Gesundheit ist ein Brennpunkt

15.09.2011   Lesezeit: 5 min

Dr. Alaa Shukrallah vom medico-Partner Association for Health and Environmental Development (AHED) im Gespräch über die neue, kommende Zeit in Ägypten und den Kampf um das Recht auf Gesundheitsversorgung

Wie weit ist der Demokratisierungsprozess und wer sind seine Akteure?

Die 18 Tage bis zum Sturz von Mubarak waren die erste revolutionäre Phase. Es waren die Tage der Gemeinschaftlichkeit, die dem alten Regime das Genick brechen konnten. Die Revolution war in ihrem Charakter eine spontane Bewegung und daher nicht in der Lage, alternative Machtstrukturen zu entwickeln. Dennoch wurden große Siege errungen. Dazu zählt nicht nur der Sturz der Symbole, sondern auch die Schwächung des repressiven Sicherheitsapparats und die Überwindung der korrupten Regierungspartei. Die neue Regierung ging auf den Tahrir-Platz und musste sich vor der Menge verbeugen. Die erfahrene Solidarität des Miteinanders von Christen und Muslimen, Männern und Frauen ist und bleibt noch immer eine zentrale Errungenschaft jener Tage und wird auch zukünftig eine entscheidende Rolle spielen. Hinzu kommen das Selbstvertrauen, das wir erlernten, und die Erfahrung, dass Veränderungen tatsächlich möglich sind. Dieses Wissen kann uns in der gesamten Region niemand mehr nehmen. Die arabische Revolution hat begonnen und wird trotz aller Rückschläge weitergehen. Jetzt wird es auf die demokratischen und linken Kräfte ankommen. War die erste Phase noch von Spontaneität geprägt, müssen wir in der aktuellen Etappe versuchen ein neues politisches Gefüge zu konzipieren und Alternativen entwickeln. Zudem erleben wir den Beginn eines Zersplitterungsprozesses. Es spalten sich die politisch-islamischen und die demokratisch-liberalen Strömungen der Revolution. Diese Trennung ist deshalb so gefährlich, weil wir nicht in die Falle eines Kampfes zwischen einem säkularen und islamischen Staat gehen dürfen. Der wahre Kern des Problems ist vielmehr die Frage: Was ist Demokratie?

Wie ist eine neue Einheit der Bewegung denkbar?

Wir definieren Demokratie als soziale Gerechtigkeit, die alle Menschen vereint. Nur so können wir uns von der Dichotomie von säkularem und religiösem System lösen. Als Linke sollten wir auf programmatische Alternativen drängen, die diesen Punkt in die Frage von Demokratie und sozialer Gerechtigkeit wenden. Jede Diskriminierung muss zurückgewiesen werden, egal ob sie Religion, Ethnie oder Geschlecht betrifft. Kommen wir hier zusammen, können wir auch das Recht auf freie politische Organisierung, das Streikrecht und alle Fragen sozialer Gerechtigkeit aufrufen, ob es sich nun um Sozialleistungen, Gesundheit oder Bildung handelt. Hier beginnt auch unser zentrales Dilemma: Tatsächlich kann diese Revolution nicht alle Hoffnungen erfüllen. Das alte sozial-ökonomische System regiert nicht nur weiterhin, sondern es wird auch von jenen westlichen Regierungen geschützt, die vorgeben die Demokratie in unserer Region zu fördern. Dieser systemimmanente Widerspruch kann nur in einem langwierigen Prozess aufgelöst werden.

Gibt es für das Recht auf Gesundheit neue Koalitionen?

Die Frage der Gesundheit war schon vor Mubaraks Sturz ein mobilisierendes Thema. Bereits vor fünf Jahren kämpften wir in einer Front mit über 70 Organisationen, unter ihnen alle damaligen Oppositionsparteien, gegen ein Krankenversicherungsgesetz, dass die Ungleichheit im öffentlichen Gesundheitswesen legalisieren und unterschiedliche Versorgungsniveaus zementiert sollte. Wir konnten bis heute verhindern, dass das sogenannte „Mindestpaket für die Armen” eingeführt wurde, das die Gesundheitsleistungen an die finanziellen Mittel der Patienten koppeln wollte. Jetzt, nach dem Sturz des alten Regimes, geht es vor allem um die Arbeitsbedingungen im Gesundheitswesen, inklusive der Löhne für Ärzte und Pflegepersonal. Die zweite Frage ist das generelle Recht der Menschen auf eine qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung. Beide Kämpfe finden zeitgleich statt. Erstmalig ist die neue Regierung den Menschen gegenüber rechenschaftspflichtig und schon auf dem Tahrir-Platz gab es eine große Anzahl aktiver Krankenschwestern und Pfleger. Heute haben wir einen neuen Gesundheitsminister, der die Kämpfe für das Recht auf Gesundheit unterstützt hat. Der Gesundheitssektor ist einer der Brennpunkte der neuen Zeit. Aufgrund der Streiks von Ärzten und Krankenpflegerinnen sicherte uns der Premierminister im direkten Gespräch zu, nicht nur die finanzielle Situation der Krankenhäuser zu verbessern, sondern auch die Kosten für die Betreuung und Behandlung der Opfer des Tahrir-Platzes zu übernehmen. Aber auch ein progressiver Gesundheitsminister arbeitet unter einem neoliberalen Diktat, das trotz aller Gesundheitspakete nur eine Minimalversorgung garantieren wird.

Inwieweit beeinflusst die Europäische Union die gegenwärtige Situation?

Die EU hat die Demokratiebestrebungen in der arabischen Welt in großem Ausmaß unterstützt. Sie war aber auch eine der wichtigsten Alliierten der alten autokratischen Regime. Aber selbst wenn wir diese Vergangenheit beiseitelassen, propagiert die EU weiter eine Agenda neoliberaler Politik, die nicht nur die Rechte der Menschen auf Gesundheit und auf Bildung missachtet, sondern genau jene soziale Falle erzeugte, die überhaupt erst zu dieser Revolution geführt hat.

Wie lässt sich die lokale Ebene mit den allgemeinen Zielen einer neuen Gesundheitspolitik verbinden?

Im Rahmen unseres Movement for the Right to Health arbeiten wir in drei Dimensionen: Wir versuchen nicht nur Modelle für eine alternative, gerechte und ganzheitliche Gesundheitspolitik vorzuschlagen, sondern auch die Ursachen für die Ungleichheiten in der Krankheitsanfälligkeit zu thematisieren. Hier investieren wir viel Energie. Hinzu kommen die sozialen Determinanten von Gesundheit. Auf lokaler Ebene wollen wir die Frage der Gesundheit mit anderen sozialen Fragen zusammenbringen und alternative Modelle entwickeln. Die Chancen dafür stehen jetzt besser denn je. Wir können auf staatlicher Ebene mit dem Gesundheitsminister Abkommen erstreiten und zugleich an der Basis in den Nachbarschaften partnerschaftlich mit Gesundheitsteams kommunale Gesundheitszentren aufbauen. Gelingt uns diese Verknüpfung, dann können wir sie mit unseren Kollegen des People’s Health Movement in der gesamten arabischen Region teilen, jetzt vielleicht auch in Libyen, wo Großes geschieht, oder auch im Jemen. Das ist alles sehr aufregend und zugleich eine große Herausforderung.

Das Gespräch führte Andreas Wulf

Projektstichwort

Soziale Bedingungen der Gesundheit: Im Kairoer Slum Ezbeth Al Haggana streitet der medico-Partner Association for Health and Environmental Development (AHED) gemeinsam mit den mobilisierten Nachbarschaften für das Recht auf ein gutes Leben: Müllabfuhr, Stromversorgung, öffentliche Infrastruktur und Gesundheitsdienste. Denn die lokalen Kämpfe entscheiden, ob die Revolution auch die Alltagsversprechen einlösen kann. Das Stichwort lautet: Ägypten.


Jetzt spenden!