Das Palais der Nationen in Genf ist schon eine Reise in die französische Schweiz wert. Insbesondere im Mai, wenn man entlang sorgfältig gepflegter Rasenflächen über von Bäumen gesäumte und mit Kies bestreute Promenaden dem beschaulich gelegenen Palais entgegenläuft. Durch hohe Glasfronten schaut man auf den Genfer See, von Ferne leuchten die Alpen. Der Zauber dieses Blickes legt sich zu dieser Jahreszeit wie eine rosa Wolke über das Thema, das hier verhandelt wird. Es will so gar nicht in die besänftigende Landschaft passen.
Bei der jährlichen Versammlung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Mai steht seit Jahren ein Thema ganz oben auf der Agenda: Die Krise der Weltgesundheit. Zwar konnte in den zurückliegenden Jahren ein bedeutender medizinisch- therapeutischer Fortschritt erzielt werden, doch ist noch immer ein großer – zuletzt sogar wieder wachsender – Teil der Weltbevölkerung davon ausgeschlossen. Alljährlich werden 100 Millionen Menschen durch die Kosten für lebensrettende Behandlungen in lebenslange Armut und Verschuldung getrieben.
Mit Blick auf den unterdessen weltweit erzeugten Reichtum ist die Tatsache, dass Millionen von Familien noch immer zu einem unerbittlichen Kampf um nur sauberes Wasser, den Zugang zu Toiletten und ausreichender Ernährung gezwungen sind, Ausdruck eines globalisierten Skandals, der nicht verschwiegen werden darf und dringliches Handeln erfordert. Die Frage der Formulierung einer globalen Gesundheitspolitik ist neu aufgeworfen. Sie muss sich auch mit den Folgen verfehlter wirtschaftlicher Strukturanpassungsprogramme auseinandersetzen, die von anderen UN-Organisationen, dem Internationalen Währungsfonds und der Weltbank den Länder des Südens aufgezwungen worden waren und zu radikalen Einschnitten in der Gesundheitsversorgung geführt haben.
„Trickle Down-Effekt“ gescheitert
Das Ziel, allen Menschen zu ihrem Recht auf gleichen Zugang zur bestmöglichen Gesundheit zu verhelfen, ist Verfassungsauftrag der WHO. Demokratisch organisiert nach dem Prinzip „jeder Staat eine Stimme“ repräsentiert die WHO eine Art gesundheitspolitisches Weltparlament, in dem seit jeher auch die politische Auseinandersetzung um das Verständnis von Gesundheit geführt wird. Als sich 1978, am Ende der Entkolonialisierungsprozesse, die größer gewordene Zahl der WHO-Mitgliedsstaaten in Alma Ata trafen und „Gesundheit für alle im Jahr 2000“ als Ziel beschlossen, war dies zumindest ein Ausdruck von demokratischem Welt-Willen. Dieses Ziel ging in der Folge wieder verloren, als mächtige Staaten und wirtschaftliche Interessengruppen für eine Neuausrichtung der Weltgesundheitspolitik entlang vertikaler, meist auf einzelne Krankheiten bezogener, Programme sorgten und schließlich die WHO immer mehr Kompetenz an sogenannte „Public-Private-Partnerships“ abgab, bei denen die Industrie direkt mit am Tisch sitzt. Die WHO erschien lange Zeit nicht mehr als geeigneter Ansprechpartner für menschenrechtliche Gesundheitspolitik.
Das könnte sich nun wieder ändern. Denn unterdessen haben auch viele Mitgliedsstaaten der WHO erkannt, was die globale Gesundheitsbewegung immer wieder betont hatte: „Der Trickle-Down-Effekt ist gescheitert.“ Die Vorstellung, der Markt sei ein objektiver Regulator, der am Ende dafür Sorge trage, dass alle etwas abbekommen, hat sich als Irrweg erwiesen. Die soziale Spaltung in der Welt wird auch bei der WHO als zentrale Herausforderung der Weltgesundheitspolitik wahrgenommen, und zumindest rhetorisch hat sie das Credo der Neoliberalen aufgegeben.
Nur, was folgt daraus? Die angesehene Wissenschaftsjournalistin und Pulitzer- Preisträgerin Laurie Garrett forderte in ihrem Buch „Das Ende der Gesundheit“ eine „globale öffentliche Gesundheitsinfrastruktur, die nicht nur wesentliche Elemente der Krankheitsprävention und -überwachung umfassen müsse, sondern auch neue Strategien und Taktiken für die Bewältigung globaler Herausforderungen“. Für Garrett geht es nicht um pragmatische Lösungen, deren kurzfristige Erfolge am Ende nur langfristige Schäden verbergen. Es müsste ein „weitaus komplexeres – und schwer definierbares – Ziel“ anvisiert werden, das aus „Politik, Soziologie, Wirtschaftswissenschaft und selbst aus Elementen von Religion, Philosophie und Psychologie“ bestünde.
Es mag vermessen klingen, aber genau daran arbeitet medico international gemeinsam mit vielen anderen Gesundheitsinitiativen, Expert_innen, internationalen Gremien und der globalen Gesundheitsbewegung, die sich unter anderem im People´s Health Movement ausdrückt.
Paradigma Gleichheit
Ausgangspunkt jedweder Neuformulierung globaler Gesundheitspolitik sind die fundamentalen Prinzipien Gleichheit, Solidarität und Demokratie. Alle Überlegungen, wie heute globale soziale Sicherung und damit auch Gesundheit für alle geschaffen werden kann, müssen diesen Prinzipien gerecht werden, sollen die Menschenrechte nicht nur eine schöne Idee bleiben. Es geht um die Frage der Schaffung von Gemeingütern (z.B. öffentliche Gesundheitsversorgungssysteme), die allen gleichermaßen zugänglich sind, die über Prozesse der Umverteilung von Reichtum solidarisch gesichert und demokratisch gesteuert werden. Solche Ideen, die in Ansätzen auf nationaler Ebene (noch) existieren, auf die globale Gesundheitspolitik zu übertragen, wäre allerdings ein Paradigmenwechsel.
Für diese Debatte ist die WHO ein wichtiger Ort. Ihre Rolle muss gegenüber anderen Akteuren der Weltgesundheit gestärkt werden. Aus Sicht der Gesundheitsbewegungen sollte die WHO in die Lage versetzt werden, sowohl bei Normsetzungsverfahren, als auch der späteren Überwachung von verabredeten Regeln, aktiv und federführend tätig zu werden. Voraussetzung für die Stärkung der WHO ist die Verbesserung ihrer demokratischen Kontrolle. Insbesondere gilt es, eine transparente zivilgesellschaftliche Mitsprache zu ermöglichen und zugleich den oft undurchsichtigen Einfluss partikularer Interessengruppen, wie der Pharma-Industrie oder Versicherungswirtschaft, zurückzudrängen Einiges hat die internationale Gesundheitsbewegung auf diesem Weg erreicht.
Zum Beispiel mit dem Untersuchungsbericht der WHO zu den „sozialen Determinanten von Gesundheit“, der 2010 veröffentlicht wurde, und darlegt, wo Strategien für eine andere globale Gesundheitspolitik ansetzen müssten. Die zivilgesellschaftlichen Koalition „Democratising Global Health“, die von medico mit angestoßen wurde, hat bereits die Akzente in der Debatte um die WHO-Reform verschieben können. In der Delhi-Erklärung, die 2011 verabschiedet wurde, haben diese Gruppierungen eine WHO-Reform gefordert, die nicht bei betriebswirtschaftlichen Anpassungen ansetzt, sondern klärt welches Verständnis von Gesundheit die WHO in der Zukunft leiten soll. Derzeit befindet sich die WHO an einem Scheideweg: sie ergibt sich entweder voll und ganz den Interessen jener Akteure, die Gesundheit durch die Brille von Konsumismus und Business betrachten, oder sie besinnt sich auf ihren verfassungsmäßigen Auftrag, dem Menschenrecht auf Gesundheit zu entsprechen.
Für die sozialen Bewegungen in aller Welt wäre eine starke WHO, die im Dienste öffentlicher Interessen steht eine große Unterstützung. Und so verwandelt sich das beschauliche Palais der Nationen in Genf alljährlich im Mai zu einem strategischen Ort, an dem wir uns in den letzten Jahren immer wieder gemeinsam mit unseren Projektpartner_innen einfinden mussten.