lager hat sich sehr verändert. Es herrscht kaum noch Verkehr, Läden und Märkte sind geschlossen. Wir werden täglich zwischen 60 und 100 Mal mit Raketen und Mörsern beschossen. Zugleich kommt es regelmäßig zu Schießereien und Häuserkämpfen. Wir konnten auch einzelne Fälle von Einsatz leichter chemischer Kampfstoffe feststellen. Niemand weiß, wann etwas wo passieren wird. Die Medienaktivisten gehen weiterhin täglich vor die Tür, um über die Lage zu berichten, ebenso die medizinischen Notfallhelfer. Für alle anderen bleibt die einzige Bewegung des Tages, die Kinder zur Schule zu bringen. Wir haben sechs alternative Schulen eingerichtet, in denen Unterricht von der ersten Klasse bis zum Abitur angeboten wird. Jede zivilgesellschaftliche Initiative verantwortet den Betrieb einer dieser Notschulen. Die Lehrer sind Freiwillige aus Yarmouk. Es gibt kein Gehalt, aber wir versuchen, sie – so gut es geht – mit Sachleistungen zu entschädigen.

Woran mangelt es am meisten?

Auf medizinischer Ebene gibt es eine Zunahme von Blutarmut sowie eine zunehmende Unterernährung bei Kindern. Es gibt im ganzen Lager keine Nahrungsergänzungsmittel mehr für Kleinkinder, auch keinen einzigen Tropfen Milch, was die Lage für Neugeborene dramatisch macht. Hinzu kommt, dass die psychische Anspannung und die alltägliche Angst dazu führen, dass viele Mütter nicht mehr stillen können. Außer einem Allgemeinmediziner sind keine Ärzte mehr hier. Viele Menschen mit Herzrhythmusstörungen mussten sterben, weil keine Notfallmedizin zur Verfügung stand.

Wie ist die Stimmung unter der Bevölkerung angesichts des Mangels?

Die Zerstörung, der Tod und das tägliche Blut haben die Menschen hier einander nähergebracht. Aber es gibt natürlich auch jene, die versuchen, von der schrecklichen Lage zu profitieren. Trotzdem gibt es vor allem unter den ärmeren Menschen eine gelebte Solidarität. In vielen Häusern, in denen mehrere Familien wohnen, wird das Essen geteilt. Das Beisammensein hilft, Ängste und Sorgen zu teilen.

Was bedeutet humanitäre Hilfe in einer solchen Situation?

Wir versuchen, die Grundbedürfnisse zu erfüllen: medizinische Hilfe, Schulunterricht, aber auch psychologische Hilfe. Selbst bei Eheschließungen sind wir behilflich und noch immer richten wir Sportveranstaltungen aus. Aber wir haben einfach zu wenig. Unsere Arbeit basiert daher mittlerweile eher auf der Organisation einer umfassenden Solidarität. Wenn Leute zu uns kommen und sagen, dass sie überhaupt kein Essen mehr haben, suchen wir andere Familien, die vielleicht noch ein wenig mehr Linsen besitzen. Die psychologische Arbeit, die wir den Kindern bieten, oder die Feiern zum Opferfest begreife ich auch als eine Form der humanitären Hilfe. Auch wenn es hier nur wenig fruchtbare Erde gibt, entstehen kleine Gärten zwischen den Häuserblöcken, in denen immerhin Petersilie wächst. Vor zwei Tagen wurde uns auf einer Versammlung aller zivilen Hilfsorganisationen aber klar, dass wir die Hilfe nicht mehr wie bisher anbieten können. Es gibt keine Arzneimittel mehr, die Lebensmitteldepots sind leer und auch die Arbeit in den Schulen ist extrem schwierig geworden. Der anhaltende Beschuss gefährdet immer mehr Kinder, die wir nicht mal verarzten, geschweige denn impfen können.

Welche Gruppen sind in Yarmouk noch aktiv?

Im Bereich der Nothilfe, der ärztlichen Versorgung, im Bildungssektor und der Medienarbeit gibt es noch immer viele Organisationen. Dazu kommen unzählige kleinere Gruppen, die Nachbarschaftshilfe leisten. Das UN-Hilfswerk für Palästina- Flüchtlinge (UNRWA) und auch die PLO haben die Leute in Yarmouk im Stich gelassen. Umso mehr füllen zivile Organisationen und Initiativen dieses Vakuum, sie haben quasi Aufgaben des Staates und der Gemeindeverwaltung übernommen. Das Vertrauen in uns geht so weit, dass die Leute, wenn sie eine Beschwerde haben, vor den Räumen unserer Organisationen demonstrieren. Wir sind auch an Aushandlungsprozessen um temporäre und lokale Waffenstillstände im Camp beteiligt. Die Konfession, das Geschlecht oder ähnliches spielen bei all dem überhaupt keine Rolle, denn die Auswirkungen der Blockade verlangen einfach die Kraft aller zivilgesellschaftlichen Gruppen.

Hätte eine syrische Friedenskonferenz „Genf 2“ einen Einfluss auf euer Schicksal?

Unsere Lage ist voll Leid und die Menschen werden nicht mehr lange durchhalten. Unsere Situation kann nicht auf den Ausgang irgendeiner Friedenskonferenz warten. Wenn überhaupt Entscheidungen getroffen werden sollten, vergehen Monate bis zur Umsetzung. Wir brauchen aber jetzt eine schnelle Rettung. Ich halte es auch für unwahrscheinlich, dass die Situation in Yarmouk überhaupt eine Rolle bei einer internationalen Friedenskonferenz spielt.

Wie kann Hilfe aus Europa aussehen?

Richtiger Beistand durch Aktivisten in Europa und durch Hilfsorganisationen heißt, Druck auf die eigenen Regierungen auszuüben. Wir wollen keine militärische Intervention, aber wir wollen, dass die UN ihre humanitäre Aufgabe tatsächlich erfüllt. Sie hat die Pflicht, den Schutzbedürftigen zu helfen. Das Beste wäre, wenn die ausländischen Hilfsorganisationen gezielt syrische Gruppen unterstützen würden. Sie sollten in die Türkei oder den Libanon kommen, um dort mit syrischen Aktivisten und Initiativen zu sprechen. Nur wer in Syrien lebt, kann ein Bild von der realen Lage geben und vermitteln, wie eine weitere Unterstützung tatsächlich effektiv werden kann.

Interview und Übersetzung: Ansar Jasim (Artikel aus dem Rundschreiben 4/2013)

Der medico-Partner im Yarmouk Camp ist die Jafra Foundation, eine im Jahr 2000 gegründete Organisation der palästinensischen Zivilgesellschaft, die sich der alten säkularen palästinensischen Linken zurechnet. Das eigentliche Ziel von Jafra ist die gemeindebasierte Bildungsarbeit mit Jugendlichen. Seitdem der Aufstand gegen das Assad-Regime auch die palästinensische Gemeinschaft erreicht hat, sind die Jafra-Aktivisten in der akuten Nothilfe und Unterstützung für palästinensisch-syrische Binnenflüchtlinge engagiert. Zugleich hat sich Jafra bis zuletzt für den Abzug aller bewaffneten Milizen aus dem schutzlosen Camp eingesetzt. Weil die Wege nach Yarmouk verschlossen sind, hat der medico-Partner jetzt begonnen die ebenfalls bedrängten palästinensischen Gemeinden in den südlichen Damaszener Vorstädten Qudseya und Jaramana sowie in Homs mit Lebensmitteln zu versorgen.

 


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