Haiti ist kollabiert. Welche Hilfe braucht Haiti jetzt?
Yanick Lahens: Die existentiellen Grundbedürfnisse müssen mit Hilfe von Außen gesichert werden: Essen, Wasser, Gesundheit. Wenn man allerdings nicht die richtige Herangehensweise wählt, kann man daran bereits scheitern. Alle anderen Dimensionen des Wiederaufbaus müssen von Haitianern entwickelt werden. Wir brauchen eine Übereinkunft aller sozialen Gruppen Haitis darüber, worin unser gemeinsamer Konsens zur Bildung einer modernen haitianischen Nation besteht. Zwei Jahrhunderte lang haben wir vermieden, diese Frage zu beantworten.
Was meinen Sie damit genau?
Bei der Unabhängigkeit 1804 waren 60 Prozent der Bevölkerung noch Sklaven, die direkt aus Afrika kamen. Sie waren noch frei geboren und dann versklavt worden. Der Bedarf an Zucker durch die französischen Kolonisatoren war so enorm, dass immer mehr Menschen aus Afrika geholt wurden. (40 Prozent des Zuckers und 60 Prozent des europäischen Kakaobedarfs wurden zu diesem Zeitpunkt von Haiti gedeckt. In wenigen Jahrzehnten hatte Frankreich 800.000 Schwarze aus Afrika nach Haiti verschleppt.) Diese ehemaligen Freien bildeten zum Zeitpunkt der Revolution das Herz der hatianischen Nation. Dann kamen die Kreolen, Kinder von Sklaven, die die in die Kultur der Sklaverei geboren wurden und darin aufgewachsen waren. Eine dritte Gruppe bestand aus Menschen, die aus gemischten Ehen oder von freigelassenen Sklaven stammten. Das ist ein großer Unterschied zu Lateinamerika. Denn dort gab es einen Prozess der Kreolisierung der gesamten Gesellschaft. Und die kreolisch eher von den aus Spanien stammenden Einwanderern geprägte Mittelschicht kämpfte um die Unabhängigkeit von der Kolonie. In Haiti war das anders. Angeführt von versklavten Freien aus Afrika leitete die Revolution auch einen totalen Bruch mit der vorherigen ökonomischen Infrastruktur ein. Ökonomisch gesehen begann das neue Haiti von Null. Man wird Haiti nicht verstehen, wenn man sich nicht mit der Kultur beschäftigt, die aus dieser Geschichte entstanden ist. Nach der Revolution gingen die meisten Menschen in die Berge. Sie schufen dort eine neue Kultur mit einer neuen Religion und einer neuen Sprache und einer neuen Art zu leben. Das war eine wirkliche Widerstandskultur. Nach dem Ende der Kolonialherrschaft regierten die Mulatten. Viele sagen sogar, sie kolonisierten Haiti erneut. Sie waren nie in der Lage einen Staat aufzubauen, der die Grundbedürfnisse der Menschen absichert.
Und die Geschichte der externen Hindernisse?
Haiti wurde von seiner Unabhängigkeit an isoliert. Eine schwarze unabhängige Republik - niemand wollte, dass dieses Modell in Lateinamerika oder in der Karibik Schule machen könnte. Der große lateinamerikanische Held der Unabhängigkeitsbewegung, Simon Bolivar war in Haiti, um hier Schutz zu suchen und den Unabhängigkeitskampf zu reorganisieren. Aber zu dem von ihm organisierten Panamerikanischen Kongress, auf dem eine große lateinamerikanischen Konföderation diskutiert wurde, hat man Haiti gar nicht erst eingeladen.
Die westlichen Länder sagen, dass sie einen Prozess des „Nation-Buildings“ unterstützen wollten. Tun sie das?
Ich kann nicht erkennen, dass jemand daran arbeitet. In anderen Ländern gibt es auch unterschiedliche soziale Klassen. Aber wenigstens gehen doch alle in dieselbe Schule. Allein das schafft doch ein gemeinsames Referenzsystem, um miteinander über das Gleiche zu sprechen. All das fehlt bei uns.
Wir befinden uns an einem kulturellen Wendepunkt. Bis 1986 war Haiti ein geschlossenes Land. Seither aber verändert sich das. Haitianer, die im Ausland gearbeitet haben, kehren zurück und bringen neues Wissen mit. Alle Haitianer haben wenigstens ein Radio, um sich zu informieren. Wir haben um die Redefreiheit gekämpft und sie existiert doch zumindest. Seit 20 Jahren engagieren wir uns, um Haiti zu verändern. Vielleicht gibt es jetzt die Chance, dass wir das wirklich erreichen werden. Ich glaube, dass dies alles Auseinandersetzungen um ein modern verfasstes Haiti sind. Und dass wir nicht die Wahl zwischen einem kubanischen oder dominikanischen Modell haben, sondern dass wir etwas Drittes entwickeln müssen.
Finden in den Radios Debatten über die zukünftige Gestalt Haitis statt?
Jeder sagt dasselbe: Wir dürfen nicht wieder aufbauen, sondern wir müssen neu bauen. Es gibt sehr viel Kritik an der Regierung, und sie ist berechtigt. Aber ich sehe niemanden, keine Gruppe oder Persönlichkeit, die in der Lage wäre, es besser zu machen.
Wenn die Haitianer diesen Prozess nicht organisieren, dann werden es andere für sie tun?
Es gibt ein französische Sprichwort: die Natur hasst leere Stellen. Die Leerstellen werden gefüllt werden, da bin ich sicher. Ich kann es schon beobachten, heute war ich zum ersten Mal in einem Lager von Menschen, die ihre Unterkunft verloren haben. In dem Lager gibt es alles: Schulen, ein Komitee der Selbstorganisation, Jugendgruppen, eine Einkaufsstraße, eine Klinik. Aber es gibt auch Klos und kostenloses Wasser. Für manche hat sich die Situation sogar verbessert. Denn zuvor haben sie für das Wasser bezahlt und statt Klos gab es Plastiktüten. Wenn man will, dass diese Lager aufgelöst werden, dann muss man den Leuten besseres bieten als das. Zurück in ihr altes Elend kann man sie nicht schicken, das werden sie sich nicht gefallen lassen. Ich finde das eine gute Entwicklung.
Was machen die Menschen, wenn der Regen kommt?
Viele haben Plastikplanen, um ihre Zelte zu schützen. Die Schwierigkeit wird in den Abwasserkanälen liegen.
Wie könnte ein solcher Versöhnungsprozess in Haiti aussehen?
Wir hatten keine Konflikte wie in Ruanda. Aber wir haben 200 Jahre Missverständnis hinter uns. Wir sind hier alle sehr politische Menschen. Wenn Sie Radio hören, dann werden sie eine Stellungnahme nach der anderen bekommen. Aber wie wir eine gute Landwirtschaft haben könnten, davon keiner eine Idee. Die Wirtschaftsprogramm der politischen Parteien sind armselig. Wie kann man eine allgemeine Schulpflicht verwirklichen – keine hat dafür einen konsistenten Plan. In Haiti trägt der Reichtum immer noch eine Hautfarbe, auch wenn es mittlerweile ein paar Schwarze gibt, die Geld haben. Die Frage ist, wie kann eine Mittelschicht entstehen, wie kann ein sozialer Aufstieg für die Mehrheitsbevölkerung organisiert werden. Niemand hat ein Programm, das die ökonomischen Möglichkeiten für Arme ausweitet, es fehlt ein Programm zur Öffnung der Ökonomie. Die Eliten wollen das nicht.
Für unsere internen Probleme brauchen wir einen guten, tiefgehenden Prozess. In Südafrika gab es die Wahrheits- und Versöhnungskommission, selbst in der Dominikanischen Republik gab es einen „Nationalen Prozess“. Wir bräuchten auch eine institutionalisierte Form. Eine Art Runden Tisch. Wenn wir von Nation – building reden, dann müssen die Menschen das Gefühl haben dazu zugehören. Dazu müssen wir die Grundlagen klären.
Hätte eine haitianische Regierung überhaupt Handlungsspielraum? In der globalisierten Ökonomie ist der Platz Haitis als Produzent preiswerte Arbeitskräfte ziemlich festgelegt?
Nichtsdestotrotz gibt es Handlungsmöglichkeiten. Die Regierung kann die globale Struktur nicht ändern, aber einen politischen und ökonomischen Handlungswillen, der eigene Prioritäten setzt, könnte sie schon entwickeln.
Haben die USA und die anderen internationalen Akteure ein interessantes Entwicklungsprojekt für Haiti?
Wenn wir keines haben, dann haben sie bestimmt eines für uns.
Haben Sie eine Forderung oder eine Befürchtung gegenüber der internationale Politik?
Ich fürchte vor allen Dingen, dass viel Geld verschleudert und wenig grundlegend verändert wird. Ich habe wirklich große Angst, dass viel Geld in Unsinn gesteckt wird.
Was wären zentrale Punkte eines anderen Programms für Haiti?
Für mich steht an erster Stelle die Dezentralisierung. Statt 5 Krankenhäuser in Leogane, die in der Nothilfe-Phase dort zurecht entstanden sind, sollten jetzt als Zeichen des Umbauwillens zwei in Provinzstädte verlegt werden. Die Universität darf nicht nur in Port au Prince aufgebaut werden. Wir brauchen auch Universitäten an anderen Orten. Port au Prince ist ein Monster Der zweite Schwerpunkt liegt unbedingt auf der Bildung. Schritt für Schritt muss ein öffentliches Bildungssystem entstehen. Bislang hat die Regierung hier keinerlei Möglichkeiten einzugreifen. Es herrscht im Bildungsbereich die blanke Anarchie. Wir haben bald mehr Studenten, die in der dominikanischen Republik studieren als in Haiti. Der Bedarf nach Hochschulausbildung in Haiti ist also enorm. Im Grenzgebiet gibt es sogar schon Schüler, die in der Dominikanischen Republik zur Schule gehen.
Gibt es in Haiti Visionen bezüglich der Gesamtinsel, bezüglich Hispaniola?
Die Haitianer sind dies bezüglich sehr vorsichtig. Aber es gibt ein interessantes Naturschutzprojekt zwischen Kuba, Haiti und der Dominikanischen Republik. Es heißt der „ökologische Korridor“. Daran zeigen sich interessante Ansatzpunkte einer regionalen Kooperation.
Das Interview führte Katja Maurer Anfang März in Haiti.