Hilfe im Handgemenge

medico & seine Partner_innen: Ein politisches Netz

12.02.2013   Lesezeit: 5 min

Die indische Gynäkologin Dr. John ist eine lebenserfahrene selbstbewusste Frau. Wenn sie im feinen Sari den Raum betritt, dann klingeln die Ketten und Armreifen wie ein Echo ihrer inneren Stimme. Es ist der Klang einer freien Frau. Dr. John ist sich ihrer privilegierten Situation als Ärztin in Chennai wohl bewusst. Ihr Engagement für die Entrechteten und arm gehaltenen Landsleute im Rahmen der indischen Bewegung für das Menschenrecht auf Gesundheit ist eine vor langer Zeit von ihr getroffene politische Entscheidung.

Ein Schlüsselerlebnis, das ihre Politisierung als Ärztin erheblich beeinflusste, erzählt Dr. John immer wieder. Als junge Gynäkologin habe sie in einer armen ländlichen Region in Indien arbeiten müssen. Herausgefallen aus ihrem wohlhabenden Milieu sei sie zum ersten Mal mit einem Indien konfrontiert gewesen, das Lichtjahre von ihrem Leben entfernt gewesen sei. Unter diesen Umständen versagten ihre an guten Universitäten erlernten medizinischen Methoden. Eine Schwangere mit Zwillingen, die kurz vor der Niederkunft stand, kam zu ihr. Dr. John konnte ihr nicht helfen, weil keine medizinischen Geräte und keine Anästhesie zur Verfügung standen. Sie hätte sie nur ins nächste Krankenhaus schicken können. Aber die Mutter und beide Kinder hätten die Fahrt nicht überlebt. Eine Hebamme, zugleich Analphabetin, aus der Region habe dann kurzentschlossen die Kinder im Mutterlaib gedreht, eine natürliche Geburt ermöglicht und alle drei Menschenleben gerettet. Danach war für Dr. John nichts mehr so wie vorher. Sie verstand, dass sich in Indien nur etwas ändert, wenn die Armen selbst zu Expertinnen der Veränderung, zu Expert innen ihrer Rettung werden. In diesen Dienst hat sie seither ihr professionelles und politisches Vermögen gestellt.

Die Geschichte von Dr. John beschreibt einen Veränderungsprozess, den auch medico international durchlaufen hat. Als junge Medizinstudentinnen 1968 medico international gründeten, waren sie aufgerüttelt durch die Bilder der Hungersnot in Biafra. Sie sammelten Medikamente und brachten sie mit eingeschaltetem Martinshorn zum Frankfurter Flughafen. Von PR verstanden sie bereits etwas, aber der gute Wille wurde mancherorts zum Fluch der guten Tat. Die eingesammelten Medikamente waren zum Teil abgelaufen. Die Beipackzettel für die Bevölkerung unverständlich. Es fehlte an Ärztinnen, die eine richtige Medikamentengabe hätten begleiten können. Auch wenn es gängigen Vorstellungen von Hilfe widerspricht, machte diese Erfahrung in der Praxis deutlich, wie problematisch eine von außen einfliegende, die Kontexte, Ressourcen und die Fähigkeiten der Menschen vor Ort ignorierende Hilfe ist. Das ist eine fundamentale Lektion, die alle in diesem Bereich Tätigen offenbar immer wieder neu lernen müssen, gerade weil in unserer medial überformten Zeit Schnelligkeit und Hilfe als zwei Seiten einer Medaille betrachtet werden.

Wer sind die Expert_innen?

medico international zog im Laufe der Jahre daraus die Schlussfolgerung mit Partnerorganisationen vor Ort zu kooperieren. So ist ein Netzwerk aus Partner_innen entstanden und entwickelt sich immer weiter, das in seiner Heterogenität doch fundamentale Prinzipien teilt. Dazu gehören das Menschenrecht auf Gesundheit als höchstmögliches Maß an Gesundheit und Wohlbefinden, das jedem und jeder zusteht; die Grundsätze einer umfassenden und universellen Basisgesundheitsversorgung, wie sie in der Erklärung von Alma Ata 1978 als „Gesundheit für alle“ von den Mitgliedsländern der Weltgesundheitsorganisation (WHO) entwickelt wurde; und die Haltung, dass Gesundheit in erster Linie durch politische, ökonomische und soziale Faktoren bestimmt wird. Die Verwirklichung des Rechts auf einen gleichen Zugang zu Gesundheit muss bei diesen Faktoren ansetzen. Damit wandelte sich das medico-Gesundheitsverständnis von einem rein medizinischen Begriff zu einem sozialen und politischen Handeln, in dessen Mittelpunkt Gesundheit und Emanzipation des Menschen stehen.

So kann es nicht verwundern, dass medico in den 1980er Jahren die Befreiungsbemühungen in Mittelamerika unterstützte, die Gesundheit im Kontext sozialer Veränderungen betrachtete. Damals entstand der Begriff Befreiungshilfe. Ein Wendepunkt in der gesundheitspolitischen Geschichte von medico. Nach den Giftgasangriffen der irakischen Armee unter Saddam Hussein und der Vertreibung und dem Verschwindenlassen Hunderttausender Kurden begann medico mit sozialmedizinischer Nothilfe die kurdische Bevölkerung im Irak zu unterstützen. Eine Hilfe im Handgemenge, die bis heute anhält.

Befreiungshilfe global denken

Mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes nahm die Globalisierung und vor allen Dingen ihre neoliberale Variante enorm an Fahrt auf. So viel war klar: Befreiungshilfe musste sich nun dem globalen Raum widmen und dort politische Gestaltungsversuche unternehmen. medico gründete gemeinsam mit der US-amerikanischen Stiftung Vietnam Veterans of War Foundation die Kampagne zur Ächtung der Landminen. Daraus entstand die erste weltweite Bürgerinitiative, die erfolgreich ein global gültiges Abkommen zum Verbot von Antipersonenminen durchsetzte. medico international gehörte zu den Organisationen, die dafür 1997 den Friedensnobelpreis erhielten. Die Angriffe auf das World Trade Center mit mehreren Tausend Toten und dem darauf folgenden Krieg gegen den Terror haben den Handlungsspielraum für globalisierungskritische Bewegungen eingeschränkt.

Trotzdem haben Gesundheitsinitiativen aus aller Welt, darunter auch medico, gerade zu diesem Zeitpunkt begonnen die globale Netzwerkarbeit für das Menschenrecht auf Gesundheit zu verstärken. Konkrete Gesundheitsarbeit vor Ort verbindet sich seither mit einer kritischen Beschäftigung mit den globalen krankmachenden Strukturen (u.a. in alternativen Weltgesundheitsberichten), mit der Entwicklung alternativer Expertise von politischer Gesundheitsarbeit sowie Lobbyarbeit für das Menschenrecht auf Gesundheit. Seit den Aufständen in der arabischen Welt und den Demonstrationen von Student_ innen in Madrid, Tel Aviv und Santiago de Chile sind wieder politische Akteure auf den Plan getreten, die an dem Status quo rütteln. Sie verknüpfen die Forderung nach demokratischer Teilhabe mit dem Einklagen von sozialer Gerechtigkeit. An der Seite dieser Unternehmungen einer jungen Generation, die die Idee einer gerechten Welt aufgreift und mit ihren Mitteln weiter entwickelt, sieht sich medico international heute.

Ein Beispiel ist die Unterstützung syrischer Untergrundärztinnen, die die Verletzten des Demokratieaufstands in geheimen Krankenhäusern behandeln. Unter den Umständen dieser Auseinandersetzungen hat gesundheitliche Nothilfe wieder ganz neues Gewicht erlangt. Die Gynäkologin Dr. John aus Indien dürfte mit Sympathie verfolgen, wie bürgerliche ägyptische Ärztinnen, gerufen von ihren Kindern auf dem Tahrir-Platz in Kairo, ihre Ethik als Sozialmedizinerinnen wieder entdeckten und Verwundete versorgten. Die Ärztinnen des Tahrir-Platz, zu denen auch der medico-Kollege Dr. Allah Shukrallah gehört, bildeten die Brücke in die Mitte der ägyptischen Gesellschaft. Sie verkörpern die Repolitisierung der Hilfe. Eine Hilfe im Handgemenge, wie medico sie seit mehr als 40 Jahren unterstützt.


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