Syrien

Fassbomben in der Provinz

12.01.2016   Lesezeit: 6 min

Die Zerstörung eines Krankenhauses in der Region Daraa, die Demoralisierung und das Engagement ziviler AktivistInnen in Syrien.

Von Martin Glasenapp

Die medico-Projektpartner von vor Ort informierten uns über die Weihnachtstage mehrmals per Email und in Anrufen: Zwischen dem 15. November und dem 28. Dezember des vergangenen Jahres sei das lokale Krankenhaus dreimal bombardiert worden. Die Kleinstadt Nawa in der Region Daraa, wo das medico-Projekt liegt, wird eigentlich täglich angegriffen. Mörserattacken und Fassbomben, Scharmützel entlang der Frontlinien. Alltag in einer syrischen Provinzstadt, die nicht in den Händen des Regimes, aber auch nicht unter der Kontrolle des „Islamischen Staates“ ist.

Ein lokales medizinisches Komitee hat hier mit Unterstützung von medico und unter Mithilfe unserer KollegInnen von Adopt a Revolution ein Krankenhaus mit Solarzellen und einer Blutbank ausgestattet. Die Krankenstation ist – das war uns und dem Komitee wichtig – in ziviler Verwaltung. Die Solarzellen sollten eine Unabhängigkeit von teuren Generatoren und der Mangelware Diesel gewährleisten. Die Blutbank diente dazu, all jene zu versorgen, die bei den Angriffen auf die Stadt verletzt werden.

Nach dem ersten Luftangriff auf das Krankenhaus im November 2015 gab es in der Stadt zwei Aufrufe zum Blutspenden. Den ersten glücklicherweise vor dem Angriff, so dass tatsächlich gespendetes Blut für die Verletzten genutzt werden konnte. Ein weiterer Aufruf erfolgte danach. Das Gesundheitskomitee überlegte, die Blutbank in ein öffentliches Gebäude zu verlegen und quasi „geheim“ zu betreiben. Daraus wurde nichts. Denn kurze Zeit später wurde auch dieses Gebäude bombardiert.

Natürlich ist der Schaden am Krankenhaus reparabel, vielleicht zieht das Komitee auch in ein anderes Gebäude um, ein Problem aber bleibt: Es war unendlich mühsam und kostspielig, die Solarzellen in die Stadt zu bekommen. Die aber sind jetzt fast alle kaputt und niemand weiß wirklich, wie es weiter gehen soll. Eine erste Idee ist jetzt, eine dezentrale „geheime Blutbank“ aufzubauen.

Der Luftangriff war kein Missverständnis

Der Angriff auf das Krankenhaus in Nawa war kein Missverständnis, das betonen unsere Partner vor Ort. Auch im benachbarten Jassem wurde ein altes Krankenhaus von der russischen Luftwaffe mehrmals angegriffen. Weil das aber leer steht und woanders tatsächlich immer wieder bewohntes Gebiet getroffen wird, sind diese Bombardierungen noch nicht mal mehr einen Tweet wert. Hintergrund dieser nur scheinbar sinnlosen Angriffe ist die aktuelle Offensive der syrischen Armee und der sie unterstützenden russische Luftwaffe auf die strategisch bedeutendere Stadt Al Sheikh Maskin, die etwa 15 Kilometer von Nawa entfernt liegt.
 

Um die Attacke auf die von der FSA gehaltene Ortschaft abzupuffern, wird üblicherweise die gesamte Umgebung inklusive der bestehenden Krankenhäuser bombardiert. So gibt es keinen Deckungsraum und Verletzte können auch nicht in der näheren Umgebung notversorgt werden. Eine Kriegsstrategie, um den Gegner zu demoralisieren und umgebende Ortschaften in die Mitverantwortung zu ziehen.

Dabei haben die Luftangriffe der letzten Wochen und Monate die Situation in der Region Daraa wenig verändert. Wie sich eigentlich seit dem Sommer 2015 kaum etwas geändert hat. Die Provinz bleibt ein Archipel unterschiedlicher Sicherheitszonen. Die syrische Armee und mit ihr verbundene Heimatschutzbrigaden kontrollieren weiterhin in der Stadt Daraa einige Gebiete entlang der Autobahn in Richtung jordanischer Grenze, ohne aber den Grenzposten rückerobert zu haben.

Hinzu kommen einzelne Kleinstädte und Dörfer Richtung Damaskus. Auch die russischen Luftangriffe haben daran substanziell bis heute nichts geändert. Einmal wurde die Stadt Jasim am 12. November 2015 direkt bombardiert – mutmaßlich von russischen Kampfjets. Ob sich das wiederholt oder eine Ausnahme bleibt, da Jassem doch relativ nah an der israelischen und jordanischen Grenze liegt, ist ungewiss. In jedem Fall ist der IS in dieser Gegend nicht aktiv.

Zivile Selbstverwaltung im oppositionellen Teil der Provinz Daraa

Im oppositionellen Teil der Provinz gibt es weiter unzählige bewaffnete Gruppen, die politisch zumeist der Freien Syrischen Armee zuzuordnen sind. Die aktiven lokalen Räte bemühen sich mit zivilen AktivistInnen in den Städten und Dörfern, die ehemals staatliche Verwaltung zu ersetzen und sind in den Bereichen Dienstleistungen, Schulen und Gesundheitsversorgung tätig. Alles bleibt eine permanente Mangelwirtschaft, aber immerhin. Dazu gehört auch die von medico in zwei Ortschaften geförderte Stadtreinigung auf freiwilliger Basis.

Westlich in Richtung der Golan-Höhen sind einige Dörfer dagegen stark umkämpft, da dort der syrische Al-Qaida-Ableger, die Nusra-Front, und andere radikal-islamistische Einheiten, denen Verbindungen zum IS nachgesagt werden, um die Vorherrschaft konkurrieren. Hier zeigt sich ein fortschreitender Warlordism, der im reinen Kampf um militärische Kontrolle besteht, der Bevölkerung – so sie noch da ist – aber nichts anzubieten weiß.

Sichere Orte: „nur“ vier bis fünf Fassbomben im Monat

Der Personenverkehr zwischen den loyalen und oppositionellen Zonen der Provinz ist nur durch gegenseitig bestätigte Checkpoints möglich. Sozusagen die inneren Grenzen der zwei Syrien in einem Land. Den Güterverkehr besorgen „zertifizierte“ Händler, die hauptsächlich aus der (drusischen) Provinz Swaida bestimmte Waren des täglichen Bedarfs einführen können. Das gleiche gilt für den formellen Grenzverkehr nach und von Jordanien. Die fast täglichen Luftangriffe im oppositionellen Teil der Provinz Daraa führen zu einer starken Binnenflucht.

Orte, an denen nur vier oder fünf Fassbomben im Monat fallen, gelten als sicher, so dass viele Menschen dort Zuflucht suchen. Dazu gehört auch die Stadt Jassem. Von den lokalen Strukturen verlangt dies eine immense logistische Infrastruktur, die es eigentlich kaum noch gibt. Insoweit wiegt das zerstörte Krankenhaus doppelt. Dazu gehört auch der Verlust der Solaranlage, die medico ermöglichte. Nur zwei Solarzellen funktionieren noch, vielleicht können 22 weitere wieder repariert werden.

Die medico-Partner machen weiter

Unsere Partner vor Ort arbeiten weiter. Was sollen sie auch sonst tun? Es gehen schon genug und die, die bleiben, brauchen einen alltäglichen Beistand. Große Hoffnungszeichen gibt es keine. Was soll schon besser werden in der syrischen Provinz, weitab der türkischen Grenze und damit auch der Fluchtrouten nach Europa, wo um Ortschaften und strategische Hügel gekämpft wird? Und wie bereits gesagt, der IS, der große Schrecken des Westens, ist hier auch nicht besonders aktiv.

Nur ein Ende der Bombardierungen und der russischen Luftangriffe wäre ein erster substanzieller Fortschritt. Das würde ein Mindestmaß an Überlebenssicherheit schaffen. Außer den AktivistInnen vor Ort und den Betroffenen selbst fordert das aber gerade niemand mit Nachdruck – besonders nicht außerhalb Syriens. Alles wartet auf die Wiener Gespräche und einen möglichen „Kriegsunterbrechungsstatus“, wie immer der auch, etwa in der Provinz Daraa, durchgesetzt werden soll.

Unterdessen wird der Müll in den Städten gesammelt. medico wird das weiter fördern. Es ist auch erfolgreich. Die Stadt wurde nicht nur sauberer, sondern es entstand schon jetzt ein neues Gemeinschaftsgefühl. Andere Städte in der Region wollen sich der Kampagne anschließen. Sicherer wird das Leben dadurch allerdings nicht. Denn der Müll überträgt nur die Krankheiten. Der Tod kommt weiterhin von oben.

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