Kein Ende in Sicht

medico-Hilfen in Syrien

27.03.2013   Lesezeit: 10 min

Millionen von Menschen sind auf der Flucht, Hunderttausende verhaftet. Der Bürgerkrieg in Syrien wird immer auswegloser und bedroht den demokratischen Impuls des Aufstands.

Die arabischen Aufstände haben die Trennung zwischen Peripherie und Zentrum erschüttert. Plötzlich konnte jede Peripherie den Status eines Zentrums erlangen. Die vergessene Marginalität der armen ländlichen Räume und vorstädtischen Elendsviertel, ihre scheinbare Zukunfts- und Entwicklungslosigkeit, bedeutete auf einmal, dass die Revolution an den Rändern ausbrach. Wie schon in Tunesien im Herbst 2010, war auch in Syrien der Ausgangspunkt der Rebellion ein Ort an der Peripherie. Was als spontaner Bürgerprotest gegen die Misshandlung von Schulkindern am 15. März 2011 in der Provinzstadt Dar’a begann, einer von tribalen Familienstrukturen und Landwirtschaft dominierten armen Region nahe der jordanischen Grenze, entwickelte sich durch die exzessive Gegengewalt zu einem unverhofften Aufstand breiter, vorwiegend armer und sozial deklassierter Bevölkerungsgruppen, den noch im Frühjahr 2011 niemand für möglich hielt und der angesichts des syrischen Sicherheits- und Gewaltapparats auch in Syrien selbst für kaum vorstellbar gehalten wurde. Aber heute, nach zwei Jahren der Gewalt, steht das syrische Gemeinwesen an einem zivilisatorischen Abgrund.

 

Rundschreiben-Podcast

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Allgegenwärtige Flucht

Auslöser der sozialen Rebellion waren unter anderem die Folgen der schweren, auch dem Klimawandel geschuldeten Dürren, die allein 2009 dazu führten, dass 800.000 Familien ihre gesamte bäuerliche Existenz verloren und in die Städte abwanderten. Der syrische Aufstand richtet sich zugleich gegen die jahrzehntelange Entmündigung durch das Baath-Regime der Assad-Familie. Er hat längst den Charakter eines blutigen Bürgerkriegs angenommen und wird von Seiten des Regimes wie von den unzähligen militärischen Verbänden der Aufständischen mit beispielloser Härte geführt. Der Aufstand hat bislang mindestens 80.000 Menschen das Leben gekostet. Weitere geschätzte 150.000 bis 200.000 Personen sind inhaftiert, von manchen fehlt seit ihrer Verschleppung jedes Lebenszeichen. Die Zahl der Binnenflüchtlinge in Syrien wird auf zwei Millionen geschätzt, hinzukommen weitere vier Millionen, die aufgrund der Zerstörung oder Beschädigung ihrer Stadtviertel und Häuser ebenfalls hilfsbedürftig sind. 2,5 Millionen Menschen sind laut UN-Schätzungen auf direkte, regelmäßige Nahrungsmittellieferungen angewiesen. In den Nachbarländern Libanon, Türkei, Irak und Jordanien haben mittlerweile ebenfalls mindestens eine Million Kriegsflüchtlinge Zuflucht gesucht, Tendenz steigend. Im Februar 2013 verließen nach Angaben des UNHCR täglich mehr als 8.300 Flüchtlinge das Land.

Das syrische Gemeinwesen steht kurz vor dem Zusammenbruch. Die Ernteerträge gingen laut einem UN-Bericht um 50 Prozent zurück, vielerorts sind Bewässerungsanlagen und die staatliche Infrastruktur zerstört. Die Strom- und Wasserversorgung ist in vielen Landesteilen unterbrochen oder besteht nur noch stundenweise. Die Preise für Benzin, Gas zum Kochen und Lebensmittel sind extrem gestiegen. Das früher gut ausgebaute Gesundheitssystem ist faktisch nicht mehr existent. Ganze Regionen des Landes und Stadtviertel, in denen Rebellenverbände aktiv sind, wurden durch die Straßenkämpfe oder Luftangriffe derart verheert, dass sie gespenstischen Ruinenlandschaften gleichen. Lokale Aktivisten berichten von massiven Menschenrechtsverletzungen durch die syrische Armee, aber auch durch dschihadistische Milizen, zudem häufen sich die Vorfälle von systematischer Zerstörung religiöser Stätten.

Zerstörtes Gemeinwesen

Trotz der Gewaltexzesse der letzten Monate zeigt das syrische Regime noch immer keine substanziellen Auflösungserscheinungen und kann seinen Krieg offenbar noch länger führen. Alle „Nahost-Experten“, die im letzten Jahr den Sturz Assads „innerhalb von Monaten“ voraussagten, sind offenkundig blamiert. Selbst die irrwitzige Vorstellung, dass Präsident Assad im Jahr 2014 in einem Referendum zu seiner Wiederwahl antritt, scheint nicht mehr völlig ausgeschlossen.

Kein Beobachter kann heute seriös beurteilen, wie die wirklichen Mehrheitsverhältnisse im Land aussehen. Es herrscht Krieg, und der Krieg produziert seine eigene Wahrheit - je nachdem, welche Propaganda bevorzugt wird, kann man den unzähligen verwackelten Youtube-Videos der diversen Einheiten der „Freien Syrischen Armee“ glauben, die täglich aufs neue belegen, wie landesweit Armeekonvois oder Stützpunkte des Regimes angegriffen werden, oder man vertraut den Meldungen der staatlichen Nachrichtendienste, die davon berichten wie ehedem aufständische Stadtviertel erfolgreich „von Terroristen gesäubert“ werden. Weil es keine freie und unabhängige Berichterstattung in Syrien gibt, existieren alle diese „Wirklichkeiten“ als Fragmente einer zerrissenen und vom Krieg gewaltsam kantonisierten Gesellschaft, von der niemand sagen kann, wie und ob sie sich nach dem Sturz des Regimes neu zusammenfinden kann. Denn selbst die Ablehnung des Assad-Regimes ist längst nicht mehr gleichbedeutend mit einer Unterstützung oder Teilnahme am aktuellen Aufstand. Einige der politisch wie militärisch zersplitterten Rebellenverbände haben den ursprünglich überkonfessionellen Charakter des Aufstands längst gekidnappt: Radikalreligiöse islamische Gruppen, diszipliniert, gut bezahlt und militärisch ausgerüstet aus den Golfemiraten, haben an einzelnen Orten wie in Idlib und in Stadtteilen von Aleppo islamisches Recht eingeführt - die laizistische Pseudo-Demokratie der staatlichen Gerichtsbarkeit wurde durch die religiöse „Gerechtigkeit“ der Scharia ersetzt. Der blutige Krieg hat die demokratischen Prinzipien der ursprünglichen Revolution abgenutzt, und die fortgesetzten Kampfhandlungen zementieren die Fragmentierung des Landes entlang ethnisch-konfessioneller Bruchlinien.

Hoffnung inmitten der Gewalt

Viele der lokalen unbewaffneten Aktivistinnen und Aktivisten der ersten zwei Jahre sind tot, verhaftet oder im Exil. Und diejenigen, die noch im Land ausharren, versuchen in Nachbarschaftskomitees tägliche Nothilfe für Ausgebombte und Inlandsflüchtlinge zu organisieren, und berichten weiterhin mit ihren Video-Uploads über das alltägliche Grauen. Anderswo versuchen Bürgergruppen in lokaler Selbstorganisierung den Zusammenbruch der öffentlichen Stadtverwaltung auszugleichen. Diese zivilen Netzwerke handeln in einem täglichen Niemandsland der Gewalt und versuchen den Traum eines demokratischen Gemeinwesens aufrecht zu halten. Angesichts einer Gewaltspirale, von der niemand sagen kann, wo sie enden wird, scheint sich in Syrien die bittere Erkenntnis zu bestätigen, „dass der Krieg ein Betrug ist und Blut die Geschichte zwar manchmal vorwärts treibt, aber zu oft nur in Richtung auf noch mehr Barbarei und Elend (Albert Camus)“.

Martin Glasenapp


Zwei neue medico-Projektpartner in Syrien

I. PROVINZ HASAKA: Das Bürgerkomitee von Serê Kanîyê

Mitte November 2012 griff der Krieg auch auf die vorwiegend von Kurden besiedelte Provinz Hasaka im Nordosten von Syrien über. Aus der Türkei kommende schwerbewaffnete Verbände der „Freien Syrischen Armee“ (FSA), unter ihnen eine große Anzahl dschihadistischer und radikalreligiöser Kämpfer aus verschiedenen arabischen Ländern, lieferten sich in der syrisch-kurdischen Grenzstadt Serê Kanîyê (arabisch: Ras al Ain) Gefechte mit lokalen kurdischen Milizen, die im Herbst 2012 im Zuge einer beginnenden kurdischen Selbstverwaltung die Kontrolle über weite Teile der etwa 1,4 Millionen Einwohner zählenden Provinz übernommen hatten. Die Region gilt als ökonomisch unterentwickelt, und die kurdische Bevölkerung wurde jahrzehntelang systematisch diskriminiert. Aktuell leben in der Region zusätzlich 500.000 intern Vertriebene, die aus anderen Regionen Syriens kommen und in den noch relativ sicheren kurdischen Gebieten Schutz suchen. Erst ein Waffenstillstandsabkommen zwischen Oppositionsgruppen der FSA und den Kurden konnte im Februar 2013 vorerst die Gefahr eines zusätzlichen ethnischen Regionalkriegs abwenden.

In dieser prekären und fragilen Situation der Unsicherheit gründete sich in Serê Kanîyê das lokale Bürgerkomitee Hêwî (Kurdisch: „Hoffnung“). Das ehrenamtliche und parteiunabhängige Komitee, deren Mitglieder bereits zu Beginn der syrischen Proteste erste Demonstrationen organisiert hatten, setzt sich in der 40.000 Einwohner zählenden Grenzstadt für seine Mitbürger ein. Der Kern dieses Bürgerkomitees umfasst ca. 10-15 Aktivisten, unter ihnen Rechtsanwälte, Journalisten und Handwerker. Zu Anfang der Kämpfe registrierte und bestattete das Komitee die Leichen während der Kämpfe getöteter FSA-Kämpfer und Mitglieder des staatlichen Sicherheitsapparates oder der „Shabbiha“-Milizen. Die Komiteemitglieder notierten die Personaldaten oder fotografierten die Gesichter der Toten damit zu einem späteren Zeitpunkt mögliche Angehörige informiert werden können. Sie sorgten dafür, dass die vor den Luftangriffen des Regimes geflohenen Mitarbeiter des städtischen Elektrizitätswerks zurückkehrten und die Stadt wieder an das Stromnetz anschlossen. Später begann Hêwî die Schäden an geplünderten und bombardierten Häusern und Gebäuden zu dokumentieren, legte eine Datenbank über die Kriegsschäden an, sicherte die Akten des Stadtarchivs, um die Familien- und Grundbücher vor einer mutwilligen Zerstörung zu retten. Dann begann das Komitee, über ein Netzwerk in der Stadt anerkannter und respektierter Persönlichkeiten, ausgebombte und obdachlos gewordene Familien zu versorgen. Darüber hinaus verhandelten sie mit Bäckereien im Umland, um über möglichst große Abnahmekontingente einen niedrigen Brotpreis für die zu verteilenden Nahrungsmittelkörbe zu erzielen. Abdel Halim, Journalist und Mitbegründer des Hêwî-Bürgerkomitees, erklärte im Gespräch mit medico: „Gerade haben die Waffen das Sagen, aber es geht nicht nur um das Heute, sondern auch um unsere Zukunft. Wir brauchen zivile Strukturen für ein besseres Morgen.“ Seit Beginn des Jahres hat Hêwî in Ras Al Ain ein erstes Koordinierungszentrum eingerichtet und unterstützt mit finanzieller Hilfe von medico 600 registrierte Familien mit dem Allernötigsten (Brot, Reis, Babymilch).

II. DAMASKUS: Überlebenshilfe im Camp Yarmouk

Die Lager der ca. 500.000 palästinensischen Flüchtlinge in Syrien liegen zumeist in den Agglomerationsgürteln der größeren Städte Deraa, Hama, Homs und vor allem Damaskus. Es ist jener suburbane Ballungsraum, in dem sich Zehntausende von ehemaligen Bauern niedergelassen haben, die in den letzten Jahren von einer schweren Dürre und dem wirtschaftlichen Niedergang des Agrarsektors vom Land in die Städte gezwungen wurden. Unter dieser verarmten und marginalisierten Bevölkerung war der Aufstand gegen das Assad-Regime von Anfang an populär. Deshalb bekamen die Vorstädte und ihre Bewohner seine blutige Repression besonders zu spüren. Wie die meisten kleineren palästinensischen Wohnviertel innerhalb der syrischen Städte, ist auch Yamouk im eigentlichen Sinne längst kein Flüchtlingslager mehr. Al-Mukhayyam, das Camp, wie Yarmouk in Damaskus auch genannt wird, ist über 50 Jahre gewachsen und besteht aus engen Gassen und oft unverputzten Häusern, denen nachträglich mehrere Geschosse aufgesetzt wurden. Yarmouk ist mit mehr als 150.000 palästinensischen Einwohnern das größte palästinensische Lager in Syrien. Im letzten Jahr wurde Yarmouk sogar zum Zufluchtsort von Syrern, deren Wohnviertel bombardiert oder durch blutige Kämpfe in Mitleidenschaft gezogen worden waren. Zugleich kam es immer wieder zu Gefechten zwischen aufständischen Milizen und regimetreuen palästinensischen Einheiten. Am 16. Dezember 2012 bombardierte die Luftwaffe erstmals das Lager, durch den Beschuss einer Moschee kamen zahlreiche Menschen ums Leben. Seitdem sind die Ausfallstraßen von Yarmouk durch mehrere Checkpoints der syrischen Armee und loyaler palästinensischer Milizen gesichert.

Die Jafra-Foundation (Jafra) ist eine palästinensische Organisation, die seit Anfang der 2000er Jahre im Yarmouk Camp aktiv ist. Das eigentliche Ziel von Jafra, die sich der alten säkularen palästinensischen Linken zurechnet, ist die gemeindebasierte Bildungsarbeit mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Seitdem die Gewalt auch Yarmouk erreicht hat, sind die Jafra-Aktivisten mit all ihren Möglichkeiten in der akuten Nothilfe und Unterstützung für syrische und palästinensisch-syrische Binnenflüchtlinge engagiert. In ihrem eigenen Zentrum beherbergen sie allein 700-900 Personen. In ihren täglichen Verteilungen erreichen sie darüber hinaus Familien, die in anderen öffentlichen Gebäuden leben. Insgesamt verteilt Jafra zur Zeit mit Unterstützung von medico Lebensmittelkörbe an 1.000 besonders bedürftige syrische Familien, die in Yarmouk Zuflucht suchten. Neben der reinen Verteilung von Nahrungsmitteln versucht Jafra durch Clean-Up-Aktionen (Müllentsorgung) auch den öffentlichen Raum des Lagers mit zivilen Mitteln wieder zu erobern. Hinzukommen Trainingskurse für neue Freiwillige und ein Notschulprogramm für Kinder innersyrischer Flüchtlinge.

Die Arbeit der Jafra-Aktivisten ist alles andere als ungefährlich. In den vergangenen Monaten kamen allein sechs Nothelfer palästinensischer Organisationen im Einsatz ums Leben. Für Hassan Mustapha, wie alle Aktivisten ehrenamtliches Mitglied bei Jafra, ist die nachbarschaftliche Solidarität alternativlos. Trotzdem stellt er verzweifelt fest: „Die Situation wird immer schlimmer. Wir haben nichts in der Hand, weder im Verhältnis zur „Freien Syrischen Armee“ noch zur regulären Armee, um unsere Wohnbezirke sicher zu machen.“

Weitere medico-Hilfen

medico ist weiterhin in Kontakt mit syrischen Ärzten, die in provisorischen Notlazaretten verletzte Regimegegner und die Bewohner zerbombter Stadtviertel behandeln.

Mehr als 400.000 syrische Bürgerkriegsflüchtlinge haben im Nachbarland Libanon Zuflucht gesucht. Mit Förderung des Auswärtigen Amtes unterstützt medico die libanesische Hilfsorganisation AMEL bei der medizinischen Nothilfe für syrische Flüchtlinge in der nördlichen Beeka-Ebene.

Im Ein-el-Hilweh-Camp, dem größten palästinensischen Flüchtlingslager im Libanon, ermöglicht medico außerdem der Nashet Association die Betreuung und Versorgung palästinensischer Flüchtlinge aus Syrien. Das Spendenstichwort lautet: Syrien.


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