Alassane Dicko (Bamako) ist Öffentlichkeitsreferent der Assoziation der Abgeschobenen Malis (AME) sowie Mitglied der malischen Sektion von Afrique-Europe-Interact. Am 4. Juni 2014 nahm Dicko Stellung zur Anhörung „Flüchtlinge, Migration und Entwicklungspolitik“ vor dem Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung im Bundestag.
Vorbemerkung
Mein Vater stammt aus dem Norden Malis, allerdings bin ich überwiegend in der Elfenbeinküste aufgewachsen. Dort habe ich auch studiert und als Informatiker gearbeitet, bis ich 2005 im Zuge des Bürgerkriegs in der Elfenbeinküste als so genannter „falscher Ivorer“ meine Arbeit verloren habe. Im Anschluss wollte ich in Belgien ein weiteres Studium aufnehmen, bin aber im Rahmen des Flughafenverfahrens direkt nach Mali wieder abgeschoben worden.
Seitdem habe ich in unterschiedlichen Funktionen (teils auch ehrenamtlich) für die „Assoziation der Abgeschobenen Malis“ (AME) gearbeitet, die maßgeblich von der in Frankfurt ansässigen NGO medico international finanziell unterstützt wird (vgl. Anhang). Darüber hinaus bin ich seit 2010 am Aufbau des transnationalen Netzwerks Afrique-Europe-Interact beteiligt.
Im Rahmen des Ausschusses werde ich – wie erbeten – über die Situation von Flüchtlingen und MigrantInnen in Europa bzw. auf dem Weg nach Europa sprechen, allerdings unter systematischer Berücksichtigung des malischen bzw. westafrikanischen Kontextes.
Ausschlaggebend wird dabei die Frage der „Typisierung der Zuwanderung und ihr Wandel in den letzten beiden Jahrzehnten“ sein (vgl. Einladung zur Anhörung). Denn im Zuge der restriktiven EU-Migrationspolitik hat sich die Migration aus Mali Richtung Europa seit Ende der 1980er Jahre grundlegend geändert – von einer regulären Arbeitsmigration seit Anfang der 1970er Jahre hin zur massenhaften irregulären Einwanderung seit Beginn der 1990er Jahre.
Vor diesem Hintergrund werde ich schließlich die These vertreten, dass ein wirklich produktives Zusammenspiel zwischen Migration und Entwicklung – Stichwort co-development – nur unter der Voraussetzung einer weitgehenden (ggf. niedrigschwellig regulierten) Reisefreiheit zwischen Afrika und Europa möglich sein wird.
Ausgangspunkt: Zur kulturellen Bedeutung der Migration in Mali
Migration ist in Mali keineswegs ein neues Phänomen, sie ist vielmehr seit vielen Jahrhunderten kulturell tief verankert – wie auch in vielen anderen Regionen Westafrikas. Im 20 Jahrhundert waren zunächst die heutigen Staaten Togo, Ghana und Benin wichtige Zielregionen für malische MigrantInnen, später der Senegal und die Elfenbeinküste.
Europa, insbesondere Frankreich und Spanien, ist erst seit Anfang der 1970er Jahre durch die beiden großen Dürren (1968 bis 1973 und 1983 bis 1985) sowie die wirtschaftlichen Einbrüche im Zuge zahlreicher Strukturanpassungsprogramme durch IWF und Weltbank (seit Dezember 1982) zum Einwanderungsziel geworden, davor sind lediglich vereinzelt Angehörige des malischen Militärs sowie Studierende nach Frankreich gelangt.
In Zahlen: Heute leben ca. 4 Millionen malische Staatsangehörige außerhalb Malis, davon 3.5 Millionen in Afrika und 200.000 in Europa (von letzteren wiederum ca. 100.000 in Frankreich).
Grundsätzlich ist mir der Hinweis wichtig – darauf werde ich im Rahmen der Frage des co-development zurückkommen – dass Migration in Mali in aller Regel als zirkulärer Prozess gedacht wird bzw. kulturell codiert ist. Das heißt: Migration ist keine Einbahnstraße, wie es das push-pull Modell der klassischen Migrationsforschung nahelegt.
Vielmehr besagt ein malisches Sprichwort, dass Migration bedeute, vom ersten Tag an seine Rückkehr vorzubereiten. Entsprechend sind seit den 1970er Jahren viele MigrantInnen freiwillig zurückgekehrt, auch aus Europa, nicht selten im Rahmen eines 'fliegenden Wechsels' unter Familienangehörigen.
Verwiesen sei schließlich darauf, dass Mali nicht nur aufgrund seiner geographischen Lage, sondern auch aufgrund seiner von Migration geprägten Kultur, seines Dialogs zwischen den verschiedenen afrikanischen Zivilisationen und seiner legendären Gastfreundschaft schon lange sowohl Ziel- als auch Transitland für MigrantInnen aus ganz Subsahara-Afrika ist.
Ein Umstand, der in den letzten 10 Jahren nicht zuletzt dadurch an Relevanz gewonnen hat, dass tausende irreguläre MigrantInnen aus verschiedensten afrikanischen Ländern direkt nach Mali zurückgeschoben wurden (insbesondere aus Mauretanien, Marokko und Algerien) – ohne dass dem malischen Staat auch nur im geringsten die Mittel zur Verfügung stehen würden, die Betroffenen angemessen zu unterstützen, geschweige denn eine Weiterreise in die Herkunftsländer (sofern erwünscht) zu ermöglichen.
Hintergründe von Migration aus Mali bzw. Westafrika
Bestimmend für die Entscheidung zur Migration sind viele Jahrhunderte insbesondere der Fernhandel, religiöse (Pilger-)Aktivitäten sowie politische bzw. militärische Vorgänge gewesen – letzteres im Rahmen der großen Reiche, die sich seit dem Mittelalter unter anderem auf dem Gebiet des heutigen Malis erstreckt haben. Darüber hinaus hat spätestens seit dem späten 19. Jahrhundert auch Armut eine ausschlaggebende Rolle gespielt. Erwähnt sei daher, dass heute 64 Prozent der Bevölkerung in Mali als arm gelten (untere Zugrundelegung ohnehin äußerst niedriger Schwellenwerte), 20 Prozent sogar als extrem arm.
Wenn über Armut gesprochen wird, dann sollten aber auch die Gründe für diese Armut nicht aus dem Blick geraten. Denn viele jener Faktoren, die bereits in der Geschichte eine echte Entwicklung verunmöglicht haben (vor allem im Zuge des Kolonialismus) haben sich bis heute fortgesetzt – meist in einer Mischung aus internen und externen Faktoren.
Zwei aktuelle Beispiele seien stellvertretend erwähnt – auch deshalb, weil die Assoziation der Abgeschobenen Malis zusammen mit Afrique-Europe-Interact diesbezüglich bereits seit längerem aktiv ist: Seit knapp 10 Jahren gehört Mali zu jenen Ländern in Afrika, die in großem Stil von Landgrabbing betroffen sind, d.h. vom Ausverkauf fruchtbarer Acker-,Wald- und Weideflächen an nationale wie global operierende Großinvestoren.
Dabei erfolgt nicht nur der Verkauf, sondern auch der Umgang mit den dort siedelnden Bauern und Bäuerinnen auf meist korrupte und die Menschenrechte massiv verletzende Weise. Beispielhaft ablesbar ist dies an den beiden im Office du Niger gelegenen Dörfern Sanamadougou und Sao, zu denen bereits das renommierte Oakland-Institut in den USA sowie die Menschenrechtsorganisation FIAN ausführliche Reports bzw. Stellungnahmen vorgelegt haben. Konkret sind beide Dörfer durch ein 30.000-Hektar-Projekt des bestens mit den politischen Spitzen des malischen Staates vernetzten Investors Modibo Keita von einer entschädigungslosen Komplettvertreibung bedroht.
Besonders skandalös: Im Rahmen des Genehmigungsverfahrens wurde die allenthalben bekannte Existenz der beiden Dörfer schlicht unterschlagen, außerdem sollen die von Modibo Keita verwendeten Maschinen, so ein offenes Geheimnis in der Hauptstadt, ursprünglich aus Mitteln der deutschen Entwicklungszusammenarbeit stammen, vermittelt über die Ehefrau des im März 2012 gestürzten ehemaligen Präsidenten Amadou Toumani Touré (ATT).
Ein weiteres Beispiel: In der Gemeinde Falea im äußersten Südwesten Malis soll ab 2016 Uranabbau im Tagebauverfahren erfolgen, wobei die seit 2009 stattfindenden Probebohrungen durch das kanadische Unternehmen „rockgate capital“ bereits weitgehend abgeschlossen sind (ohne dass bis heute die ansässige Bevölkerung je irgendwelche Mitspracherechte erhalten hätte).
Sollte es tatsächlich zur Eröffnung dieser Uranmine kommen, wären rund 21 Dörfer mit 17.000 Menschen in der äußerst fruchtbaren Hochebene im Dreiländereck Mali-Senegal-Guinea von schrittweiser Vertreibung betroffen, eine Region, in der mehrere für die Wasserversorgung Senegals und Malis wichtige Flüsse entspringen.
Ob Sao, Sanamadougou oder Falea, die Zivilgesellschaft in Westafrika bezeichnet die potentiell Betroffenen solcher und vieler vergleichbarer Maßnahmen als „Kandidaten“ der (irregulären) Migration – was der systematische Grund ist, weshalb ich an dieser Stelle auf diese beiden Beispiele ausdrücklich aufmerksam machen möchte.
Zum Wandel der Migration nach Europa seit den 1970er Jahren
Wie eingangs erwähnt, ist die Migration aus Mali bzw. Westafrika anfangs ohne Visum möglich gewesen – schlicht indem im Hafen von Marseille nach der Ankunft eine Registrierung durchgeführt wurde. Doch spätestens Anfang der 1980er Jahre ist die von Frankreich noch vor der Entkolonialisierung 1960 unter anderem im Gebiet des heutigen Senegals durchgeführte Anwerbepolitik billiger Arbeitskräfte ausgelaufen.
Stattdessen ist es – wie überall in Westeuropa – zu einer zunehmend restriktiven Einwanderungspolitik gekommen, die sodann seit den 1990er Jahren im Rahmen der Europäischen Union eine schrittweise Vereinheitlichung erfahren hat.
Konsequenz war, dass die sich die bis dato reguläre Migration Richtung Europa zu einer zunehmend irregulären Migration gewandelt hat (Stichwort: Festung Europa) – ein Prozess, dessen grundlegende Eckpunkte allgemein bekannt sein dürften, weshalb lediglich auf einige spezifische Aspekte eingegangen sei:
Neben all den innereuropäischen Maßnahmen (ausgehend von den Schengener Abkommen sowie dem Vertrag von Amsterdam) war insbesondere die Einbindung der nordafrikanischen Länder ein aus afrikanischer Sicht hochgradig problematischer Meilenstein der europäischen Migrationspolitik – und das nicht nur, weil die EU die Durchführung entwicklungspolitischer Maßnahmen an die Bereitschaft zur Migrationsabwehr gekoppelt hat.
Konkreter: Da die betroffenen Länder auf ihre Aufgabe als Pufferstaaten in keinster Form vorbereitet waren, geht dies bis heute mit extremen Menschenrechtsverletzungen einher – unter anderem in Gestalt massiver Polizeigewalt (inklusive Schüssen auf Flüchtlinge und MigrantInnen an den spanischen Enklaven Ceuta und Melilla), willkürlicher, teils mehrjähriger Inhaftierungen (allein in Libyen sollen 2006/2007 bis zu 60.000 Menschen unter katastrophalen Bedingungen inhaftiert gewesen sein) sowie regelmäßigen Abschiebungen in die Wüste, etwa ins Niemandsland zwischen Algerien und Marokko oder in den Süden Algeriens (die entsprechenden Menschenrechtsverletzungen sind in den letzten 12 Jahren in zahlreichen Untersuchungen, Artikeln und Büchern detailliert dokumentiert worden.
Gleichwohl sei in diesem Zusammenhang auf ein aktuell erschienenes Buch des kongolesischen Flüchtlings und Menschenrechtsaktivisten Emmanuel Mbolela verwiesen, in dem sämtliche dieser Vorkommnisse auf äußerst eindrückliche Weise beschrieben bzw. analysiert werden: Mein Weg vom Kongo nach Europa: Zwischen Widerstand, Flucht und Exil, Mandelbaum 2014).
Als nicht minder problematisch hat sich des weiteren die Einbindung der Herkunftsländer in die migrationspolitischen Maßnahmen entpuppt – auch dies in aller Regel gegen entsprechende Auflagen im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit. Besonders erwähnenswert sind dabei die so genannten Rückübernahmeabkommen, die zu einer massiven Erhöhung der Abschiebezahlen geführt haben: Beispielsweise hat es in den Jahren 2002 bis 2006 628 Abschiebungen von Spanien nach Mali gegeben, eine Zahl, die nach Abschluss eines entsprechenden Abkommens zwischen Spanien und Mali allein im Jahr 2008 auf 1410 Abschiebungen angewachsen ist.
Schließlich gab es auch verschiedene Versuche, durch migrationspolitische Versprechungen sowohl die Regierungen als auch zivilgesellschaftliche Akteure der Herkunftsländer zur Kooperation im Feld der Migration zu bewegen. Beispielsweise hat die EU in Mali mit viel Aufwand ein Zentrum namens CIGEM (Centre d'Information et la Gestion des Migration) eingerichtet, dessen Ziel nicht nur die Verbreitung von Informationen zu den Risiken irregulärer Migration hätte sein sollen (inklusive der Förderung von Alternativen), sondern auch die Unterstützung potentieller MigrantInnen bei der Beantragung von Visa zur regulären Einreise in die EU. Einziger Haken: Letzteres hat nie funktioniert, entsprechend dürfte es nicht erstaunlich sein, dass CIGEM bereits seit längerem de facto funktionsuntüchig ist.
Insgesamt ist festzuhalten, dass die EU-Migrationspolitik gegenüber Afrika in erster Linie an den Bedürfnissen des europäischen Arbeitsmarktes orientiert ist – kaum jedoch an menschenrechtlichen Maximen: Während die Masse der Flüchtlinge bzw. MigrantInnen außen vorgehalten werden soll, sind dringend benötige Arbeitskräfte willkommen – ob ErntehelferInnen aus Marokko oder akademisch ausgebildete SpezialistInnen, beispielsweise ÄrztInnen und KrankenpflegerInnen aus zahlreichen Ländern Subsahara-Afrikas.
Dabei hat vor allem die Abwerbung von SpezialistInnen katastrophale Konsequenzen – Stichwort „brain drain“. Erwähnt sei nur, dass nach Schätzungen der IOM jedes Jahr 80.000 Menschen mit Berufs- oder Universitätsausbildung Afrika verlassen, in manchen Ländern betrifft das bis zu 35 Prozent der Uni-AbsolventInnen.
Auswirkungen auf Flüchtlinge und MigrantInnen
Die Konsequenzen dieses Formwandels der westafrikanischen Migration Richtung Europa waren unterdessen gravierend – nicht nur für die MigrantInnen bzw. Flüchtlinge selbst, sondern auch für die Zielländer, die Herkunftsländer, die Transitländer sowie die Beziehungen der involvierten Staaten untereinander. Was die MigrantInnen und Flüchtlinge betrifft, so waren diese zunehmend von Irregulärität und folglich den damit korrespondierenden Gefahren bzw. restriktiven Maßnahmen betroffen. Einige Schlaglichter:
Erstens sind durch die migrationspolitischen Hindernisse die zurückzulegenden Wege immer länger, komplizierter und gefährlicher geworden. In diesem Zusammenhang hat insbesondere die 2004 gegründete EU-Grenzschutzagentur Frontex eine unrühmliche Rolle gespielt. Denn anstatt Menschenleben zu retten, hat diese Flüchtlingsboote tausendfach aufgehalten und zur Umkehr gezwungen, nicht selten mit unmittelbaren Zwang. Insgesamt sind auf diese Weise seit den 1990er Jahren mindestens 25.000 Menschen an den EU-Außengrenzen bzw. in der Wüste ums Leben gekommen.
Zweitens sind die migrationspolitischen Maßnahmen – wie bereits erwähnt – mit massiver staatlicher Gewalt in den Transitländern einhergegangen, nicht zuletzt in Libyen, wo Muammar Gaddafi die Migrationspolitik zur Wiederannäherung an die EU genutzt hat.
Drittens ist es in Europa zu hochgradig prekären Lebens- und Arbeitsverhältnissen gekommen, wobei im Bereich der Arbeit festzuhalten ist, dass der irreguläre Aufenthaltsstatus seitens der ArbeitgeberInnen oftmals missbraucht wird, um schlechte Löhne etc. zu zahlen bzw. die Arbeitsrechte umfassend außer Kraft zu setzen (insbesondere in der Landwirtschaft, im Bau-, Transport- und Reinigungssektor, in der Hausarbeit und im Hotel- und Gaststättengewerbe).
Viertens ist es zunehmend zu Abschiebehaft und Abschiebungen gekommen – nicht nur aus Europa, sondern auch aus Transitländern. Insbesondere die Abschiebung selbst stellt eine zutiefst einschneidende und traumatische, in Europa aber häufig völlig unterschätze Erfahrung dar: Zunächst, weil die Betroffenen mitten aus ihrem Alltag gerissen werden (häufig unter Missachtung bestehender familiärer Verbindungen, unter Verlust des gesamten Hab und Guts sowie unter Vorenthaltung sämtlicher Anwartschaften für erfolgte Sozialversicherungsbeiträge), sodann, weil sie seitens ihrer ökonomisch auf sie angewiesenen Familien starker Stigmatisierung ausgesetzt sind – und zwar als diejenigen, die es nicht geschafft haben, das familiäre Versprechen einzulösen.
Neben den MigrantInnen bzw. Flüchtlingen sowie ihren Familien hinterlässt die Migrationspolitik der EU aber auch in den Herkunfts- und Transitländern tiefe Spuren. Erwähnt sei zunächst, dass sich die Regierungen der Herkunftsländer immer wieder in einer schwierigen Lage wiedergefunden haben – eingeklemmt zwischen einerseits dem Druck der EU, beispielsweise Rückübernahmeabkommen zu unterschreiben und andererseits der Erwartung der Bevölkerung, genau dieses nicht zu tun.
Sodann hat sich die Beteiligung der Transitländer an der restriktiven Migrationspolitik der EU zu einer massiven Belastung der zum Teil sehr alten Beziehungen zwischen den Ländern des Maghreb und Subsahara-Afrikas ausgewachsen. Schließlich wurde auch die traditionelle Bewegungsfreiheit innerhalb Westafrikas auf ausdrückliches Betreiben der EU zunehmend eingeschränkt (unbeschadet dessen, dass die EU innerhalb ihres eigenen Territoriums umfassende Reisefreiheit für EU-BürgerInnen propagiert).
Migration und Entwicklung
Das soeben erwähnte familiäre Versprechen ist Dreh- und Angelpunkt aller Überlegungen zum Verhältnis von Migration und Entwicklung. Denn de facto ist dieses Verhältnis bereits seit Jahrzehnten in Mali darüber zur Realität geworden, dass die MigrantInnen ihre Familien
mitversorgen. Denn die regelmäßigen Rücküberweisungen seitens der MigrantInnen stellen eine Art Lebensversicherung dar, die es den Familienangehörigen erlaubt, ihre grundlegenden Ausgaben zu bestreiten und zudem auf unvorhergesehene Ereignisse zu reagieren.
Mit anderen Worten: Mit Hilfe der in die Migration gegangenen Familienmitglieder findet eine Diversifizierung der Einnahmequellen im Rahmen des familiären Haushalts statt, wobei Untersuchungen von durchschnittlich 100 bis 300 Euro Rücküberweisungen pro Monat ausgehen (sofern die MigrantInnen inWesteuropa leben). Die Unterstützung der Familien ist jedoch nur die eine Seite der Medaille.
Auf der anderen Seite stehen Infrastrukturentwicklungen innerhalb der Herkunftsdörfer, wie sie insbesondere für die Region Kayes im Westen Malis (etwa im Kreis Yélimanie) bestens dokumentiert sind – etwa in Gestalt des Neubaus von Brunnen, Schulen, Straßen, Gesundheitszentren oder Moscheen. Indes: Diese Entwicklungshilfe von unten funktioniert nur, wenn die MigrantInnen in ihren Transit- oder Zielländern nicht durch massenhafte Irregularisierung ihrer Einkommensmöglichkeiten beraubt werden.
Und ähnliches gilt auch – wenn auch unter anderen Vorzeichen – für Zahlungen für freiwillige RückkehrerInnen (wie sie von diversen europäischen Staaten praktiziert werden). Denn bislang sind diese Zahlungen nicht nur vergleichsweise geringfügig, sie sind auch an die Bereitschaft gekoppelt, den bisherigen Aufenthaltsstatus aufzugeben. Beides führt aber dazu, dass die Programme nicht wirken können.
Was die zur Verfügung gestellten Mittel anbelangt, so ist schlicht zu konstatieren, dass diverse Untersuchungen gezeigt haben, dass es mit den einmaligen Beträgen oftmals nicht möglich ist, eine eigene Existenz aufzubauen, die insgesamt ertragreicher wäre als die regelmäßigen Rücküberweisungen der im Ausland lebenden Familienmitglieder.
Und das im übrigen auch deshalb, weil es für die jahrelang außerhalb Malis gelebt habenden RückkehrerInnen gar nicht so einfach ist, quasi aus dem Kaltstart heraus eine Existenz in einem fremd gewordenen Umfeld aufzubauen. Vielmehr bedarf es diesbezüglicher ungleich größerer Unterstützung, nicht nur finanziell, sondern auch mit Blick auf Ausbildung und eine Art lokal verankerter Existenzgründerberatung.
Ungleich schwieriger ist jedoch der Umstand, dass viele MigrantInnen nicht gewillt sind, eine Rückkehr zu wagen – ohne die Möglichkeit, ggf. wieder nach Europa zurückkehren zu können, sollte ihr Rückkehrversuch scheitern. Vor diesem Hintergrund spricht vieles dafür – auch mit Blick auf das in Mali bzw. Westafrika vielerorts verankerte Modell der zirkulären Migration – eine echte Entscheidungs- und somit Reisefreiheit einzuführen.
Denn diese würde dazu führen, dass ungleich mehr MigrantInnen das Risiko auf sich nehmen würden (vor allem wenn die begleitenden finanziellen Unterstützungen ausgebaut würden), um den ohnehin bestehenden Zusammenhang zwischen Migration und Entwicklung weiter zu vertiefen.
Empfehlungen
Hinsichtlich der Empfehlungen zum Zusammenhang von Migration und Entwicklung bedeutet dies insbesondere dreierlei: Erstens die restriktive Abschottungspolitik durch eine regulierte Einwanderungspolitik zu ersetzen. Denn nur MigrantInnen, die Geld verdienen und Ausbildungen durchlaufen können, sind in der Lage, zu echten Agenten von Entwicklung zu werden.
Zweitens sollten die europäischen Staaten sämtliche Maßnahmen unterlassen, die geeignet sind, Existenzgrundlagen zu zerschlagen und somit zusätzliche KandidatInnen für die Migration hervorzubringen. Im Falle Malis betrifft dies nicht zuletzt den landwirtschaftlichen und den Bergbausektor. Konkret bedeutet das auch, dass sämtliche Möglichkeiten im Rahmen der bilateralen (Entwicklungs-)Zusammenarbeit genutzt werden sollten, um skandalöse Projekte wie die stellvertretend erwähnten Fälle (Sao, Sanamadougou und Falea) zu unterbinden oder zumindest darauf hinzuwirken, dass Großprojekte immer so durchgeführt werden, dass sie nicht mit Vertreibungen oder ähnlichen Konsequenzen einhergehen.
Drittens sollten sämtliche Maßnahmen unterlassen werden, die zu einem Weggang hochqualifizierter Arbeitskräfte aus Afrika beitragen, insbesondere im Gesundheitsbereich (Stichwort: brain drain). Denn dieser brain drain verursacht nicht nur massive volkswirtschaftliche Kosten, er ist – in Gestalt mangelhafter Gesundheitsversorgung – auch einer der Gründe, die überhaupt erst zur Abwanderung führen.
Die Association Malienne des Expulsés
Anbei finden sich noch einige ergänzende Informationen zur Arbeit der „Assoziation der Abgeschobenen Malis“, in deren Namen ich an der Anhörung teilnehme:
Die AME (Association Malienne des Expulsés) ist eine bereits 1996 von Abgeschobenen aus Frankreich und Angola gegründeten Organisation, die sich heute vorrangig um Abgeschobene aus Europa und dem Maghreb, aber auch aus anderen afrikanischen und arabischen Staaten kümmert, die am Flughafen von Bamako oder der algerisch-malischen bzw. mauretanisch-malischen Grenze ankommen und medizinische bzw. psychologische Hilfe, eine Notunterkunft, Rechtsbeistand oder Begleitung bei der Rückkehr in ihr Heimatdorf benötigen.
In Bamako arbeitet die AME mit JuristInnen, MedizinerInnen und JournalistInnen zusammen. Neben ihrer Nothilfe am Flughafen und in den Grenzorten Nioro und Gao liegt ein weiterer Schwerpunkt der Arbeit der AME in der Öffentlichkeitsarbeit in Mali, aber auch in der Mitarbeit in internationalen migrationspolitischen und globalisierungskritischen Netzwerken – nicht zuletzt bei Afrique-Europe-Interact.
Die AME veranstaltet in Bamako zur Situation der MigrantInnen eigene Workshops und beteiligt sich mit regelmäßigen Berichten und Aufrufen an der Debatte innerhalb der transnationalen Vernetzung von migrantischen Selbsthilfegruppen und Menschenrechtsinitiativen. Seit 2010 ist die AME auch verstärkt zu den strukturellen Ursachen von Migration aktiv, entsprechend ist seit mehreren Jahren eine enge Zusammenarbeit mit bäuerlichen Gruppen unter anderem im Office du Niger (270 Kilometer nord-östlich von Bamako) entstanden.