Am 12. Dezember 2009 wird Hans Keilson 100 Jahre alt. Als er noch nicht ganz 88 Jahre alt war, rief ich ihn einmal aus dem medico-Büro in Frankfurt an. Ich arbeitete damals für medico international in Angola. Ein Teil der Arbeit bezog sich auf die Demobilisierung von Kindersoldaten. Wir überlegten, in Mitteleuropa eine Rundreise zu diesem Thema zu machen. Am Telefon war Keilson zögerlich – jeden Abend eine Veranstaltung in einer anderen Stadt, das schien dem fast 88-jährigen anstrengend zu sein. Doch als ich ihm sagte, dass auch Boia Efraime, ein Psychologe aus Mosambik, dabei sein werde, vergaß er die Anstrengung: "Das ist ja toll. Da kann ich ja etwas lernen!" Und er suchte in seinem Kalender nach freien Terminen. Die Rundreise fand 1997 statt.
Keilson hatte uns mit seinem Paradigma der "sequentiellen Traumatisierung" einen Weg gewiesen in der Arbeit mit Kindersoldaten. Es war die Erfahrung der psychotherapeutischen Arbeit mit Kindern in den Niederlanden, wohin Keilson vor den Nazis geflohen war, die ihn sein Paradigma entwickeln ließ. Die Kinder kamen entweder aus den Konzentrations- und Vernichtungslagern zurück oder aus den Verstecken, in denen ihre deportierten Eltern sie zurückgelassen hatten. Mit der Befreiung erfuhren sie, dass sie zu Waisen geworden waren. Sie lehrten Hans Keilson, dass ein psychisches Trauma weniger ein Ereignis als ein Prozess ist, dass das Ende des Krieges für sie nicht der Anfang einer "posttraumatischen" Situation war, sondern eine neue traumatische Sequenz.
Keilson hat auch Romane, Gedichte und wissenschaftliche Werke geschrieben, Violine und Trompete gespielt, und eine Ausbildung als Sportlehrer. Er ist ein nachdenklicher und umfassend gebildeter Intellektueller in einer Weise, wie es nur noch selten vorkommt. Keilson läßt sich nicht vereinnahmen für eine Ideologie. Das kritische Denken war und ist für ihn nicht etwas, das die Aktivität behindert oder aufhält. Im Februar 1945 schrieb er einen Aufsatz mit dem Titel "Ein leises Unbehagen". Das Unbehagen bezog sich in diesem Fall auf die Bombardierungen deutscher Städte durch die Alliierten. Der das schrieb, war ein Mann im Widerstand gegen die Nazis und gegen die Besatzung der Niederlande. Unbehagen war nicht gleich Zaudern. "Die Bomben fallen… und selbst uns, die wir auf Seiten der großen Allianz und gegen Deutschland stehen, ist dies ein Zeichen, dass selbst in diesem Krieg die beste Sache, von der wir glauben, dass wir sie vertreten, nicht so gut ist, dass sie uns ein Unbehagen erspare. Und das ist gut so."
Ralf Syring Kinshasa, November 2009