Von Mónica López Baltodano
Seit einem Jahr versuchen die nicaraguanischen Bürgerinnen und Bürger mit friedlichen Mitteln, die Diktatur von der Macht zu vertreiben und einen demokratischen Übergang durchzusetzen. Wir kämpfen dafür, die Diktatur samt ihrer weitverzweigten Wurzeln zu beseitigen, damit nicht morgen wieder eine neue Form des Autoritarismus aufkeimt. Wir lernen aus der Geschichte unseres Landes, die geprägt ist von fatalen politischen Pakten auf Spitzenebene. Der selbstorganisierte, klassenübergreifende Aufstand hat seine Fähigkeit unter Beweis gestellt, breite Sektoren der Gesellschaft zu vereinen, die an Hunderten Protestaktionen teilnahmen. Heute verläuft der Aufstand weitgehend still. Er wartet darauf, wieder massiv auf die Straße getragen zu werden. Die zweite Runde der Verhandlungen zwischen Regierung und Oppositionsvertretern hat gezeigt, dass das Ortega-Regime auf unbestimmte Zeit an der Macht festhält, und dass man seinem Wort niemals trauen kann.
Die Großunternehmen sind noch nicht bereit, die Diktatur zum Rückzug zu zwingen. Wenn wir sie aber unter Druck setzen und ihnen gleichzeitig Brücken bauen, dann werden sie einsehen, dass sie ihre Machtposition mit der Kraft des Bürgeraufstands vereinigen müssen. Sie haben keine Alternative, wenn sie Teil des unvermeidlichen demokratischen Übergangs sein möchten, der in Nicaragua stattfinden wird. Innerhalb der Unternehmerverbände gibt es Differenzen und wir müssen die Stimmen unterstützen, die innerhalb des Unternehmerverbandes eine echte Selbstkritik zum Ausdruck bringen. Wir müssen sie ermutigen, größeres Engagement zu zeigen. Denn wenn sie sich weiterhin still verhalten, wird das berechtigte Misstrauen der Bevölkerung wachsen. Sie wird es so verstehen, dass die großen Banken, die sich durch ihre Unterstützung der Regierung Ortega enorm bereicherten, ihre Interessen durchgesetzt haben.
Als antidiktatorische Kräfte müssen wir klug genug sein, sämtliche Stützen zu erkennen, auf denen das Ortega-Regime steht. Und wir müssen sehen, dass wir keinen Erfolg haben werden, wenn es uns nicht gelingt, die Diktatur auch von innen heraus zu sprengen. Die Rücktritte hoher Repräsentanten des Orteguismus sind – unabhängig davon, wie sie ihren Schritt rechtfertigen – schwere Schläge für die Diktatur. Sie demoralisieren das Regime. Das müssen wir weiter fördern. Hierbei sollten wir zur Kenntnis nehmen, dass der Terror des Regimes einen bedeutenden Teil der mehr als 100.000 Staatsbediensteten in eine Art Geiselhaft genommen hat. Und wir sollten niemals vergessen, dass jeder Polizist, der rebellierte, ermordet wurde, verschwand oder im Gefängnis landete. Wir müssen lernen, diejenigen, die zu Mördern des Regimes wurden von denen zu unterscheiden, die sich dem Widerstand noch anschließen können: indem sie Ungehorsam leisten, als Sand im Getriebe wirken oder wichtige Informationen weitergeben. Viele tun das bereits.
Als antidiktatorische Kräfte müssen wir die Intelligenz besitzen, Botschaften an die sandinistische Basis zu senden, die dazu ermutigen, sich vom Orteguismus loszusagen. Es geht nicht darum, den Sandinismus zu erneuern oder zu retten. Es geht darum, zu einer Rebellion innerhalb der FSLN aufzurufen. Sie sollen dem Vorbild der Frauen und Männer folgen, mutigen Führungspersönlichkeiten an den Straßensperren, den Barrikaden und den Besetzungen, die verhaftet wurden oder ins Exil gehen mussten, weil sie von innen rebellierten. Täuschen wir uns nicht: Der kritische Sandinismus wird von Ortega/Murillo am härtesten bestraft, weil sie panische Angst vor einer internen Rebellion haben.
Seit Beginn dieses Aufstandes haben viele von uns darauf bestanden, eine wahrhafte Einheit in der Vielfalt aufzubauen. Wir haben Vorschläge unterbreitet, die möglichst Viele einschließen und die die Gesellschaft nicht spalten. Denn dies würde nur den harten Kern der Diktatur stärken. Ortega/Murillo setzen darauf, dass wir weder die Fähigkeit noch die politische Reife besitzen, in ihre eigene Basis hineinzuwirken. Sie hoffen, dass sich das Sektierertum gegen unsere Rationalität durchsetzen wird. Ein Verständnis der Vielfalt unserer Gesellschaft ist Voraussetzung, um die Diktatur von der Macht zu vertreiben; aber auch, um zu verhindern, dass ihre fanatisierten Anhänger auf lange Sicht die Anstrengungen zunichtemachen, die eine neue demokratische Regierung unternehmen wird.
Wie wird die Zukunft unseres Landes aussehen, falls es Ortega/Murillo gelingen sollte, aus dieser Krise mit einer Anhängerschaft von 20 Prozent der Bevölkerung herauszukommen, so wie es jüngste Umfragen zeigen? Was wird aus dem demokratischen Übergang, wenn ein fanatisierter Kern des Orteguismus fortbesteht, der sich auf die Waffen der Paramilitärs stützen kann? Wenn dies eintreten sollte, wird es niemals eine Zukunft für Nicaragua geben. Daher muss die neue Etappe des Aufstandes darin bestehen, den Orteguismus von innen zur Explosion zu bringen.
Erschienen am 10. Mai 2019 auf dem nicaraguanischen Online-Portal „Confidencial“. Übersetzung: Matthias Schindler
Einen Monat, nachdem der Artikel von Mónica erschienen ist, beschloss das Parlament Nicaraguas ein Amnestie-Gesetz. Was wie eine Geste an die Opposition klingt bzw. klingen soll, ist das Gegenteil: Amnestiert werden „alle Personen, die an den Ereignissen teilgenommen haben, die seit dem 18. April 2018 passiert sind“ – also neben den in ihrer überwiegenden Mehrheit friedlichen Protestierenden auch die bewaffneten staatlichen und parastaatlichen Repressionskräfte, die über 300 Menschen ermordet, Tausende verletzt, illegal in die Gefängnisse geworfen und ins Exil vertrieben haben. Ein Regime schützt seine Schergen vor Strafverfolgung. medico steht weiterhin an der Seite seiner Partnerorganisationen und der demokratischen Protestbewegung.
Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 2/2019. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!